2. Oktober 2012

Die Wahrheit der Philosophen

Und warum Philosophie nie endet

Was ist Wahrheit, was ist richtig und was ist falsch? Solche Fragen stellen wir uns im Alltag kaum. Komisch, denn unsere Überzeugungen und unser Handeln gründen sich auf solche Konzepte wie Wahrheit. Der Autor und Philosoph Jörg Friedrich geht diesen Fragen auf den Grund. Zuletzt hat er das Buch Kritik der vernetzten Vernunft geschrieben, das ich gerade mit viel Gewinn lese. Bevor ich meine Besprechung des Buches liefern werde, möchten wir hier einen Auszug aus dem Buch präsentieren, in dem es genau um alltägliche und doch so entrückte Fragen nach Wahrheit, Wissenschaft, Kunst und Philosophie geht. Jörg Friedrich studierte zunächst Meteorologie und Physik und schrieb seine Diplomarbeit über die Simulation von Strukturbildung und Chaos in der Atmosphäre. Seit dem Abschluss des Studiums der Philosophie beschäftigt er sich in Artikeln und Vorträgen vor allem mit Fragen der praktischen Philosophie. Seit 1994 ist Friedrich außerdem Geschäftsführer der Firma INDAL in Münster, einer Softwarefirma, die individuelle IT-Projekte durchführt. 

Beim Philosophieren bemüht sich der Mensch, Klarheit über sein Verständnis der Realität und seines eigenen Tuns in der Wirklichkeit zu gewinnen, die Voraussetzungen seines Umgangs mit all dem, was ihm begegnet, zu erkennen. Solche Voraussetzungen, die wir nicht ständig auf ihre Richtigkeit prüfen können und die wir deshalb als Selbstverständlichkeiten annehmen, benötigen wir Tag für Tag, egal, ob wir unseren alltäglichen Notwendigkeiten folgen, ob wir berufliche Aufgaben erfüllen, Wissenschaft, Sport oder Kunst betreiben. Alles menschliche Tun basiert auf Voraussetzungen, die dieses Tun selbst nicht begründen kann und als selbstverständlich voraussetzen muss. Philosophieren beginnt damit, dass man sich über das Alltägliche wundert, dass man das Selbstverständliche hinterfragt, es in Frage stellt.

Zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags, sei es im Familienleben, im Beruf oder in den Wissenschaften, gehören auch die Verfahren, nach denen die beteiligten Menschen sich darauf einigen, was richtig und was falsch ist. Genau an dieser Stelle fragen die Philosophen jedoch weiter. Könnte auch das Selbstverständliche falsch sein, wäre es möglich, dass an dessen Stelle etwas ganz anderes steht? Wer philosophiert, kann aus diesem Grunde kaum zu richtigen oder falschen Ergebnissen kommen, auf die sich alle Philosophen irgendwann einigen müssten, weil diese nach allgemein akzeptierten Verfahren beweisbar oder überprüfbar wären. Philosophen müssten ja sofort wieder diese Verfahren und die Gründe dafür, dass sie von allen Philosophen akzeptiert werden müssten, in Frage stellen. Das philosophische Fragen würde erst da aufhören, wo keine weiteren Voraussetzungen mehr gefunden werden können.

Es ist deshalb prinzipiell nicht möglich, zwischen richtigen und falschen Antworten auf philosophische Fragen zu unterscheiden – und selbst diese Aussage würde vielleicht nicht jeder, der philosophiert, bestätigen. Aufgabe Die Wahrheit der Philosophen der Philosophie ist es auch gar nicht, richtige Antworten zu geben, sondern immer aufs Neue nach den notwendigen Fragen, die man im Alltag des Selbstverständlichen und Erklärbaren nicht vergessen sollte, zu suchen. Oft kommt dieses philosophische Suchen zwar in Form von Aussagen daher, aber eigentlich ist es immer ein Fragen, das nicht endet.

Philosophie steht irgendwo zwischen Wissenschaft und Kunst: Vielleicht kann man diese beiden menschlichen Tätigkeiten so voneinander unterscheiden, dass Wissenschaft nach objektiven und allgemeinen Wahrheiten sucht, die von jedem akzeptiert werden müssen, der sich mit Wissenschaft beschäftigt, während Kunst nach einer subjektiven und konkreten Wahrheit sucht, die dem, der sie produziert, akzeptabel ist und die ein Angebot, eine Herausforderung für andere, die sich mit der Kunst beschäftigen, darstellt. Die subjektive, konkrete Wahrheit des Künstlers kann auch für den Kunst-Rezipienten zur subjektiven, konkreten Wahrheit werden. Philosophische Wahrheit steht dann insofern dazwischen, als sie subjektiv und allgemein sein soll, sie hat mit der Wahrheit des Künstlers gemeinsam, dass sie eben die Wahrheit des einzelnen Philosophen ist, die für seinen Leser, Zuhörer oder Gesprächspartner immer nur ein Angebot darstellt. Mit dem Wissenschaftler hat der Philosoph hingegen gemeinsam, dass er nach Erkenntnissen über das Allgemeine strebt, nicht über den konkreten Fall seiner einzelnen Darstellung.

Natürlich steckt in jedem Kunstwerk auch etwas Allgemeingültiges, das heißt aber nur, dass jeder Künstler auch Philosoph ist, und in vielen kreativen wissenschaftlichen Werken finden sich auch subjektive Überlegungen über die Voraussetzungen des wissenschaftlichen Tuns, also sind auch viele Wissenschaftler Philosophen. Überhaupt ist ja jeder, der beginnt, sich über die allgemeinen Voraussetzungen seines subjektiven Weltverstehens und -begreifens Gedanken zu machen, ein Philosoph. Deshalb ist es auch Unsinn, von einem Ende der Philosophie zu reden oder zu behaupten, die Wissenschaften würden nach und nach das Feld der Philosophie mitbearbeiten. Philosophie würde erst dann überflüssig werden, wenn es keine Selbstverständlichkeiten mehr gäbe, die hinterfragt werden müssten. Das ist aber nicht anzunehmen, weil wir ohne ein paar vorausgesetzte Selbstverständlichkeiten wohl weder Wissenschaft noch Politik noch Technik betreiben könnten. Wir werden eben immer einen Begriff von Wissen und von Wahrheit voraussetzen, werden Annahmen über den grundlegenden Aufbau der Wirklichkeit, über unsere Möglichkeiten, darüber etwas zu wissen und darin zu handeln, und über unser Selbstverständnis als Menschen haben. Diese Annahmen werden durch die Erkenntnisse der Wissenschaft, durch die Möglichkeiten der Technik und durch die Folgen unseres Handelns immer wieder auf die Probe gestellt und eröffnen der Philosophie immer auf neue Weise ihre alten Betätigungsfelder.


Philosophie für
Netzbewohner
Auszug aus Jörg Friedrichs Kritik der vernetzten Vernunft: Philosophie für Netzbewohner

Jörg Friedrich studierte Meteorologie, Physik und schließlich Philosophie. Friedrich ist Geschäftsführer der Firma INDAL in Münster.

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