2. Juni 2012

Das Private ist politisch, das System sind wir

Ich habe mich noch nie dafür interessiert, wenn Hunderttausende auf die Straße gehen und skandieren, dass sie mit irgendetwas solidarisch sind. Das ist doch wohlfeil. [...] Was mich interessiert, ist der Tag danach: Was wird aus diesem großen Moment der Solidarität, wenn alle heulen? Wie viel davon wird in den Alltag übersetzt? Und davor habe ich Angst, wenn ich die Proteste sehe... alles was ihr bisher [in Griechenland] erreicht habt, ist, dass ihr einen gemäßigten linken Premierminister durch einen neutralen Technokraten ersetzt habt, und jetzt habt ihr eine Regierung, an der sogar rechtsgerichtete Faschisten beteiligt sind.

(Slavoj Žižek im Interview mit dem Philosophie Magazin Nr. 02 / 2012)

Wir mussten es nur wollen!
Ich habe keine besondere Beziehung zu den 68ern. Sie könnten meine Eltern sein (und dann wäre ich sicher anti 68er), aber ich wuchs in einem anderen System auf, mit ganz anderen Problemen. Es fällt mir schwer, mich zu positionieren und das muss ich zum Glück ja gar nicht, aber ein Gedanke der 68er hat mich immer fasziniert: "Das Private ist politisch!" Im Grunde muss das der Anfang eines jeden ernst zu nehmenden gesellschaftlichen Protestes sein: Die Frage, was wird zu Hause gelebt? Wie gehe ich mit meinen Kollegen um? Esse ich Fisch und Fleisch? Fahre ich Auto oder Fahrrad? Ich glaube, wir vertrauen zu sehr auf politisch-systemische Veränderung. Es gefällt uns, eine Mauer zu haben, gegen die wir anrennen können, die wir niederreißen können. Ich glaube, dass auch deswegen das Ende der DDR auf so gewaltige Weise gewaltfrei und zügig vor sich ging. Wir hatten die Mauer und den Feind (das repressive System) außerhalb unserer selbst. Wir mussten uns nicht ändern, sondern einfach nur über die Masse durchsetzen. Man kann auch sagen: Wir mussten nur die schönen Fernseher, die Autos und die Reisefreiheit wirklich wollen. Das, was wir heute gern bekämpfen wollen (Finanzkapital, Schere von arm und reich, Bildungsmisere) ist etwas ganz anderes. Es ist das System, das wir selbst sind und von dem die meisten von uns denken und auch erfahren, dass es eigentlich gar nicht so übel ist. Oder wenigstens ist es das kleinste derzeitige Übel. Das, was wir heute vielleicht bekämpfen wollen, ist ein Teil unserer selbst, es ist nicht das andere. Egal, wie solidarisch wir sein wollen, wenn man uns lässt, handeln wir doch zu unserem eigenen Vorteil. Es fällt uns schwer zu teilen oder gar weniger zu nehmen, als uns "zusteht". Es ist nicht unmöglich, aber es fällt uns schwer. Um ehrlich zu sein, wollen wir doch gar kein anderes System! Wir wollen es doch nur - in unserem Sinne (!) - etwas besser machen. Nach der Demo gehen wir nach Hause und wir führen ein ganz normales Leben: Sehen fern, gehen einkaufen, schicken unsere Kinder zur Schule, gehen arbeiten, hoffen auf die Rente und versuchen das Beste für unsere Familie herauszuholen. Vom evolutionären Standpunkt betrachtet, sind wir doch alle FDP-Wähler. Das ist auch OK, aber es macht den Kampf so schwer.

Bei allen Protesten, sei es damals bei den bei den 68ern, heute in der arabischen Welt oder Occupy im Westen, ist die Frage am Ende: Was wird danach im Alltag verwirklicht. Hier kann man den 68ern wenigstens teilweise ein Lob aussprechen: Das gesellschaftliche Selbstverständnis hat sich in vielen Bereichen - Bildung, Familie, gesellschaftliche Gleichstellung, Umwelt - enorm verändert. Vielleicht nicht revolutioniert, aber um Besseren verändert. Ich fürchte, dass Occupy kurzfristig keine ähnlichen Siege davontragen wird. Die Siege der 68er haben im Grunde das System gestärkt: Gehen Sie mal heute nach Berlin Prenzlauer Berg! Alles wohlhabende linksintellektuelle sympatische Kleinfamilien, die auf dem Ökomarkt einkaufen. Das auch echt sympatisch, aber es ist eben genau auf der Linie des Systems, das nun angeblich bekämpft werden soll.

Occupy Berlin
Und was können wir heute genau wollen? (Foto von Flickr)

Meine persönliche Vision hier im Westen wäre, dass wir alle auf erträgliche Weise unser eigenes Leben revolutionieren: Weniger konsumieren, weniger Stress, mehr Spaß und Liebe, weniger Fleisch und Fisch, mehr Fahrrad als Auto, sich um Freunde und Verwandte kümmern und vor allem den Mund auf machen und seine Meinung sagen, wenn etwas schief läuft! Oder wir machen Nägel mit Köpfen und schaffen "das System" ab. Aber dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass es eine gewaltsame Katastrophe wird, die nicht so glimpflich abgehen kann, wie das Ende des Sozialismus. Um noch mal mit Žižek zu sprechen: "Der globalisierte Kapitalismus muss nicht nur kritisiert, sondern beseitigt werden. Zur Not auch mit Gewalt." Aber fragen wir uns: Können wir das wirklich wollen?

11 Kommentare:

  1. Žižek ist ein Spinner und potenzieller Großinquisitor, der die Lektion, dass in einer anderen Gesellschaft die neu auftretenden Probleme ihre Lösungen eben _nicht_ selbst hervorbringen, nicht gelernt hat. "Ich sehe hier", schreibt Isaiah Berlin über das von Žižek bevorzugte Gesellschaftsmodell, "einen metaphysischen Optimismus am Werk, zu dem nach aller historischen Erfahrung kein Anlass besteht."

    LG
    UKaiser

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  2. Kann sein! Doch die Frage, was von solchen Bewegungen in den Alltag übersetzt wird, ist schon legitim. Was sollte es sonst bringen?

    LG

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    1. Die Parallele zu den 68ern zieht nicht, die hatten, ob zurecht oder nicht, spielt dabei gar keine Rolle, ein Anliegen, das man noch ziemlich ohne Selbstreflexion durchsetzen konnte, bzw. man konnte es versuchen. Was sich heute "Bewegung" nennt, ist ein Irrtum in sich selbst, denn in Ägypten oder anderswo sind ja wenig Demokraten unterwegs, und hierzulande vor der Haustür geht der Wutbürger Samstags gegen die zweite Startbahn demonstrieren, und am Sonntagmorgen um 5.45 h (also noch während des Nachtflugverbots) wird dann sozusagen zurückgeflogen.

      Das steht ja auch im Artikel selbst: Handeln wider uns selbst, das wäre verlangt, aber das funktioniert immer nur punktuell. Wollte man das System abschaffen müssten wir auf das bereits abgeschaffte Modell zurückgreifen oder aber Horstmanns Menschenleere verwirklichen. Das Dilemma heißt also: Wer siegen möchte, muss sich selbst abschaffen. Oder trippeln und hoffen?

      LG
      UKaiser

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    2. Ebend - wofür das Alles. Am Ende siegt aber leider immer die Bequemlichkeit und die Hoffnung. Entweder gleich - weil wir uns nicht als Bestandteil betrachten und hoffen das es schon einer machen wird - oder später, wenn wir unsere bequemen Momente haben und den Versuchungen erliegen.
      Natürlich erfolgt die Übersetzung in den Alltag erfolgt dann doch, wenn auch oft nur sehr langsam und mit unklarem Ziel. Wir wissen ja nie ob wir das Richtige wollen aber leider dafür das Falsche machen. Dafür drehen die Uhren sich zu langsam und wir leben zu kurz.

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  3. ich kenne Žižek nicht, die Frage nach der Umsetzbarkeit ist höchst legitim;
    ein 'trotz, trotz, zwar, dennoch' - Zitat findet sich hier:

    "Trotz zahlreicher Appelle der Politik sucht lediglich jedes zwölfte Unternehmen gezielt nach Beschäftigten über 50 Jahren.
    Das geht aus einer Studie des Beratungsunternehmens Mercer und der Bertelsmann Stiftung hervor.
    Trotz der Umstellung auf die Rente mit 67 Jahren rechnet demnach nur jede zweite befragte Firma künftig mit mehr Arbeitsplätzen für über 60-Jährige. Zwar sähen viele Betriebe die durch den demografischen Wandel verursachten Probleme. An Lösungen mangele es jedoch. dapd"
    http://www.sueddeutsche.de/B5s38M/633514/Kaum-ein-Unternehmen-sucht-gezielt-Aeltere.html

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  4. Da kann ich nur sagen: "Empört Euch!" Stéphane Hessel hat eine kleine Streitschrift geschrieben, an die Jungen, an die Nachgeborenen gerichtet. Hessel schreibt, das Grundmotiv der Widerstandsbewegungen war Empörung. Und er wünscht allen, einen Grund zu finden, sich zu empören, denn daraus folgt Stärke und Aktivität. "Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen - zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit, wenn auch nicht zur schrankenlosen Freiheit des Fuches im Hühnerstall." (ebd. S. 10)

    Also was spricht gegen ein pro-gesellschaftliches Engagement, auch wenn man meint, vor lauter Interdependenzen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen zu können? Gerade deshalb ist es, meine ich, so wichtig, sich zu verbinden, zu verbünden und gemeinsam Stärke zu demonstrieren, ganz im Sinne von Hannah Arendts Verständnis von Macht. Das Schlimmste, meint Hessel, wäre die Gleichgültigkeit. Das finde ich auch.

    Zum Thema "Gewalt" noch eine Anmerkung: Satre meinte, dass Gewalt ein Scheitern sei, sie aber unvermeidbar wäre, weil wir in einer Welt der Gewalt leben. Weshalb im Umkehrschluss das einzige Mittel gegen sie wiederum die Gewalt wäre. Das ist aber spätestens mit Blick auf Afghanistan und Irak zu widerlegen. Deshalb ist der Weg der Gewaltlosigkeit m.E. immer vorzuziehen, da Gewalt auch immer ein Zeichen der Ohnmacht ist, nie der Macht. Also bleibe ich bei der gewaltlosen Art des Widerstands: Auf das Beispiel im Blog bezogen heisst das für mich Konsumverzicht und bewusster Konsum, mich zusammenschließen mit Menschen, die ähnlich denken und gemeinsam für gegenseitiges Verständnis und unabdingbare Rechte für jeden, "deren Verletzung ... unsere Empörung auslösen muss" (ebd. 19).

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    1. Also, die praktischen Konsequenzen sind nicht zu beanstanden :-) Ebensowenig die Grundaussage zur Gewalt, wobei ich den Narren Sartre (ich habe noch sein Statement nach dem Stammheim-Besuch live gehört, danke, das reicht, und brauche ihn nicht dazu. Stattdessen empfehle ich zu diesem Thema einen Blick in die Bücher Suu Kyis, die darin auch ganz dezidiert zur Gewaltfrage in ihrem Land Stellung nimmt und zur Frage der Rache. Und zwar in ihrer stillen Art, und sie zitiert Gandhi, der sagte, dass er bei der Wahl zwischen Feigheit und Gewalt sich für letztere entscheiden würde.

      Bloß: Gewaltdiskussion in unseren Breiten? Das gab es in den Siebziger und Achtzigern, auch hier wie bei Sartre: einmal im Leben reicht.

      Und was schließlich den Hessel angeht: Auf jedem Privatsender laufen irgendwelche Empörten durchs Bild. Meine Meinung: Die Leute sollten schärfer nachdenken, rationaler und etwas mitfühlender, das würde eher helfen als diese ewige Empörung, die nur das klare Denken vernebelt.

      LG
      UKaiser

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  5. Ich denke, man sollte Hessels Lebenslauf kennen und dann über seine "Empörung" urteilen, ebenso wie man den Lebenslauf und das Werden eines jeden Menschen kennen sollte. So zum Beispiel auch Satre, der gegen Ende seines Lebens auch noch etwas anders über das Thema Gewalt nachgedacht hat. Abgesehen davon ist vielleicht auch ein wenig Semantik dabei, das Wort "Empörung" in verschiedenen Richtungen auszulegen? Ich finde das Wort neutral, es drückt lediglich einen Zustand aus, sich gegen eine Sache mit Nachdruck auszusprechen. Wenn man eine Sache mit Nachdruck ausspricht, ist das klare Denken weg?

    Ich empfehle zum Thema Gewalt die Lektüre "Gewalt und Vertrauen" von Jan Philipp Reemtsma. Sehr aktuell, sehr aufschlussreich - und im Übrigen klar durchdacht. Meines Erachtens jedenfalls.

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  6. Der Empfehlung schließe ich mich im Großen und Ganzen an (obwohl meine Lektüre schon drei oder vier Jahre zurückliegt).

    Was die Konnotation von "Empörung" angeht, so überwiegt für mich (und Konnotationen funktionieren ja so) doch der eher negative Aspekt dieses permanenten Schimpfens und Unzufriedenseins oder des reflexionslosen Aufbegehrens. Ich weiß schon, woher Hessel kommt, gerade deshalb vielleicht sehe ich die Aufforderung so skeptisch. Und Sartre ist halt meine Idiosynkrasie.

    LG
    UKaiser

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  7. Gilbert, Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Auf der Straße wurde noch nie wirklich etwas geändert. Erst das, was sich schon überall im Kleinen und im Handeln manifestiert hat, das führt dann auch zu den notwendigen Entscheidungen. Sprich, wir brauchen die persönliche Revolution, wie Du es beschrieben hast. Mein große Tochter hatte mit einem Blog dazu begonnen. Zwar hat sie nicht mehr so viel gebloggt, aber sie hat schon Vieles für sich umgesetzt. In kleinen Schritten.
    Ich habe zwei kleine Projekte begonnen. Eins, um Ideen zum besseren Miteinanderleben in unsere Dorf zu besprechen (ist noch im Entstehen), und eins, um die vielen schon umgesetzten Ideen zum besseren Miteinanderleben darzustellen.

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  8. Kaum habe ich hier gepostet, lese ich Folgendes:

    "Kapitalismus ist mehr als eine Produktionsweise. Die kapitalistische Logik strahlt aus auf die gesamte Gesellschaft. Sie prägt Institutionen, bestimmt die Machtverhältnisse und geht durch uns selbst hindurch. Sie kolonialisiert unser Denken und besetzt unser Land. Progressiven Bewegungen geht es darum, sich von dieser Kolonialisierung zu emanzipieren und alle Herrschaftsformen über Andere zu beenden. Dafür müssen die Fundamente der Modernität infrage gestellt werden. Wir müssen unsere Geisteshaltung und die dominierenden mentalen Infrastrukturen erschüttern. Damit dies gelingt, müssen wir selbst uns ändern, denn kommerzielle Institutionen und Logiken werden von konkreten Menschen reproduziert. Sie sind es, die die gegenwärtigen Strukturen erhalten."

    In: http://commonsblog.wordpress.com/2012/06/14/schluss-mit-b-a-u-eine-andere-zukunft-ist-moglich/

    Ja, unser sozialisiertes Denken braucht ein komplett neues Betriebssystem. Unsere Glaubenssätze werden immer deutlicher erschüttert. Und das wird mit Zunehmen der Krisen immer stärker werden ...

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