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1. Dezember 2012

Typisch: Warum wir immer anders und doch dieselben sind

In welchen Zusammenhängen stehen unser Erleben und unsere Persönlichkeit?

Wenn ich mit Klienten oder Kollegen über Persönlichkeitspsychologie rede und wir an einem Punkt sind, wo sie mit Testergebnissen konfrontiert werden, die etwa eine deutliche Introversion nahelegen, dann kommt es fast immer zu Gegenreaktionen. Die häufigste ist: Ich bin doch nicht immer dieselbe Person. Das hängt doch von der Situation ab. Klar bin ich oft still, aber manchmal rede ich auch ganz viel oder ich mag allein sein, aber neulich war ich auf einer Party, habe bis zum Ende durchgetanzt, getrunken und Leute kennengelernt. Ich bin also beides: introvertiert und extrovertiert. Natürlich! Niemand ist eindimensional. Aber die Situation kann nicht das Persönlichkeitsmerkmal bestimmen, sondern die Persönlichkeit sucht sich die Situation, wie wir gleich zeigen werden.

unit four PHOTOGRAPHY - PRACTICE SHOOT.
Sind und bleiben wir immer dieselben Personen? Foto: Paige Nolan via Flickr

Wie gesagt - das sind nicht unbedingt die Personen, die irgendwie auf der Mitte zwischen Extroversion und Introversion liegen, sondern zum Teil deutlich ausgeprägt Introvertierte. Warum diese Gegenwehr? Eine Rolle mag spielen, dass Introversion immer noch als eine Art Makel verstanden werden kann und wir deshalb nicht gern solch ein Label "introvertiert" akzeptieren. In den Formulierungen von Persönlichkeitsmodellen wie dem Big Five klingt die Beschreibung von Extroversion ja auch deutlich nach sozialer Norm:

"Personen mit hohen Extraversionswerten sind gesellig, aktiv, gesprächig, personenorientiert, herzlich, optimistisch und heiter. Sie sind zudem empfänglich für Anregungen und Aufregungen." (Big Five, Wikipedia)

Man könnte denken, man soll da möglichst viele Punkte erreichen, damit man ok ist und nicht etwa introvertiert, denn dann fehlen einem ja all die positiven Eigenschaften. An der Front wird aber inzwischen erfolgreich für eine "Rehabilitierung" der Introvertierten gekämpft, die natürlich auch optimistisch, heiter, herzlich und so weiter sind (siehe Susan Cain oder Sylvia Löhken).

Bestimmt das Erleben die Persönlichkeit?
Abgesehen von diesem gefühlten Rest-Stigma, bleibt die Frage, ob nicht das Erleben die Persönlichkeit bestimmt? Es ist natürlich richtig, dass wir nicht immer dieselbe Person sind. Auch Extrovertierte ziehen sich mal zurück, müssen allein sein und Introvertierte haben diese großartigen Party-Erlebnisse, wo sie dionysisch mit der Gruppe verschmelzen. Wir sind also geneigt zu sagen, dass es doch von der Situation abhängt, wie wir sind. Wie wir uns verhalten, hängt von den Erlebnissen ab, die wir haben. Da sich unsere Persönlichkeit in unserem Verhalten zeigt, heißt das also, dass die Situationen und Erlebnisse im Leben unsere Persönlichkeit formen, oder?

Man kann sicher nicht bestreiten, dass gerade frühe Erlebnisse uns und unser zukünftiges Verhalten prägen. Aber auch diesen frühen Erlebnissen gehen bereits unsere Persönlichkeitsstrukturen voraus. Introvertiert oder extrovertiert zu sein, lernt man nicht, vielmehr liegen diesen Persönlichkeitsmerkmalen - so die derzeitige Tendenz in der Persönlichkeitsforschung - hirnphysiologische Strukturen zugrunde, mit denen wir bereits geboren werden und für die zu einem großen Teil die genetische Vererbung eine Rolle spielen dürfte.

Langfristige Auswirkungen von Persönlichkeitsmerkmalen auf unser Leben
Diesen Annahmen zufolge ist es so, dass wir mit den uns gegebenen Persönlichkeitsmerkmalen durch den Raum der Möglichkeiten navigieren und uns meistens die Situationen suchen oder erschaffen, die uns liegen. Das heißt, ich bin nicht deswegen introvertiert, weil ich in meiner Jugend auf zu wenige Partys gegangen bin, sondern ich habe in der Regel  - wenn auch unbewusst, aber doch gezielt - solche Situationen wie Partys gemieden, auch wenn ich hin und wieder eine großartige Party miterleben durfte. Man hat in Langzeitstudien (z.B. Personality and Compatibility: A Prospective Analysis of Marital Stability and Marital Satisfaction) festgestellt, dass Extrovertierte mehr sexuelle Beziehungen außerhalb von festen Partnerbeziehungen haben. Warum? Nicht weil sie vielleicht einen größeren Sexualtrieb oder andere Moralvorstellung hätten, sondern weil die Situationen, in die sich Extrovertierte begeben, eher Möglichkeiten zum Kennenlernen Flirten und letztendlich Sex bieten, als die Situationen, in denen sich Introvertierte typischerweise befinden. Aus persönlichkeitspsychologischer Sicht ist also nicht ausschlaggebend, ob man nicht auch mal das eine und das andere ist, sondern was man meistens oder in der Regel ist. Daraus ergeben sich die praktischen Auswirkungen, die diese Persönlichkeitsmerkmale auf unser Leben haben.

Analog ist es mit Persönlichkeitsmerkmalen wie hohem Neurotizismus: Wir sind nicht deswegen so gestresst, weil unsere Umwelt komplizierter, beängstigender und frustrierender ist, als die unserer weniger neurotischen Mitmenschen, sondern wir erschaffen uns komplizierte, beängstigende und frustrierendere Situationen, wenn wir von der Persönlichkeit her hohe Neurotizismuswerte haben. Im Grunde ist "hohe Neurotizismuswerte haben" nur eine Umschreibung dafür, dass betroffene Personen bereits bei geringeren Umweltreizen besorgt, gestresst oder frustriert sind, als der Durchschnitt. Ihre Reizschwelle ist niedriger und das wiederum dürfte auf physiologische Strukturen und Stoffwechselvorgänge im Gehirn zurück gehen. Hier ist die Forschung noch am Anfang, aber bildgebende Verfahren, mit denen man Phänomene der Reizverarbeitung (Stoffwechsel und Aktivierungsmuster) beobachten kann, weisen in diese Richtung. Daniel Nettle (Persönlichkeit - Warum du bist, wie du bist) sagt, dass wir Persönlichkeitsmerkmale zwar ursprünglich aus dem Verhalten herleiten, dass sie aber in Aussagen über die Hirnstruktur übersetzt werden könnten, sobald wir ein umfassendes Wissen über die Struktur des Nervensystem haben. Die umfassende Erweiterung dieses Wissen ist das, woran die Neurowissenschaften arbeiten und ich bin schon gespannt, wie sehr wir Hirnphysiologie und Persönlichkeitspsychologie in Deckung bringen können.

Artgerecht entwickeln oder in Bodenhaltung vegetieren?
Sind wir also Opfer unserer angeborenen neuronalen Strukturen, die uns vorschreiben, in welche gesellschaftlichen Situationen wir uns selbst bringen und welche wir meiden? Nein, denn hier genau können uns die Erkenntnisse der Persönlichkeitspsychologie helfen, indem sie uns Anhaltspunkte dafür geben, warum wir bestimmte Probleme oder Erlebnisse immer wieder haben. Das gibt uns zum einen die Möglichkeit, uns so anzunehmen, wie wir sind und die daraus resultierenden "Störungen" im Umgang mit der Welt zu akzeptieren. Und es ermöglicht uns, solchen Konflikten vorzubeugen, wenn wir das wollen, zum Beispiel weil wir manchmal bestimmten gesellschaftlichen Normen zu unserem eigenen Vorteil nachkommen möchten. Sei es die Party mit Geschäftspartnern, die wir auch als Introvertierte mal besuchen wollen und auf die wir uns mit unserem Wissen um die persönlichkeitspsychologischen Zusammenhänge vorbereiten können (Strategien für introvertierte Menschen). Oder seien es die stresserzeugenden Situationen auf der Arbeit, die Menschen mit hohen Neurotizismuswerten identifizieren und antizipieren können, um bei ihrem Eintreffen vielleicht doch gelassener reagieren zu können (Wie können wir mit Neurotizismus leben). Persönlichkeitstests wie dieser Big-Five-Test oder der TypenTest können erste Anhaltspunkte dafür liefern, wie wir ticken. Erst wenn wir das verstehen, können wir Strategien entwickeln, die uns helfen uns artgerecht zu entfalten, anstatt nur in Bodenhaltung zu vegetieren.

6 Kommentare:

  1. Ein paar kleine Anmerkungen dazu:

    1. Da steht: "Es ist natürlich richtig, dass wir nicht immer dieselbe Person sind. " Also, ich bin immer dieselbe Person, meine personale Identität bleibt von etwaigen charakterlichen Modelleigenschaften völlig unberührt. Und die einstmals so modernen multiplen Persönlichkeiten haben sich als falsch herausgestellt.

    2. Dass hirnphysiologische Prägungen dazu beitragen, wie wir uns im Leben verhalten, scheint in der Tat unbestritten. Man sollte sich nur nicht zu viel von den bunten Bildern der fMRT versprechen, denn zum einen ist die Frage Henne oder Ei auch hier längst nicht eindeutig gelöst, zum anderen zeigen die Abbildungen nur das, was an Aktivitäten in den obersten Schichten des Gehirns abläuft; schon was nur wenig tiefer abgeht, lässt sich nicht mehr sichtbar machen, ist also terra incognita (und wenn ich es richtig im Hinterkopf habe, müsste man, um dorthin vorzudringen, die radioaktive Dosis in sehr bedrohlicher Weise erhöhen).

    3. Artgerecht als Metapher trifft die Sache nicht ganz. "Kulturgerecht" ist m. E. der treffendere Begriff. Es gibt erwünschte Verhaltensweisen hier, mit denen man in China vermutlich direkt in der Psychiatrie landet. Daher ist das Spiel mit Begriffen zur Charakterisierung von Personen immer eine heikle Angelegenheit. Das sollten auch Wissenschaftler im Hinterkopf haben, wenn sie menschliche Eigenschaften zu definieren versuchen.

    LG
    Uwe

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    1. Ich habe bisher noch keinen Neurowissenschaftler gelesen, der meinen würde, dass fMRT die Antwort auf all unsere Fragen sei. Jeder, der wissenschaftlich etwas auf sich hält, wird sagen, dass es uns Andeutungen darüber liefert, wie etwas passiert, aber nicht zeigen kann, was "inhaltlich" passiert.

      "Artgerecht" verwies hier intertextuell auf Gunter Duecks Topothesie. Dueck neigt zu diesen schiefen Metaphern (siehe auch Tütensuppenniveau) und mir gefällt das, macht ihn sympathisch. "Art" verweist außerdem auf das Biologische, das in Duecks Argumentation wichtig ist und markiert somit eine Abgrenzung von der kulturellen Erklärung. Wo es schief ist, ist vielmehr, dass man trotz unterschiedlicher Persönlichkeitsmerkmale oder Nasen eben noch lange keiner anderen Art angehört.

      Aus etymologischen Verständnis von Person (Maske), fand ich immer, dass man sich seine Person je nach Anforderung oder Lust und Laune aussuchen und zusammenstellen kann. Für mich ist das eine Conditio humana: das Maskenhafte. Selbst rechtlich gesprochen ist personale Identität nicht ganz ohne Probleme: Was ist mit Geschlechteridentität einer "Person" oder mit Zeugenschutzprogrammen? Biologisch wird es ganz verrückt. Aber im Alltagsverständnis geht beruht ganz selbstverständlich vieles auf dem Verständnis von personaler Identität.

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  2. Das ist ja das entscheidende an den Big Five, dass sie bis auf einige Details recht kulturstabil sind. Kulturspezifisches Verhalten wird z.B. mit Hofstedes Kulturdimensionen gemessen.

    Hirnscans sind im Moment noch nicht viel mehr als das leuchten mit einer schwachen Taschenlampe im Dunkeln. Ob sich das in Zukunft ändert, wird sich zeigen.

    Was ich immer wieder sehr erstaunlich, fast schon schockierend finde, ist, dass die Erziehung/Eltern fast keinen Einfluss auf die Persönlichkeit haben, was sich in Zwillingsstudien immer wieder zeigt. Grob gesagt kann man sagen, 50% ist angeboren, 50% kommt durch die Umwelt (ohne elterlichen Einfluss).

    Interessant auch, wie sich die Persönlichkeit im Lauf des Lebens verändert, dazu gibt es eine groß angelegte deutsche Studie: http://www.typentest.de/blog/2012/01/wie-sich-die-personlichkeit-im-lauf-des-lebens-verandert/

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    1. Plausibel ist das nicht: Wenn 50% durch Umwelt beeinflusst wird, dann ist doch da zwangsläufig elterlicher Einfluss drin, denn Eltern sind ein erheblicher Teil der Umwelt, gerade in den ersten Lebensjahren.

      Danke für den Hinweis auf die Studie! Wird heute Abend gelesen :)

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    2. Ja, es widerspricht erstmal der Logik und ich finde diese Studien auch nicht ganz nachvollziehbar, da recht kompliziert und einiges beruht auch mehr oder weniger auf Spekulation. Ich gehe aber davon aus, das derartige Ergebnisse durchaus ihre Berechtigung haben, also nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, da viel Aufwand dahinter steckt.

      Ich versuchs mal zu erklären: untersuchen kann man das nur, indem eineiige und zweieiige Zwillingspaare verglichen werden, die zusammen oder getrennt aufgewachsen sind.
      Eineiige Zwillinge, die in unterschiedlichen Familien aufwachsen, sind sich in der Persönlichkeit (gemeint sind hier die messbaren Big Five) im Schnitt fast genauso ähnlich wie solche, die in der gleichen Familie aufwachsen. D.h. das familiäre Umfeld scheint hier nur einen geringen Einfluss auf die Persönlichkeit zu haben. Aber auch solche Zwillinge, die in der gleichen Familie aufwachsen, sind sich nicht komplett ähnlich, weisen also Unterschiede in der Persönlichkeit auf. Diese Unterschiede sind im Schnitt aber nur wenig kleiner als die bei den Zwillingen, die getrennt voneinander aufgewachsen sind. Man geht also davon aus, das der Großteil dieser Unterschiede von nicht-gemeinsamen Erlebnissen kommt, also nicht von Erziehung/Eltern verursacht. Da ist eben auch ein wenig Spekulation drin, welche Unterschiede durch was ausgelöst werden.
      Diese Daten werden dann wiederum mit denen von zweieiigen Zwillingen abgeglichen, die sich von Haus aus nicht so ähnlich sind, usw.


      Mehr z.B. hier:
      http://temperamentmatters.com/2011/08/29/from-galton-to-bouchard-naturenurture-twins-correlations-and-controversy/

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  3. In dem Text wurde etwas von sexuellen Beziehungen außerhalb fester Partnerschaften erwähnt- fand ich sehr interessant.

    Jetzt frag ich mich, wozu das zählt wenn man ONS oder nur kurzlebiges hat, aber keine festen Beziehungen. Theoretisch wäre das extrovertiert, weil man schnell einen Kontakt eingeht. Aber wenn man Beziehungen nicht länger halten kann auf Grund von Einengung/ Nähe und Ich-Verlust- dann würde ich das trotzdem eher als introvertiert bezeichnen.

    Manchmal beschleicht mich das Gefühl, dass Persönlichkeitstests einen nicht unbedingt besser in eine Richtung einordnen, sondern die innere Zerrissenheit noch deutlicher aufzeigen.

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