12. Juni 2013

Von der Gnade, die eigenen Freunde nicht zu verstehen

Alleinsein, Freundsein und die Qualität von Gefühlen

Die Introversion ist eines meiner Lieblingsthemen. Nicht nur, weil ich darin einen Kern meiner Persönlichkeit gefunden habe, der viele andere Persönlichkeitsaspekte beeinflusst. Introversion interessiert mich auch deshalb, weil es eine existenzielle Grundsituation eines jeden Menschen zuspitzt und greifbar macht: Alleinsein. Introvertierte haben eine besondere lebensphilosophische Gabe im Umgang mit dem Alleinsein. Sie spüren sogar einen inneren Zwang zum Alleinsein. Das ist schon spannend. Ein anderer Aspekt, der selten beleuchtet wird, ist das Recht auf Privatheit, das Recht auf ein Geheimnis, das Recht, auch mal unverstanden zu bleiben. Dieses Recht ist für unsere Identität entscheidend und Introvertierte gestehen sich selbst und anderen dieses Recht meistens ganz intuitiv zu. Sie drängen sich nicht auf, nehmen sich eher zurück, behalten Dinge gern für sich. Alleinsein ist für sie auch eine Frage des Respekts: Jeder Mensch hat das Recht, auch mal für sich zu sein.

Wir sind immer allein

Wir alle - egal ob intro- oder extrovertiert - kommen nicht umhin, uns mit dem Alleinsein auseinanderzusetzen. Im ganz banalen Sinne schon ganz früh in der Kindheit und später, wenn wir uns beim Alleinsein erst ängstigen und dann langweilen. Aber auf eine Art sind wir immer allein, auch und gerade wenn wir  unter Freunden sind: Jedes Missverständnis, jede etwas andere Interpretation einer gemeinsam erlebten Situation, selbst verschiedene Vorlieben zeigen uns, dass wir in einem existenzialistischen Sinne allein sind. Wir können uns zwar verständigen, werden aber nie dieselben Bewusstseinsinhalte haben, die etwa unser bester Freund hat. Wir können uns gegenseitig nicht verstehen, sondern nur interpretieren. Wer das nicht begreift, kann es schwer haben im Leben, denn Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten lassen uns dann verzweifeln, wir nehmen sie persönlich oder denken, dass andere einfach blöd sind.

Sind Introvertierte bessere Freunde?

Wie ich schon sagte, haben Introvertierte eine besondere Gabe, wenn es ums Alleinsein geht. Sie sind gern allein und finden in sich selbst häufig ein ganz reiches emotionales Leben, das nicht darauf angewiesen ist, dass es mit anderen geteilt wird. Diese Gabe allein reicht noch nicht, man muss sie auch "anwenden" können. Dazu zählt auch eine gewisse Balance, sich selbst verstehen und sich selbst auch mal aus dem Versteck wagen, um dann wieder das Alleinsein bewusst genießen zu können. Dazu gehört sicher auch, andere in sein Leben zu lassen, Freunde zum Beispiel und vor dem Hintergrund der eigenen Introversion den anderen ihre Identität zu lassen. Introvertierten wird auch immer wieder bescheinigt, dass sie sehr loyal sind und die ganz wenigen Freunde, die sie in ihr Leben lassen, eng an sich binden können. Eine treue Leserin meines Blogs schrieb mir dazu neulich folgende Zeilen:

Dadurch, dass man nur zu wenigen Leuten Zuneigung empfindet, ist diese dafür aber stärker ausgeprägt und ganz besonders wenn die Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruht. Dadurch erwartet man vielleicht eine Art "Exklusivität" die andere nicht unbedingt zurück geben können, erst recht nicht, wenn es sich bei ihnen um Extrovertierte handelt.

Diese Beobachtungen werfen interessante psychologische und auch philosophische Fragen auf. Erst einmal kann es natürlich so aussehen, dass die Zuneigung, die Introvertierte empfinden, stärker ausgeprägt ist. Vielleicht, weil wir ganz allein mit dieser einen Person viel Zeit verbringen und sie deswegen die einzige Empfängerin unserer Zuneigung ist. Aber ist die Zuneigung deswegen stärker? Und stärker, als was eigentlich? Wir werden es kaum beurteilen können, ob andere (meinetwegen Extrovertierte) eine weniger starke Zuneigung empfinden. Wie könnten wir das im Alltag testen? 

Die Qualität von Gefühlen

Ich glaube, wir können die Stärke unserer Gefühle nicht ohne Weiteres mit der anderer Menschen vergleichen. Wir haben ja keinen Zugang zum Empfinden der anderen und können unser Urteil nur auf unsere Beobachtungen als Indiz für ihre Gefühle stützen. Als Beispiel: Nur weil jemand stärker unter seinen Zahnschmerzen stöhnt, als ein anderer, können wir daraus noch nicht schließen, dass er auch wirklich stärkere Schmerzen hat. Es ist ein Indiz, aber kein Beweis. 

Man könnte auch sagen, dass für einen Vergleich von Gefühlen oder Schmerzen ein objektiver Referenzpunkt fehlt. Man kann Schmerzen und andere Gefühle nicht wie ein Erdbeben auf einer Richterskala messen. Ohne diesen objektiven Referenzpunkt ist dann das Reden von mehr oder weniger Schmerzen oder Gefühlem nicht sehr sinnvoll. Zuneigung und Gefühle sind dann eben jeweils individuelle Qualitäten und nicht Quantitäten.

Die Exklusivität unserer Zuneigung, die wir als Introvertierte vielleicht nur einem Freund schenken, lässt es so erscheinen, als würden wir viel stärker für ihn empfinden, als jemand, der seine Zuneigung auf fünf Freunde, statt auf einen "verteilt". Zuneigung ist aber nicht unbedingt wie ein Liter Wasser, der eine einzelne Person ganz durchnässt, während er verteilt auf fünf Personen diese nur etwas bespritzt. Zuneigung ist eine Qualität unseres Bewusstsein, ein Gefühl und das muss nicht geringer ausfallen, nur weil man es auf mehrere "Projektionsflächen" (sprich: Freunde) verteilt.

Diese Erkenntnis kann uns auch dann helfen, wenn wir die Exklusivität, die wir anderen geben, nicht gespiegelt bekommen. Nur, weil ein guter Freund noch vier weitere gute Freunde hat, heißt das nicht, dass er weniger Zuneigung für mich empfindet, als ich ihn für ihn.

Den anderen nicht verstehen ist OK

Vielleicht steckt hinter der Enttäuschung über die mangelnde Exklusivität einfach ein Missverständnis. Nämlich das, dass der andere doch genauso sein muss wie ich. Ich kann nur für einen ganz viel empfinden. Dann muss doch die Zuneigung zu vielen geheuchelt sein.

Hier sind wir wieder am Ausgangspunkt dieses Artikels: Wir sind fundamental allein in unserem Bewusstsein. Um dieses Alleinsein überbrücken zu können, müssen wir es erst einmal verstehen. Nur dann, wenn wir dem anderen Menschen neben uns und uns selbst zugestehen, dass wir ihn in seinem Anderssein nicht vollends begreifen können, können wir die Toleranz und das Verständnis für die Welt dieses anderen aufbringen. Auf das volle Verständnis des anderen verzichten zu können, heißt auch, ihm oder ihr einige Geheimnisse zu lassen, die Person nicht voll zu durchdringen und das Recht auf Identität und Privatheit zuzugestehen. Gerade den introvertierten unter uns wird das gefallen. Wir müssen sagen können: Ich verstehe dich nicht ganz, aber genug, um dein Freund zu sein. Dann können wir auch ertragen, wenn dieser Freund seine Zuneigung anders zum Ausdruck bringt und auf mehr Leute verteilt, als wir selbst es tun würden.

7 Kommentare:

  1. Der Artikel ist sehr interessant und gibt Anlass für neue Überlegungen und Beobachtungen...

    Bislang dachte ich, dass man über eine gewisse Quantität an Gefühlen oder Zuneigung verfügt und diese dann so oder so einsetzt, aber vielleicht kommt mir das auch so vor, weil ich selbst nur eine sehr begrenzte Menge an Energie für soziale Kontakte habe und diese Energie dann ganz gezielt einsetzte, nämlich bei den Leuten mit denen ich mich wohlfühle.

    Aber anstatt von anderen exklusive Zuneigung zu erwarten, könnte man auch einfach darauf vertrauen dass die Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruht - denn ein gutes Gespür für so etwas haben wir Introvertierten doch eigentlich...

    Da muss ich nochmal länger drüber nachdenken -
    vielen Dank dafür!

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  2. Ich muß einen Menschen nicht verstehen, um ihn zu mögen. Das sind zwei verschiedene Ebenen. Wenn Verständnis die Voraussetzung für Zuneigung ist, dann bezieht sich die Zuneigung auf das Verhalten des Menschen und nicht auf den Menschen selbst. ;)

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  3. Es gibt meines erachtens keine Exklusivität. Es existiert kein Unikum unter der Norm der Bevölkerung. In der Verhaltensforschung sind evtl. einige Menschen zu finden, die extreme Ausschweifer haben - ansonsten sind wir alle in der relativen NORM, es sei denn - man nehme sich zu wichtig, zu gewichtig in seiner Person - dies ist jedoch nur eine instrumentale Selsbstvorstellung, sie gilt ja nicht für die uns Umgebenen, die anders Denkenden. Jeder ist bei sich!!! Fast jeder Mensch hat Menschen mit denen er in irgendeiener Weise etwas teilt, teilen will - wobei hier der Wille auch in Zwang überschpappen kann. Die Sozialisation spielt eine riesen Rolle. Arbeit kann Arbeit sein, oder sie ist dein Leben. Genau SO verhält sich das mit einem Lebenspartner- der Blick auf das Objektive wird den Weg in die Zukunft gestalten. Der hoffentlich offene Blick, den du als Kind, als Jugendlicher, den du al alender Jugendlicher in Hoffnung bewahrst - er wird dich .... wohin auch immer...

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  4. Ich als Introvertierter habe einige gute, extrovertierte Freunde. Ich habe sehr lange gebraucht um zu begreifen, dass eine solche Freundschaft nicht in der Krise steckt, nur weil sich der Andere mal statt um mich um einen seiner viiielen anderen Freunde kümmerte. Ich musste hart lernen, dass das Teilen der Beziehung-Zeit kein Teilen der Beziehungs-Qualität bedeuten muss (danke, Gilbert, für Deine Wasser-Analogie). Manches Mal war ich geradezu erstaunt, wenn nach mehrtägiger Funkstille die Beziehung noch genau so eng und vertraut war, wie vorher. Ich habe mich dabei ertappt, in einer solchen Funkstillen-Zeit alle möglichen Gründe dieser "Krise" gedanklich durchzudenken, bis ich dann merkte: Ist doch alles in Ordnung.
    Aus dieser Erfahrung heraus empfinde ich den Exklusivitäts-Anspruch von uns Introvertierten eher als gefährlich für die Freundschaft, wäre ich doch unter (un)geeigneten Umständen in der Lage gewesen, unsere Freundschaft offen anzuzweifeln. Das hätte zwar zu einer schnelleren Klärung beigetragen, aber beim extrovertierten Gegenüber zurecht Unmut verursacht.

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  5. Danke für diesen Artikel.

    Die Behauptung, dass Introvertierte mehr Zuneigung für ihre wenigen Freunde empfinden, habe ich in der Vergangenheit schon des Öfteren gelesen... und sie erschien mir, als Introvertierte mit wenig Freunden, ziemlich plausibel.

    Denn wenn die von mir (offen gestanden) beneideten Extrovertierten schon von allem mehr haben (in diesem Fall Freunde), dann ist es doch klar, dass diese vielen Beziehungen halt nicht so intensiv sind/ empfunden werden. Was sich jedoch in keinster Weise überprüfen lässt, weil sich sowas Subjektives wie Gefühle unterschiedlicher Menschen nunmal nicht vergleichen lassen.

    Hinter der hohen Bereitschaft, dieser nicht überprüfbaren Behauptung Glauben zu schenken, steckte bei mir in erster Linie also Wunschdenken - dass eine geringere Anzahl von Freundschaften eben mit einer "höheren Intensität" ausgeglichen wird. Das war mir bisher nie so klar gewesen.

    Ich finde diesen Blog mit seinen Themen sehr interessant, insbesondere die Beiträge zur Introversion!

    Viele Grüße

    K.

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  6. Kann ein introvertierter Mensch nicht gleichzeitig extrovertiert sein wenn er auf vertrautem Gebiet ist? Ist man immer das eine oder das andere?
    Ich gelte als zurückhaltend und zu schüchtern bei einigen Leuten. Andere empfinden mich als starke Persönlichkeit und lieben meine Offenheit. Ich erkenne an mir selbst verschiedene Verhaltensmuster, je nach Gemützustand und Umfeld. Wird nicht vieles und vielleicht zu vieles vom Umfeld gesteuert? Und ich glaube die Kindheit spielt eine sehr große Rolle.

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  7. Absolut korrekt! Man ist nicht immer das eine oder das andere. Viel mehr hat man eine Präferenz. Die Frage wäre also z.B. was dir näher liegtt: Nach der Arbeit auf eine Party zu gehen und mit vielen Leuten zu interagieren oder nach Hause zu gehen, eine Tasse Tee zu machen und dich ganz in Ruhe mit einem Buch in den Sessel zu verziehen. Je nach Lust und Laune kann das mal so oder so sein, aber eines wird sich häufiger als das andere aufdrängen.

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