18. Januar 2013

Ruhe in Frieden. Wie tickte Aaron Swartz?

Heute vor einer Woche nahm sich der Netzaktivist Aaron Swartz das Leben. Ein stiller Nachruf von Erich Feldmeier.

 
Foto von Sage Ross (Boston Wiki Meetup via Wikimedia Commons)


Er wurde nur 26 Jahre alt. Swartz war ein leidenschaftlicher Verfechter der Freiheit im Internet. Zuletzt lief eine Anklage gegen ihn wegen Datendiebstahls - er wollte wissenschaftliche Magazine aus einer Online-Datenbank allgemein zugänglich machen. Die betroffene Organisation (JSTOR) hatte die Anklage nach gütlicher Einigung zurückgezogen, die General-Staatsanwaltschaft hielt die Anklage jedoch aufrecht. Aaron Swartz war aber nicht nur Pirat, sondern hatte maßgeblichen und produktiven Einfluss auf verschiedene Dinge, die wir heute ganz selbstverständlich im Internet nutzen, z.B. die Common Creative License (u.a. bei Wikipedia), RSS, Open Library und weitere solcher Werkzeuge. Schule und Uni brach er ab, weil ihm das zu langweilig war. Seine Verhaltensauffälligkeiten wurden in Nachrufen der ZEIT und der Süddeutschen so beschrieben:
“Wenn er um Kommentare gebeten wurde, antwortete er schnell, auf den Punkt und bisweilen nur für Experten verständlich.... Swartz bekam eine Menge Geld, musste in einem Büro arbeiten und fühlte sich elend... Es ist nicht überraschend, dass Swartz in seinem kurzen Leben viele Menschen verprellt hat... Es ist bei brillanten Menschen oft schwer zu sagen, ob sie arrogant sind, oder ob es für die weniger brillanten unter uns einfach nur danach aussieht.” Quelle: Ein schwieriger Mensch, der viele berührt hat
"Dabei fiel es dem Hacker manchmal schwer, sich verständlich zu machen. Ausgerechnet dem Kämpfer für freie Kommunikation fehlten hin und wieder die richtigen Worte... [Sein Freund] Cory Doctorow schreibt anlässlich seines Todes von einem brillanten jungen Denker, mit dem nicht immer leicht auszukommen gewesen sei." Quelle: Hacken für eine bessere Welt
Hier wird jemand beschrieben, der in unseren Gesellschaften typischerweise ausgegrenzt wird, weil er so war wie man sich Computer-Freaks aus der Internet-Szene vorstellt. In den Zeitungen nennt man das "schwierig" und "arrogant". Wieso steht eigentlich sofort der Vorwurf der Arroganz im Raum, wenn intelligente Menschen ein erkennbares Problem mit der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit haben?

Dabei ist die Geschichte voll von solchen Menschen, die ihrer Zeit voraus waren. Doug Engelbart z.B. ist es nie gelungen, seine Mitmenschen zu überzeugen, Computer zu benutzen um Geschäftsdaten zu verarbeiten. Er wurde genauso verspottet wie viele andere vor und auch nach ihm, für ihre damals wahnwitzigen Ideen, die jetzt längst Teil unseres Alltags sind.

Dieser Konflikt zwischen Genie, persönlicher Überzeugung, Gespür und Ablehnung durch andere hat auch Aaron Swartz oft verzweifeln lassen. Seine Weggefährten von der Electronic Frontier Foundation (EFF, 3) beschreiben sein Leiden, wahrscheinlich recht treffend, als Folter:
"Aarons eloquente Brillianz mischte sich mit einer komplizierten Introversion. Er kommunizierte, wenn er bereit dazu war und benötigte eine Menge Platz für sich selbst. Das frustrierte einige seiner Mitstreiter. Er war von der sozialen Welt um ihn herum fasziniert, aber erlebte den Umgang mit ihr auch als Folter. Lange Zeit bevorzugte Aaron die Lektüre von Büchern gegenüber dem Gespräch mit Menschen (einmal sagte er zu mir so etwas wie 'sogar mit sehr intelligenten Leuten zu reden, ist schwer, aber wenn ich ihre Bücher lese, bekomme ich ihre wohlüberlegtesten Gedanken in einer schönen und effizienten Form. Von Büchern lerne ich schneller, als vom Gespräch mit ihren Autoren.')" Quelle: Farewell to Aaron Swartz, an Extraordinary Hacker and Activist
Diese Beschreibung erklärt ziemlich genau, wie jemand wie Aaron Swartz tickt. Aufgrund einer Vielzahl an Aufzeichnungen zur Introversion wissen wir mittlerweile, dass sein Verhalten gar nicht so außergewöhnlich ist, wenn man es nur aus einem anderen Blickwinkel, aus dem Blickwinkel der Minderheit betrachtet.

Das Mathematik-Genie Charles Babbage, scheiterte 1837 daran, den ersten Dampf-Computer zu bauen: "seine Exzentrik und sein cholerischer Charakter erschwerten es ihm, Geldgeber für seine teuren Projekte zu finden." Diese sog. Exzentrik und das seltsame Eigenbrötler-Verhalten finden sich in der Geschichte der sogenannten Mavericks immer wieder. Bill Bryson beschrieb in seinem humorvollen Buch Eine kurze Geschichte von Fast Allem die Persönlichkeiten der Revolutionäre. Menschen, die Zeit ihres Lebens jenseits der Kompatibilität zu der sie umgebenden (Spass-)Gesellschaft standen, zum Beispiel:

  • Bob Evans, einer der talentiertesten Supernova-Entdecker: "autistisches Genie... wenn er erklären soll, woher sein Talent stammt, ist er völlig hilflos“
  • Fritz Zwicky, Physiker und Astronom: "viele seiner Kollegen hielten ihn eigentlich nur für einen Spinner“
  • Henry Cavendish, Entdecker des Elements Wasserstoff: "der begabteste englische Wissenschaftler seiner Zeit, aber auch der seltsamste. Er litt, wie einer seiner Biographen es ausdrückte, an Schüchternheit in einem Ausmaß, das an Krankheit grenzte“
  • James Hutton, Begründer der modernen Geologie: "nahezu bar jeder rhetorischen Errungenschaften. Fast jede Zeile, die er zu Papier brachte, war eine Einladung zum Schlafen"
  • Lorenzo Avogadro, ein Chemiker und Physiker, der "ein zurückhaltender Mensch war – er arbeitete allein, korrespondierte kaum mit Wissenschaftlerkollegen, veröffentlichte nur wenige Aufsätze und besuchte keine Tagungen“
  • Isaac Newton, englischer Philosoph und Wissenschaftler: "entschieden eine seltsame Gestalt – über alle Maßen intelligent, aber auch eigenbrötlerisch, humorlos, empfindlich bis an die Grenze des Verfolgungswahns, von berühmter Zertreutheit (wenn er morgens die Füße aus dem Bett bewegt hatte, blieb er angeblich manchmal stundenlang sitzen, weil eine plötzliche Welle von Gedanken ihn an seinen Platz fesselte) und fähig zu verblüffend seltsamen Verhaltensweisen"

Die Geschichten, die hier erzählt werden, sind so witzig, menschlich, zutreffend und gleichzeitig an Tragik unübertrefflich. Die meisten dieser Spinner haben etwas Grandioses, Bahnbrechendes für die Menschheit bewirkt, aber waren in ihrer Zeit nie angekommen und sind in manchen Fällen sogar bis heute unbekannt geblieben. Die Geschichten sind nahezu beliebig erweiterbar, etwa um Carl Benz oder Konrad Zuse.

Das was für die meisten in unserer Gesellschaft verrückt, verhaltensauffällig und arrogant erscheint, entpuppt sich in diesen Kreisen plötzlich als vollkommen ‘normal’, ist also eher die Regel als der Ausnahmefall.

Aaron Swartz war ein Maschinenbauer, ein Geek, ein Nerd, ein Unverstandener, wie er im Buche steht, er gehörte zu denen, deren Verdienste uns in erheblichem Maße Fortschritt und Wohlstand beschert haben. Ohne ihn wären viele Dinge, die wir täglich im Internet nutzen, nicht etabliert. Es ist an der Zeit, Menschen wie Aaron Swartz eine Lebens-Perspektive zu geben, die ihnen außerhalb des Schussfelds der Bürokraten und ihren Vorschriften ermöglicht, bahnbrechende Dinge zum Wohle der Menschheit zu entwickeln. Auch wenn es uns seltsam vorkommen mag, auch schweigsame, kommunikationsgestörte Menschen haben ein Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Passenderweise machte gerade das Tweet iTunes Is A Bigger Business Now Than Apple Was In 2004 die Runde. Auch die Erfinder und Macher solcher Download-Portale wurden und werden mit Strafandrohungen überzogen und bewegten sich immer wieder an den Grenzen der Legalität. Jede Innovation ruft Irritationen und ja, erhebliche Nachteile für die bestehenden Märkte und deren Akteure hervor. Wenige Jahre später ist allein Apples Download-Sektor größer als es früher der gesamte Konzern war. Wenige Jahre später ist auch das was Aaron Swartz erfunden hat Teil der Normalität, unserer Normalität. Auch das sollten wir das nächste Mal berücksichtigen, wenn es darum geht Spinner und Wahnsinnige pauschal abzukanzeln und auszugrenzen.

Über alle sonstigen juristischen Verwicklungen, die wir nicht wirklich beurteilen können, breiten wir den Mantel des Schweigens. Das Schweigen äußert sich im Netz momentan in Empörung.
Aaron Swartz hinterlässt somit eine bleibende Erinnerung. Ein persönlicher Wunsch zum Schluss. Aaron, lass dir ein paar gute Bücher und frei verfügbare Wissenschaftsmagazine mitgeben auf deinem langen Weg des Schweigens.

13 Kommentare:

  1. Ein sehr schöner Artikel, der es auf den Punkt ist. Wer anders ist, wird nur allzu oft ausgegrenzt. Die Liste der missverstandenen Genies ließe sich noch beliebig erweitern.
    Vielleicht sollten mir mal die Aktion "Ein Herz für Nerds" starten ;)

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  2. Ein Herds für #Nerds,
    Da bin ich dabei ;-)

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  3. Vielen Dank für den Artikel mit Tiefgang.
    Das Leben ist oftmals nicht schwarz oder weiß.
    Deswegen sind Artikel dieser Art für mich so wichtig.

    Ich schätze die Arbeit von Aaron Swartz auf jeden Fall sehr.
    Schade, dass er so früh gegangen ist und keine anderen Möglichkeiten für sich sah.

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  4. Ein Artikel, der durch seine verschiedenen Blickwinkel und die breite Recherche den Nachweis liefert, dass eine schwarz-weiße Weltsicht oft eine realitätsferne Vereinfachung ist.
    Denn als "Normalität" etabliert sich meist eine zeitgeist-kompatible Mehrheitsmeinung - die auch beigetragen hat zu allen allen Problemen, die wir heute schon haben. Diese "Normalität" unterstützt nicht die Veränderungen für ein besseres Morgen - schon gar nicht, wenn einzelne Visionäre aus der "Nerd-Schublade" diese Veränderungen anstoßen.
    Bedauerlich ist, wenn diese "Normalität" einen Vordenker wie Aaron Swartz so an den Rand der Gesellschaft drängt, dass er keinen anderen Ausweg für sich sieht als den gewählten ... Ruhe in Frieden

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    1. Danke für die interessanten Beiträge!
      In einer Demokratie ist es 'normal', dass die Mehrheit entscheidet.
      Unnnormal ist jedoch, dass immer Durchschnitts-Ansichten, -Verhalten & -Menschen gesucht werden, z.B. in Stellenanzeigen. Man stelle sich nur einmal einen Durchschnitts-Mensch zwischen A.Merkel, I.Aigner, S.Gabriel, R.Künast, C.Lauer, P.Rösler und S.Wagenknecht vor. So einen Menschen habe ich mein ganzes Leben noch nicht getroffen, es gibt ihn nicht!

      Der Innovator ('Hofnarr') stört den Mehrheitsbetrieb, ist aber die Lebensversicherung gegen Herdentrieb & Monopole. Vor 20 Jahren gab es die beste, weil ausgereifteste (!) Schreibmaschine der Welt. Innovation ist keine Kritik an der (technischen) Perfektion des Bestehenden.
      Heute ist bereits der Computer ein Auslaufmodell, weil Smartphones und Tablets nachgefragt werden. N. Machiavelli sagte einmal treffend: "Einem Manne, dem alles geglückt ist, ist es schwer zu vermitteln, dass er was Neues machen soll....The times they are a changing.... er aber ändert nicht sein Verhalten"
      (vgl. Lehman Sisters am Höhepunkt des Erfolgs!)

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  5. Ich habe gerade den Artikel kurz überflogen,wenn jetzt, hier, jemand sagen würde, ER sieht SICH selbst und SEIN Werdegang ,und es verkrampft sich alles in DIR,was würde MAN dann DENKEN? L.G. Anja

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  6. Die ZEIT widmet ihm in der aktuellen Ausgabe eine ganze Seite.

    "Wieso steht eigentlich sofort der Vorwurf der Arroganz im Raum, wenn intelligente Menschen ein erkennbares Problem mit der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit haben?"

    Weil Sprache das wichtigste Medium (geworden) ist, den anderen zu verstehen, insbesondere wenn Menschen sich nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Und im vorliegenden Fall ist es vermutlich besonders bitter, dass ausgerechnet in _dem_ Medium der Kommunikation einer unterwegs ist, der von der Persönlichkeitsstruktur her eigentlich gar nicht kommunizieren kann oder will.
    Die eine Seite der Medaille ist die (moralische) Ausgrenzung abweichenden Verhaltens durch die Gesellschaft, die andere ist, dass Menschen wie Swartz die (soziale) Welt nicht verstehen und trotzdem in ihr aktiv werden möchten. Das geht nicht gut - im Asterix-Latein: quod erat demonstrandum.

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    1. "Die eine Seite der Medaille ist die (moralische) Ausgrenzung abweichenden Verhaltens durch die Gesellschaft, die andere ist, dass Menschen wie Swartz die (soziale) Welt nicht verstehen und trotzdem in ihr aktiv werden möchten."

      Ähm, wie sollte er denn _passiv_ bleiben? Leben ist _immer_ aktiv.

      Soziale Normen basieren auf kulturell bedingten Werten, d.h. sie unterscheiden sich von Kultur zu Kultur. Zudem wandeln sie sich laufend. Swartz dürfte die soziale Welt der USA von 2012 schon verstanden haben, sich ihr aber evtl. einfach nicht anpassen _wollen_, weil sie Werte repräsentierte, die den seinigen widersprachen?

      Buchtipp: "party of one. The Loner's Manifesto" von Anneli Rufus.

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  7. Danke Erich, für die Erinnerung und die Einordnung. Du schaffst es wie kein zweiter, die richtigen Informationen und passenden Quellen zu finden. Genial.

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  8. Wunderbarer Artikel :) Er zeigt, dass man wenn man anders ist, nicht allein "anders" ist, sondern das es wieder normal in einer breiten Masse ist. Ich weiss nicht wie man sich ein Projekt für diese Menschen vorstellen könnte, aber ich denke, es wird viele Menschen berühren, wenn es öffentlicher gemacht wird und auch helfen, mit ihrer Art besser klarzukommen bzw sie zu akzeptieren, da man sich, denke ich häufig doch missverstanden fühlt von seiner Umwelt.

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  9. Heutzutage werden diese "Auffälligkeiten" frühzeitig mit Ritalin wegtherapiert.
    Im Einzefall extrem hilfreich - für die Menschheit aber ein Verlust.

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    1. Da hast du wohl recht! Diversität, Querdenkenkertum könnten damit bedroht sein.

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