26. November 2011

Das sexistische Hirn

Unser Autor Erich Feldmeier schreibt über die Vorfahrt der nackten Haut auf useren Wahrnehmungs-Autobahnen.

Vor einigen Tagen erschien ein Interview mit der Soziologin Catherine Hakim, in dem sie sich dafür aussprach, "erotisches Kapital" im Beruf einzusetzen, aus dem einfachen Grunde, weil ihre Untersuchungen gezeigt hätten, dass "die Schönen und Attraktiven… auch im Beruf größere Aufstiegschancen und höhere Gehälter" hätten. "Warum ermutigt niemand Frauen, Männer zu instrumentalisieren, wo immer das möglich ist?" (1) Eine Antwort darauf war: "Ich denke nicht, dass Männer so einfach gestrickt sind."

Wahrnehmungs-Autobahn
Die korrekte Antwort darauf lautet: Nein, sie sind noch viel, viel einfacher gestrickt – und das gilt ironischerweise für Männer und Frauen, wenn auch in differenzierten Ausprägungen. Entdeckt haben dies Jari Hietanen und Lauri Nummenmaa, die vor wenigen Tagen eine Studie zur Wahrnehmung von Nacktheit veröffentlicht haben.

So schreiben sie: "Das Gehirn stellt für Nackte eine Art Wahrnehmungs-Autobahn bereit, auf der die Informationen nicht nur extrem schnell transportiert, sondern zusätzlich noch gezielt verstärkt werden. Zuständig dafür ist möglicherweise ein Neuronen-Netzwerk, das eigentlich für das Erkennen von Gesichtern bekannt ist." (2)

Wir knüpfen somit direkt bei den letzten Artikeln bei Geist und Gegenwart an (Der Graben zwischen Wissen und Handeln sowie den Verschwörungs-Theorien und auch bei Susan Cain, die von der "quasi-automatischen" Beschleunigung im Entscheidungsverhalten schrieb!) Die Bedeutung dieser Forschungs-Erkenntnisse ist geeignet, die ewige, unsinnige Diskussion über die Willensfreiheit des Menschen anzustacheln. Wir möchten diese Diskussion bewusst ausblenden und uns auf die schon bekannten Argumentations-Muster der proximaten und ultimaten Ursachen beschränken, d.h. was individuell bzw. letzt-ursächlich theoretisch-statistisch dahintersteckt. Außerdem verweisen wir auf die grundsätzlich bekannte Co-Existenz mehrerer Faktoren bei der Verantwortung für individuelles Handeln.

Dennoch bleibt ein Gschmäckle zurück, das die Willensfreiheit der Männer beim Betrachten des "erotischen Kapitals" relativiert, vor allem weil, wie Hietanen und Nummenmaa festgestellt haben, auch Frauen diesem neurobiologischen Wirk-Mechanismus unterworfen sind.

Die Werbe-Diktatur
Die Werbewirtschaft hat diesen Sexismus des Hirns natürlich längst erkannt und nutzt diese Erkenntnisse gewinnbringend, in der Hoffnung, dass uns diese Zusammenhänge im Alltag schlichtweg nicht auffallen werden und somit nichts als unbewusste Entscheidungen bleiben werden. Das Wettrüsten der Werbewirtschaft mit der Bildung der Konsumenten geht also weiter. "Der renommierte Harvard-Professor Gerald Zaltman geht davon aus, dass das implizite System bis zu 95 % des (Kauf-) Verhaltens steuert." (3) Mit anderen Worten ausgedrückt, heißt dies nichts weniger, als dass wir in Entscheidungen "hineingetrickst" werden, die bis zu 95 % unseres Verbraucher-Verhaltens ausmachen.

Bei sexistischen und kriminellen Handlungen bilden sich reflexartig Lager aus, die entrüstet über die Willensfreiheit des Menschen streiten, bei unbewussten Handlungen lassen wir jedoch die Willenlosigkeit als "alternativlos" über uns ergehen? Zu wirklicher Freiheit gehört, dass wir aufgeklärt genug sind, uns überhaupt rational, irrational oder wie auch immer - frei als SUBJEKT - verhalten zu können.

Ohne neurobiologisches Schutzschild
Wir möchten an dieser Stelle zwei Dinge herausheben. Erstens: Warum lassen wir es uns immer noch bieten, diesen Mechanismen weitgehend schutzlos ausgeliefert zu sein? Warum akzeptieren wir, dass wir tagtäglich zu Marionetten der Werbewirtschaft werden, während wir es versäumen, Neurobiologie und Evolution in ausnahmslos alle Lehrpläne aufzunehmen? Wir setzen uns einer Werbewirtschaft schutzlos aus, die via Massenmedien und neuen Internet-Technologien immer noch weiter Fahrt aufnimmt.

Zweitens und noch viel wichtiger ist: Wenn wir so vielen Dingen in unserem täglichen Verbraucherverhalten ausgeliefert sind, wie werden wir es schaffen, uns mit den wirklich wichtigen Aspekten wie Klimawandel, Energie- und Rohstoff- oder Wirtschaftkrise, die für uns im Alltag unmittelbar gar keine Vorfahrt auf der Datenautobahn haben, auseinanderzusetzen?

Der kategorische Konjunktiv
Paul Ehrlich sagt: "Ich bin optimistisch, wenn ich mir vorstelle, was die Menschheit tun könnte. Ich bin aber sehr pessimistisch, dass sie es tatsächlich auch tun wird." (4) Die Kluft zwischen Wissen und Handeln öffnet sich weiter.


Anmerkungen:
1) http://ed.iiQii.de/gallery/Querdenkerinnen/CH_CatherineHakim_org
http://www.sueddeutsche.de/karriere/erotisches-kapital-warum-frauen-in-high-heels-karriere-machen-1.1182999
2) http://ed.iiQii.de/gallery/VictimsOfGroupThink/JariHietanen_uta_fi
http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/314562.html
3) C. Scheier aus Otto/Speck: Darwin Meets Business, Gabler, 2011
4) http://ed.iiQii.de/gallery/Science-TheOnlyNews/PaulREhrlich_stanford_edu
http://www.nachhaltigwirtschaften.net/scripts/basics/eco-world/wirtschaft/basics.prg?a_no=4948

7 Kommentare:

  1. Die finnischen Forscher Jari Hietanen und Lauri Nummenmaa haben allerdings auch festgestellt, dass es bei Frauen keinen Unterschied in der Stärke der Reaktion auf weibliche bzw. männliche computerbearbeitete Bilder von Nackten gab.

    "Wie der fehlende Geschlechtsunterschied bei den Frauen zustande kommt, können sie ebenfalls noch nicht erklären.", notiert die Wissenschaftsjournalistin Ilka Lehnen-Beyel (http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/314562.html ).

    Eventuell greift eine einfachere Erklärung: "Klar sei bisher nur eins: Nackte Körper stehen auf der Prioritätenliste des Wahrnehmungssystems offenbar ganz weit oben, viel weiter als bekleidete. Bedenke man, wie lange der Mensch und seine Vorfahren bereits existierten, bevor vor etwa 36.000 Jahren die Kleidung erfunden wurde, sei das auch durchaus schlüssig, finden die Finnen.", scheibt Ilka Lehnen-Beyel.

    Nichtsdestotrotz gilt es, dieses Wissen in die Lehrpläne aufzunehmen, um der Werbewirtschaft die folgsamen Massen zu entziehen. Darin stimme ich Erich Feldmeier vollkommen zu.

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  2. Ein Dilemma bleibt: Egal wie sehr wir darum wissen, wir werden doch immer wieder auf die nackte Haut kucken, oder? Ist das nicht irgendwie der Witz an diesen ganzen evolutionär codierten Verhaltens- und Entscheidungsvorgängen?

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  3. @ Annette Mennicke
    Mit 'differenzierten Ausprägungen' habe ich gemeint, dass Frauen anders, also auf männliche und weibliche Nacktbilder reagieren.

    Was mir besonders in Erinnerung geblieben ist, war nicht nur die Autobahn selbst, sondern die Verstärkung, also eine Art Überholspur.

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  4. bei google+ gefunden via +Thomas Menk:
    Gerhard Roth über Rationale und Effiziente Entscheidungen:
    "Im Rahmen des Rational-Choice-Modells der Ökonomen und Manager ist eine Entscheidung umso besser, je mehr sie verstand- und vernuftgeleitet ist. Tatsächlich sind solche rationalen Entscheide nach Roth nur in Situationen von geringer Komplexität geeignet. Gefühle gelten bei rationalen Entscheidungen als störendes Beiwerk. Natürlich gibt es keine rein rationalen Entscheide.

    Die Letztentscheidung wird immer emotional getroffen, und dies bestimmt die Motive unseres Handels.
    Es sind nicht “Ziele” oder “Visionen”, die unser Handeln bestimmen, sondern einfach nur Gefühle, Hoffnungen, Ängste. Und die sitzen tief! Sie können sie kaum formen oder sonstwie darauf Einfluss nehmen.
    Unser Gehirn arbeitet mit vollkommener Konsequenz ökonomisch. Es versucht alles nach Möglichkeit zu vereinfachen und schonend mit seinen Ressourcen unzugehen"
    http://www.anchor.ch/wordpress/denkmuster/wie-entscheiden-sie

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  5. Lieber Erich, im Anschluss daran geht es so weiter:

    "Roth behauptet, dass in wirklich komplexen Situationen nur die aufgeschobenen intuitiven Enscheidungen weiterhelfen. Sie kommen dadurch zustande, dass wir uns bewusst intensiv mit der Situation befassen, rationale Argumente suchen, uns mit anderen beraten, etc., danach “darüber Schlafen” – d.h. das Problem ein paar Stunden ruhen lassen – und schliesslich intuitiv entscheiden."

    Das sind also Entscheidungen, die wir aus rationalem Denken kombiniert mit Gefühlen treffen (wenn man die beiden schon gegeneinandersetzen will... Benn bemerkte einmal dazu: "Als ob ein Gedanke kein Gefühl ist...").

    Vergleiche dazu auch: Wie man intuitiv gute Entscheidungen trifft

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  6. @ Gilbert, danke fü das Benn-Zitat!

    Heute schreiben die Zeitungen, Facebook sei 100 Mrd. $ wert, bei 800 Mio. Usern.
    Nur mal so ein Rationaler, also berechnender Gedanke:
    Überschlagsmäßig ergibt das: 1 User ist 125 $ 'w e r t'.
    Bei 95 % unbewussten Kaufentscheidungen hiesse das folglich: Die User würden gg.falls ihre 125 $ auch in andere Werte investieren, für sie ist das weitgehend 'neutral'.
    Für die Unternehmen, deren Produkte im reinsten darwinistischen Sinne (survival of the most fitted) gekauft bzw. nicht gekauft werden ist es keineswegs egal.

    (Man könnte ca. 400 Mio. sporadisch aktive User abziehen....)

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  7. http://www.wired.com/wiredscience/2011/11/the-psychology-of-nakedness/

    Jonah Lehrer hat parallel einen Artikel veröffentlicht, Auszug:
    "What does all this have to do with nakedness? The psychologists demonstrated it’s quite easy to shift our perceptions of other people from having a mind full of agency to having a mind interested in experience: all they have to do is take off their clothes"

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