14. September 2014

Der Geist als hervorragender Diener...

...und furchtbarer Herrscher

"Alles um mich herum, so wie ich es wahrnehme,
stützt meinen tief verwurzelten Glauben, dass
ich das Zentrum dieses Universums bin,
die wahrhaftigste, lebendigste und
wichtigste Person, die existiert."
David Foster Wallace

David Foster Wallace war einer der großen einflussreichen Intellektuellen und Schriftsteller der modernen USA. Im September 2008 nahm er sich das Leben, eine schwere Depression, gegen die er zwanzig Jahre kämpfte, hatte ihn in die Knie gezwungen. Drei Jahre zuvor hielt er vor den Absolventen des Kenyon Colleges eine Rede, die inzwischen als eine Anstiftung zum Denken berühmt geworden und als Buch verlegt worden ist. Ich las diese Rede zum ersten Mal vor drei Jahren. In diesem Artikel versuche ich Wallace' Kerngedanken herauszustellen, weil sie mich nicht loslassen und ich immer wieder spüre, wie wichtig sie für mein persönliches Leben, in Zeiten der Krisen, in denen ich mit mir und meinen Mitmenschen hadere, geworden sind.


David Foster Wallace von Steve Rhodes (CC BY 2.0)

In seiner Rede vor den Studenten meint Wallace, wir würden das so zwar nicht sagen, aber tief in uns drin, sind wir von Geburt an so gepolt, dieser Ego-Illusion zu unterliegen. Alles, was in unserem Leben passiert, sagt uns, dass sich die Welt um uns herum dreht. Und die Tatsache, dass unsere eigene Gedanken uns unmittelbar zugänglich sind, während die Gedanken der anderen umständlich und mit Informationsverlust kommuniziert werden müssen, scheint uns zu zeigen, dass wir wirklich und im höchsten Grad existieren, während andere zwar auch da zu sein scheinen, aber in einer Existenz zweiten Grades, die wir nur vermittelt wahrnehmen können.

Die Hölle sind immer die anderen

Wallace nennt das die Standardeinstellung unseres Geistes. Und tagein tagaus macht uns diese Standardeinstellung das Leben zur Hölle. Überall ärgern wir uns, weil uns andere Leute im Wege stehen: Im Supermarkt, auf der Autobahn, im Arbeitsleben und so weiter. Sie tun dumme Dinge, behindern unser Fortkommen, enthalten uns vor, was uns rechtmäßig zusteht, reden Blödsinn oder sind sogar bösartig. Sie stören uns und unser Leben, das so schön sein könnte, wenn die anderen nicht wären. Das macht uns sauer, wütend oder niedergeschlagen. Und wir können gar nichts dafür, denn es liegt an der Standardeinstellung unseres Geistes: Ich zuerst!

Oder denken wir an die Mühen der Partnerschaften: Oft verstehen wir den anderen nicht, ist es nicht geradezu verrückt, wie sich unser Partner manchmal verhält? Warum ignoriert mich mein Partner, wenn er mich doch angeblich liebt? Warum verletzt er mich? Warum öffnet er sich mir nicht? Warum bricht er einen Streit vom Zaun? Wir werden und können das nicht verstehen und wir müssen es auch gar nicht verstehen. Wir können aber entscheiden, wie wir diese frustrierenden Situationen und die Menschen in ihnen bewerten. Folgen wir unseren geistigen Standardeinstellungen, dann wird es uns nicht gelingen, den Kopf über Wasser zu halten, wir werden in diesen frustrierenden Situationen untergehen.

Den Geist lenken lernen

Wallace spricht vom Geist als hervorragenden Diener und furchtbaren Herrscher. Mit dem Blick auf die Standardeinstellungen unseres Geistes - also die entlastenden Automatismen, die Vorurteile und Glaubenssätze und die Egozentrizität - wird klar, was das meint: Wir dürfen uns von diesem automatischen Geist nicht beherrschen lassen, wir müssen ihn steuern, sodass er uns dienen kann. Für Wallace gibt es im Leben nur ein wirklich lohnendes Bildungsziel: Zu lernen, wie man den Geist lenkt, zu lernen, wie man denkt.

"Denken lernen heißt, zu lernen, wie man das, was man denkt, steuern kann. Es bedeutet, bewusst auszuwählen, worauf man sich konzentriert und zu wählen, wie wir Bedeutung aus unseren Erfahrungen ableiten. Wenn es uns nicht gelingt, als Erwachsene ein solches bewusstes Denken zu erlernen, haben wir richtig verkackt."

 [...]
"Wenn du immer ganz automatisch schon weißt, was die Wirklichkeit ist und wer oder was wirklich wichtig ist - wenn du dich also deinen Standardeinstellungen überlässt - dann wirst du gar nicht auf die Idee kommen, neue Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, die vielleicht nicht sinnlos und ärgerlich sind. Haben wir jedoch gelernt, bewusst zu denken und unsere Aufmerksamkeit zu steuern, dann wissen wir, dass wir immer die Wahl haben. Wir können dann zum Beispiel sogar die Macht haben, die Erfahrung einer mit Menschen überlaufenen, lauten und zähen Supermarkt-Hölle als nicht nur bedeutsam, sondern sogar als heilig wahrzunehmen, aufgeladen mit derselben Kraft, die die Sterne am Himmel entzündete - Leidenschaft, Liebe, die zugrunde liegende Einheit aller Dinge. Nicht das dieser mystische Quatsch wirklich wahr ist: Das einzige, das wirklich wahr ist, ist dass du entscheidest, wie du die Dinge siehst. Du kannst bewusst entscheiden, was bedeutsam ist und was nicht. Du entscheidest, was du verehrst..."

Für Wallace ist das die Freiheit im Leben: Die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie wir denken, urteilen und dann handeln. Diese Freiheit bedarf der Aufmerksamkeit, der Disziplin und der Mühe. Natürlich ist es schwer, sich nicht den Automatismen hinzugeben, sondern solch ein Bewusstsein und eine Offenheit in der Wahrnehmung zu entwickeln, und als Folge in der Lage zu sein, andere zu lieben, sich um sie zu kümmern, selbst wenn das anstrengend ist und manchmal wenig Belohnung bereit hält. Alles andere aber führt geradeaus in ein profanes Leben des Wettbewerbs aller gegen alle, in ein Leben ohne Bedeutung. Es geht einfach darum, sich bewusst zu machen, was wirklich im Leben für uns zählt, denn das findet sich überall um uns herum und ist doch so verborgen, dass es unserem automatisierten Geist nicht zugänglich ist. Wir müssen es aktiv erschließen.

Lasst uns das nächste mal, wenn die Welt auf uns herunterzustürzen scheint und wir das Gefühl haben, im Zentrum eines Orkans der Scheiße zu stehen, lasst uns dann einen Schritt zurücktreten und überlegen: Dreht sich wirklich alles um uns? Ist das, was uns zustößt persönlich gemeint oder passiert es einfach? Und ist es nicht immer noch in der Gesamtschau dessen, was auf der Welt passiert, ein Glück, das uns täglich widerfährt? Die Arbeit nervt, die Beziehung ist schwierig, unsere Vorhaben gehen schief, liebste Mitmenschen sterben. Das ist Leben! Vertraue nicht deinem Geist, lass ihn dich mit seinen Automatismen nicht beherrschen. Schau vielmehr bewusst hin und entscheide, was wirklich wichtig für dich ist. Und dann nimm das wirklich wichtige und lebe es mit Liebe und Leidenschaft.



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4 Kommentare:

  1. Und immer muss das Böse lauern, nur transzendiert von Gottes einfachem Diät-Trick.
    Wie man sich erst die Hölle heiß machen und dann tapfer den Pfad der Gerechten inmitten der züngelnden Flammen entlang schreiten kann, das müsste man beim Mensch des 21. Jahrhunderts wirklich mal untersuchen: Wenn der nächste Leidensprediger zum Sermon anhebt, sind Aufklärung und Emanzipation vom Obskurantismus schnell vergessen: Ja Meister, das Leben ist ein Jammertal - aber die Liebe wird's schon richten!

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    1. Na ja, oder anders gesagt: Du kriegst nicht immer, was du willst. Grow up and deal with it.

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    2. Bei dieser Zusammenfassung fehlt dann aber der Orkan der Scheiße und die Mühe, die nötig ist, um andere überhaupt lieben zu können.
      Man muss sich und andere nicht erst verstören, um ganz erwachsen eine Alternative finden zu können. Die Welt ist gar nicht mal so schlimm ohne Horror-Szenarien.

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    3. Echt? Du musst mal beobachten, wie sehr manche Menschen darunter leiden, dass sie nicht bekommen, was sie erwartet haben oder glauben zu verdienen. Manche macht das kaputt, sie betrachten ihr ganzes Leben dann als gescheitert und zerstören damit mitunter ihre Familien. Das nenne ich einen Orkan der Scheiße, in dem es schwer ist, aneinander festzuhalten.

      Wer wer ist schon "ganz erwachsen"? Alain de Botton sagt beispielsweise, dass solche Menschen sich daran erinnern sollen: "Even if everything goes wrong, it's still ok." Er empfiehlt "Schocktherapie", sich selbst konfrontieren mit dem Super GAU. Ich kann der Idee einiges abgewinnen.

      Aber wir müssen uns selbstverständlich darin nicht einig werden.

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