16. November 2011

Jonah Lehrer: Prousts Madeleine

Erich Feldmeier rezensiert Jonah Lehrer: Prousts Madeleine: Hirnforschung für Kreative, Piper 2007.

Dieses Buch ist die absolute Synthese von Geistes- und Naturwissenschaften in einem unglaublich intelligenten Arrangement. Jonah Lehrer ist Neurobiologe und hat bei Eric Kandel promoviert. Er schreibt zum Beispiel bei wired.com über Themen wie unbewusstes Entscheidungsverhalten, dem wir hier auf Geist und Gegenwart ja auch schon einige Sätze gewidmet hatten. In seinem Buch Prousts Madeleine würdigt er die "chaotischen" Ansätze aus Kunst und Kultur, über die moderne neurobiologische Forschungskenntnisse mit unkonventionellen Mitteln erreicht wurden. Folgerichtig fordert der Text eine drastische Öffnung der Geisteshaltung von Geistes- und Naturwissenschaftlern für die jeweils andere Seite. Das Buch stellt eindringlich unter Beweis, dass Kunst und Kultur zu 'Wahrheiten' kommen können, die sogar erst viel später von den Naturwissenschaften bewiesen werden, doch zunächst - wie stets üblich bei allen außergewöhnlichen Meinungen - mit unglaublicher Ignoranz des Zeitgeists, vernichtend abgelehnt und verspottet werden. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch persönlich Details:  Zum Beispiel musste Lehrers Lektorin die konfusen und (w)irren Gedanken im Manuskript erst ordnen, bevor man sie auf die Menschheit loslassen konnte.

In einem furiosen Ritt durch Literatur, Malerei, Musik und Kochkunst bringt er uns Sichtweisen nahe, die eine unglaubliche Wahrnehmung aber auch Offenheit voraussetzen, Dinge aus vollkommen verschiedenen Welten miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Zusammenschau ist schlichtweg sensationell. Das Buch zeigt außerdem, die Menge aller großen Leistungen, die von grenzwertig Verrückten geschaffen wurden, die in großer Armut und Verzweiflung dahinvegetierten. Besonders hoch anrechnen muss man Lehrer, dass er nicht versäumt, die hochqualifizierten aber gemeinhin unsichtbaren Postdoktoranden in den unbekannten Labors der Welt als die darbenden Künstler des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen. Ganz nebenbei erklärt Lehrer eben auch diverse kognitive Vorgänge an seinen künstlerischen Paten interessant und anschaulich.

Nach der Seite 45 konnte ich das Buch nicht mehr weglegen. Hier beschreibt Lehrer einen Versuch von Antonio Damasio, in dem Probanden zufällig Karten von - manipulierten - Kartenstapeln ziehen sollten. "Zwei Stapel enthielten [...] höhere Gewinne aber auch drastische Verlustrisiken [...] Da die Spieler keinen Grund hatten, einen bestimmten Stapel zu bevorzugen, wählten sie aus jedem gleich aus und versuchten, gewinnbringende Muster herauszufinden. Im Durchschnitt brauchten die Probanden 50 Karten, ehe sie anfingen, nur noch aus den einträglicheren Stapeln zu ziehen. Etwa 80 Karten waren erforderlich, bis die durchschnittliche Versuchsperson erklären konnte, warum sie die beiden Stapel bevorzugte. Logik braucht seine Zeit [...] Damasio ging es nicht um Logik [...] sondern um den Körper [...] um höhere Hautleitwerte als ein Zeichen von Nervosität. Damasio fand heraus, dass die Hand der Versuchspersonen schon nach 10 Karten immer dann 'nervös' wurde, wenn sie nach den ungünstigeren Stapeln griff. Während das Gehirn noch daran arbeitete das Spiel richtig zu verstehen (und dafür noch weitere 40 Karten benötigen würde) 'wusste' die Hand des Probanden bereits, von welchen Stapeln sie ziehen sollte."

Als Naturwissenschaftler mit Leib und Seele, lässt er sich nicht beirren, mit Geisteswissenschaftlern und Naturwissenschaftlern gleichermaßen unbarmherzig ins Gericht zu gehen, was ich persönlich als grandios empfinde.

Zum Schluss im Nachwort die eigentliche Sensation, wenn auch in bedrückender Art: "Literarische Intellektuelle analysierten T.S. Liot und Hamlet, während Naturwissenschaftler sich mit den Elementarteilchen des Universums befassten. Ihre Haltungen sind dermaßen unterschiedlich [...], dass sie kaum noch gemeinsamen Boden finden. Somit haben wir [...] zwei epistemologische Extrempositionen, die sich reflexartig gegenseitig angreifen."

Schade, dass Jonah Lehrer, aus Gründen die wir nicht kennen, ganz offensichtlich nicht den Zugang zu den großartigen Vertretern der 3. Kultur um John Brockman und edge.org gefunden hat. Man könnte fast geneigt sein, darüber in pessimistische Verzweiflung zu verfallen. Die Materialisten und die Idealisten werden sich auch die nächsten 2000 Jahre bekämpfen wie auch R. D. Precht schreibt. Ob es jemals zu einer wahrhaft offenen 4. Kultur kommen wird?

Dessen ungeachtet ist Prousts Madeleine unbedingt empfehlenswert, wenn es ums 'Welt retten' gehen soll.


Erich Feldmeier hat unter anderem das Institut für Querdenkertum gegründet, aber auch die Wohnungsbaugenossenschaft Jung und Alt e.G. und ist als Lehrbeauftragter und Berater tätig.

9 Kommentare:

  1. Hier die Passage aus R.D. Precht:
    "Wenn man die Geschichte der abendländischen Philosophie im Überblick betrachtet, fällt auf, dass sich die meisten Scharmützel innerhalb weniger recht übersichtlicher Freund-Feind-Linien abspielen:
    die Fehde zwischen Materialisten und Idealisten.

    In der Realität treten diese Sichtweisen in allen erdenklichen Kombinationen und in immer neuen Gewändern auf. Aber sie wiederholen sich...

    Aus welchem Grund machte der Mensch von seiner durch das Gehirn ermöglichten
    technischen Innovationsfähigkeit erst so erschreckend spät Gebrauch?
    Offensichtlich hatte das Gehirn weitgehend andere Funktionen zu erfüllen als technischen Fortschritt...

    Den weit größeren Teil ihrer Intelligenz nutzen Menschenaffen für ihr kompliziertes Sozialleben,
    und auch für die Menschen sind Artgenossen die grösste Herausforderung im Alltag"
    http://ed.iiQii.de/gallery/Die-iiQii-Philosophie/RichardDavidPrecht_filmz_de

    AntwortenLöschen
  2. glaub nicht, dass lehrer promoviert hat, auch wenn er in kandels lab war

    AntwortenLöschen
  3. das steht im Buchklappentext und auch bei amazon?!
    das genaue Thema seiner Arbeit habe ich auf die Schnelle nicht gefunden.

    AntwortenLöschen
  4. http://www.youtube.com/watch?v=dFs9WO2B8uI&feature=player_embedded#!

    Eine tolle Erklärung zum Thema aus neurobiologischer Sicht, finde ich!

    P.S. Das Buch klingt spannend, danke für die Rezension, kommt auf die Weihnachtswunschliste :)

    AntwortenLöschen
  5. Danke für den Tipp! Wunderbar, illustrierend. Nur nach der achten Minute wird es eigenartig. "Wir suchen nach Glück und es führt uns ins Unglück und in den Wahnsinn. Wir suchen nach Freiheit, aber es führt uns in Abhängigkeit, Überwachung und Unfreiheit. Mehr Information: Wir haben es aber verstehen immer weniger davon..." Ich sehe auch, dass wir stärker die linke Seite in unsere Welt inkorporieren, aber es führt lange nicht dazu, dass alles schlechter geworden ist. Der Blick auf die Fakten (linke Seite) zeigt das Gegenteil: Heute sind wir unfreier? Blick mal zurück zum Feudalismus, Sklavenhaltergesellschaften etc. Wir sind unglücklicher? Ganz und gar nicht: Wir sind gesünder, leben länger und sogar die Ärmsten unter uns haben einen besseren Lebensstandard als noch der Durchschnitt vor 100 Jahren. Das schlägt sich auch in unserm Wohlbefinden und Glück nieder. Wir können mit der Informationsflut nichts anfangen und werden dümmer? Das Gegenteil ist der Fall: Transparenz steigt, unsere Kinder lernen Kompetenzen, die wir nie hatten, jede Generation wird klüger und klüger. Ich glaube aber auch, dass all das noch viel besser sein könnte, wenn wir auch die rechte Hälfte stärker zu ihrem Recht kommen lassen würden. Lest, liebt, malt, musiziert und träumt! Und dann bringt es in euren Alltag.

    AntwortenLöschen
  6. Ich finde nicht, dass es eigenartig wird, sondern er verdeutlicht nur die Verstrickung, in der wir uns befinden. Nehmen wir das Beispiel IT: auf der einen Seite suggeriert es Freiheit und es ergeben sich auch zweifelsohne Freiheiten dadurch, auf der anderen sind wir wahnsinnig abhängig geworden und damit unfrei. Klar, wenn man das mit der Sklaverei vergleicht, dann kann ich sagen, ich bin frei, wenn ich das aber in Bezug zur heutigen Gesellschaft sehe, bin ich unfrei. Ich kann noch nicht mal richtig an der Gesellschaft teilhaben, wenn ich heute kein Konto habe (außer ich habe genug Geld), weil alles EDV-technisch verbucht wird, selbst ein ALGII. Und sind wir wirklich glücklicher? Ein Lebensstandard im Vergleich zu vor hundert Jahren sagt nicht über das Wohlbefinden und die Zufriedenheit aus. Und schaut man sich die steigenden Zahlen psychischer Krankheiten am Arbeitsplatz an (s.a. http://www.haufe.de/personal/newsDetails?newsID=1320779813.98&d_start:int=47&topic=ArbeitsweltUnternehmen&topicView=Arbeitswelt%20%26%20Unternehmen&b_start:int=33&-C=) dann sehe ich nicht, dass unser "gesünderes und längeres Leben" zum Glück aller beiträgt. Und so gesehen hat er recht, wenn er dann sagt, wir können mit der Informationsflut nichts anfangen: Wir wissen tatsächlich so viel und kommen aus dem hausgemachten Quark nicht raus. Die Technik entwickelt sich, der Lebensstandard steigt damit, wir werden intelligenter - aber glücklicher deswegen? Warum gibt es dann diese seltsamen Postings wie "Meine Kindheit war viel glücklicher und freier, ich war mehr im Sandkasten und draußen, wir hatten mehr Fantasiespiele..." Ja, "lebt, liebt, malt, musiziert und träumt" - das finde ich einen schönen Aufruf! - denn weder Technik noch Wissen (meist über irgendein IT-Medium vermittelt) machen glücklich und frei, wenn man es nicht zu nutzen weiß bzw. in Beziehung zur Wirklichkeit/Gesellschaft bringt und zum Wohlbefinden ALLER einsetzt.
    Medium vermittelt) helfen, den Alltag

    AntwortenLöschen
  7. ups, die letzte Zeile sollte nicht dahin :)

    AntwortenLöschen
  8. Also so ganz schwarz oder weiß kann ich das nicht sehen. Ich bin immer erstaunt, wenn es irgendwo plötzlich nur noch gut oder nur noch schlecht sein soll. Das kann ich nicht glauben. "Früher war alles besser!" ist der Schlachtruf derer, die nicht im Hier und Jetzt leben können. Natürlich bedeuten Gesundheit, Technik und die Sinnsuche nicht automatisch mehr Glück für alle. Sie bieten aber eine Chance darauf, die es früher nicht gab. Es kommt darauf an, wie wir das alles nutzen und umsetzen. Und der Pessimismus, wie er z.B. in diesem Video zum Ende durchkommt, trägt gerade nicht dazu bei, dass wir die Chancen sehen, die in all diesen Entwicklungen stecken, sondern er hemmt und verunsichert uns. Er wird zur selbst erfüllenden Prophezeiung. Damit werde ich mich für mein Leben nicht abfinden. Optimismus als selbst erfüllende Prophezeiung ist mir da aus nahe liegenden Gründen viel lieber... Zum Thema Pessimismus/Optimismus habe ich übrigens noch folgende Beiträge:

    Grund zum Optimismus? Zum Beispiel Gewalt
    Pessimismus und Optimismus als Interpretation

    AntwortenLöschen
  9. Ja, da bin ich ganz Deiner Meinung, ich mag es auch nicht, wenn Menschen sagen "Früher war alles besser", ich sag dann immer "...sogar die Zukunft..." :)

    Was ich aber sagen will ist, dass man glücklich und zufrieden IST - oder man ist es NICHT, alles andere zähle ich zu den "Krücken", die man meint zu brauchen, um dann "glücklicher" zu sein. Ich interpretiere das Ende des Videos übrigens nicht als Pessimismus - und bin wieder angeregt fasziniert, wie unterschiedlich die Wahrnehmung jedes Menschen doch ist.

    So, und jetzt muss ich als neugieriger Mensch noch die anderen beiden Beiträge lesen, bevor ich mich selbst wieder ans Schreiben mache... :)

    AntwortenLöschen

Top 5 der meist gelesenen Artikel dieser Woche