6. September 2014

Meine Reizbarkeit und Versöhnung mit der Welt

Eine etwas gereizte Untersuchung zur Aussöhnung mit der Wirklichkeit


Ich weiß nicht, ob Sie das von sich selbst kennen oder jemanden kennen, bei dem das so ist: Man schläft zu leicht, wacht schnell auf, ist enorm gestört durch die trampelnden Nachbarn über einem oder durch die Obstfliegen, die in den letzten noch einmal erwärmten Tagen vom Pflaumenbaum im Garten ihren Weg in die Küche finden. Manchmal nerven mich sogar die Vögel, wenn sie im Garten zetern. Jeder ist anders reizbar. Ich kann auch das Knistern von Plastiktüten nicht ertragen. Und elektrische Geräte wie Staubsauger oder - meine größten Feinde - die mit Benzin betriebenen Laubblasturbinen, die sich jetzt Hinz und Kunz für ihre Gärten kaufen. Weil Laub etwas Furchbares ist, das muss entfernt werden! Und ein Harke oder ein Rechen - das geht ja gar nicht. Den Arm hin und her bewegen, um Blätter in einen Haufen zu schieben ist eine unmoderne Unzumutbarkeit. Lieber setzt man sich Ohrenschützer auf und geht mit schwerem Gerät und ohrenbetäubendem Lärm gegen die gefallenen luftleichten Blätter vor. So haben auch alle Nachbarn etwas davon. Neulich war ich in den Masuren, genoss sie menschenleere Stille, als plötzlich eine Horde Verrückter auf Jet-Skis durch den davor so ruhigen See pflügten. So etwas macht mich wütend... Ich schweife ab.

Auch eine Art, sich mit der Welt zu versöhnen (Bild von Craig Sunter via Flickr CC)

Unsere Empfindlichkeit kann so weit gehen, dass wir unser Zuhause, unseren Urlaub, ja unsere ganze Umwelt und unsere Mitmenschen nicht mehr genießen können, sondern in ihrer Wahrnehmung einen störenden Reiz nach dem nächsten identifizieren. Es gibt dann keine Toleranz gegenüber "dem anderen" mehr. Jegliche "Störung" wird einem anderen Schuldigen angelastet, anstatt sich zu fragen, ob das überhaupt eine Störung ist oder ob es nicht einfach mit zum Leben gehört, Reizen und Einflüssen der Welt ausgesetzt zu sein.

Übertriebene Reizbarkeit hat viele Ursachen, zuerst natürlich die ganz objektiven: die Reize, die uns zunehmend erreichen (siehe Laubbläser). Haben sie schon mal gemerkt, wie der Einsatz von Hubschraubern in den Großstädten zunimmt? Der Autoverkehr, Flugzeuglärm, die in allen öffentlichen Räumen zwanghaft dudelnde Musik, all das sind zunehmende akustische Reize, die manchen von uns tierisch auf die Nerven gehen. Ich meine an mir selbst festzustellen, dass dieses Übermaß an Reizen auch meine Reizbarkeit steigert. Wenn demnächst noch überall Drohnen von Postzustellern oder privaten Detektiven eingesetzt werden sollten, dann bin ich einer der ersten, die zur Waffe - Luftgewehr, Armbrust oder Steinschleuder - greifen und die dummen lärmenden Dinger vom Himmel holen. Aber zurück zum Thema...

Die eigene Reizbarkeit verstehen

Außer der objektiven Ursachen gibt es auch subjektive. Zum Beispiel sind manche Menschen einfach empfindlicher als andere. Da gibt es die Hochsensiblen und die Neurotizisten, wobei mir nicht ganz klar ist, ob das dieselben sind oder wodurch sie sich unterscheiden. Solche Menschen haben einfach viel geringere Reizschwellen, sie sind empfänglicher für Reize und können sie nur schwer ausblenden. Gegen diese subjektiven Ursachen von Reizbarkeit lässt sich nur ganz schwer etwas tun, denn sie sind, wenn nicht physiologisch, so doch ganz tief in unserer Psyche verankert. Trotzdem: Jede solcher psychischen Dispositionen oder Temperamente sind zum einen zwar Teil der Grundlagen unserer Persönlichkeit, eröffnen andererseits aber auch immer Spielräume, die wir nutzen und ausbauen können. Mit anderen Worten: Wenn wir wollen, können wir durch Übung unsere Empfindlichkeit steigern oder abschwächen, jeder in seinem eigenen Rahmen.

Ich habe den Verdacht, dass es neben der Temperamente auch subjektive Ursachen für diese Reizbarkeit in uns gibt, die wir beeinflussen könnten, wenn wir uns einen Zugang zu ihnen eröffneten. Vielleicht kann man das - wenn man bildlich sprechen möchte - im Unbewussten verorten, also dort, wo sich unsere Verhaltensweisen, Werturteile und Reaktionen auf die Umwelt so eingeschliffen haben, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Sie sitzen uns dann wie eingefärbte Linsen vor den Augen, die uns die Welt immer in ganz bestimmten Farbtönen erscheinen lassen, sodass wir meinen, die Farbtöne gehörten zur Welt und nicht zu unserem Wahrnehmungsapparat. Diese Farbtöne können uns permanent gereizt und empfindlich auf die Welt blicken lassen. Bewusstwerdung, also explizit machen dieser verinnerlichten Urteile und Reflexe, kann hier helfen.

Aussöhnung mit der Wirklichkeit

Neulich las ich in Karl Löwiths phänomenalen, aber leider vergriffenen Buch Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts die folgende schöne, fast poetische Formulierung:

"...der tiefere Grund, warum sich Hegel den Inhalt seines Begreifens vorgeben läßt, ohne ihn durch »Kritik« verändern zu wollen, liegt nicht im bloßen »Interpretieren«, sondern in dem, was es praktisch bezweckt. Hegels Begreifen wollte sich mit der Wirklichkeit aussöhnen."

Freilich geht es bei Hegel um größere Zusammenhänge, als die hier diskutierten individuellen, aber es lässt sich doch lebenspraktisch einordnen. Schon der Grundgedanke ist sehr antik-philosophisch und praktisch: Das Begreifen der Welt führt zu einer Aussöhnung mit ihr, vielleicht sogar indem man sich selbst als Teil dieser Welt verstehen lernt oder gar eins mit ihr wird. Jegliches untersuchen, die Kritik der Inhalte des Begreifens - also zuerst einmal der Sinnesdaten - führt zu einer Veränderung, die wegführt vom Begreifen. Das Wort Begreifen kann hier auch wörtlich verstanden werden: Etwas anfassen, mit den Händen und anderen körperlichen Sinnesorganen. Wenn man etwas greift, gibt es keine räumliche Distanz, man ist verbunden mit dem Begriffenen.

In diesem Sinne frage ich mich, ob nicht auch wir uns mit der Welt um uns herum aussöhnen können, in dem wir sie sinnlich begreifen. Das soll nicht heißen, dass man sich mit Fluglärm und anschwellendem Verkehr arrangiert, im Gegenteil: Man muss dagegen rebellieren!* Aber es heißt doch, dass man sich davor hüten muss, jeden Einfluss der Außenwelt als Störung einzuordnen. Wir könnten bei der nächsten Gelegenheit einmal innehalten und die Sinneseindrücke phänomenologisch aufnehmen. Einfach ohne Urteil und Wertung greifen, begreifen und als Teil der uns mit einschließenden Wirklichkeit verstehen. Ich sage ganz ehrlich: Wenn es solche Reizschwellen überschreitet, wie das bei Fluglärm oder Laubbläsern der Fall ist, dann geht das nicht, denn es sind hier so starke und gefährliche Reize, dass wir zu gar keiner anderen vorurteilsfreien Wahrnehmung mehr fähig sind.

Aber wenn mich demnächst mal wieder die zeternden Amseln, die umherschwirrenden Obstfliegen, die spielenden Kinder (darf man ja gar nicht sagen!) oder die trampelnden Nachbarn nerven, werde ich das als willkommenen Übungsanlass nehmen, um mich mit der Wirklichkeit, die nie frei von störenden Reizen sein wird, auszusöhnen.


* Begreifen kann in dem Zusammenhang auch heißen zu verstehen, dass man Teil dieses Problems ist. Dann kann man selbst mit der Veränderung anfangen. 

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7 Kommentare:

  1. Guten Tag,

    vieles kann ich sehr gut nachvollziehen und erkenne mich auch selbst darin wieder.
    Das Versöhnen mit den störenden Reizen kenne ich auch und finde das es bisher bei mir der beste Weg war, um besser mit gewissen Situationen umzugehen.
    Mich stören weniger die Tiere oder Kinder, als vielmehr die Auto draußen, der lärmende Verkehr und zu viele und laute Menschenmassen. Hektik ist das, was mich schnell durcheinander bringt und dann sehne ich mich sehr nach Ruhe und Gelassenheit. Ich habe mal damals einen Trick gelernt, den ich mir im Bus, beim Aufzug oder in der Uni angeeignet habe, wenn ich wieder in einer Phase bin, wo mir alles zu viel wird, denn bei mir ist es nicht dauerhaft so, dass ich mich reizbar fühle gegenüber bestimmter Reize. Wie ist es bei Ihnen?
    Ach ja der Trick: Stell dir vor, es gebe hier keine Menschen. Dann atme ich meist bewusster und angenehmer und wenn mir das nicht reicht, stelle ich mir vor, dass ich jemanden bei mir habe, bei dem ich mich wohl fühle oder einen Ort fokussieren bei dem man sich wohl fühlt.

    Bei dem Versöhnen stellt sich nur manchmal irgendwann die Frage: Passe ich mich jetzt zu sehr an oder gehe ich lieber doch dagegen an? Ich habe nichts gegen Anpassung(Braucht man oft um zu Überleben), aber irgendwann geht es auch darum Grenzen zu setzen und sich selbst zu schützen. Zum Beispiel: Darauf hinweisen, dass jemand viel zu laut spricht.

    Allerdings muss ich gestehen, dass mir die Begriffe der "Hochsensibilität" und des "Neurotizimus" erstens noch nicht ganz klar sind, zweitens ich nicht genau sehe, wo der Unterschied sein soll und drittens glaube ich, dass es schwierig sein wird herauszufinden, ob man es selbst ist, bzw. Diagnosen können auch Gefahren bergen. (Die Frage, wann etwas noch im "Normalbereich" ist und wann pathologisch ist auch noch zu klären.)
    Jedenfalls lese ich momentan ein Buch, welches mir mein Freund spontan geschenkt hat, wo der kritische Blickwinkel gegenüber Diagnosen deutlich wird. Das Buch heißt "Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" von Allen Frances. Vielleicht hat ja jemand Interesse.

    So, bin jetzt wieder ein wenig abgeschweift.
    Schönes Wochenende. :)

    Maria S.

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    1. Hallo Maria,

      lieben Dank für deinen Beitrag und vor allem für den Trick! Das werde ich demnächst mal probieren. Eine Freundin von mir hat das aus angewandt und nannte es: My Happy Place.

      Diagnosen... ein leidiges Thema. Ohne geht's nicht und mit ist es auch blöd. Kennst sicher den Artikel Segen oder Fluch? Diagnosen von Persönlichkeitsstörungen. Da wird das gut abgewogen, finde ich.

      Ein ruhiges Wochenende, wünsche ich!

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  2. die welt war schön, nur etwas laut.

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  3. Der größte Teil eines Schmerzes ist der Widerstand gegen ihn - die im Artikel genannten Reize bzw. deren Erleben jetzt mal als "Schmerz" verstanden.
    Massive Reize zu tolierieren (naher Fluglärm, etc.) ist schier unmöglich, aber bei all den genannten weniger extremen Beispielen spielt die eigene Vorstellung davon, wie es sein sollte (nämlich ruhiger) nahezu die Hauptrolle. Das haben Lärmforscher bestätigt, die z.B. heraus fanden, dass natürliche Lärmquellen (rauschender Bach....) selten unangenehm empfunden werden, Menschen-gemachtes Gelärm aber sehr wohl - und das bei gleichen Dezibel-Werten.

    Als ich kurz vor der Jahrtausendwende von Berlin nach "draußen" aufs ruhige Land zog, fand ich den Stadtlärm schier unerträglich. Nach der Rückkehr nach nur zwei Jahren hat mich das nie mehr gestört - zu sehr hatte ich mich in der Stille gelangweilt und geradezu unter Reizarmut gelitten.

    Wenn man genau beobachtet, kann man sehen, wie der eigene Widerstand als eine Form von Verspannung körperlich aufgebaut wird. Umdenken (Bewertung ändern), atmen, entspannen - und schon geht der Lärm quasi "durch mich durch" ohne dass er mir als "Gegentstand" entgegen steht, der durch mein Vermeiden-Wollen erst richtig zum Nerv-Faktor wird.

    (Dein Blog hab ich in meine Blogroll aufgenommen)

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    1. Danke für diese Hinweise, das mit dem Widerstand ist sehr einleuchtend und bestärkt mich in meinem übenden Ansatz der Aussöhnung.

      Danke auch für die Aufnahme in deine Blog-Bibliothek, da sind ja ganz hervorragende Sachen dabei, die ich noch gar nicht kannte, wie die Neurosophie.

      Beste Grüße!

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  4. Ich war die letzten 2 Wochen auf der Insel Arum. So gut wie kein Autoverkehr. Flieger nur mal ab an an von und nach Sylt. Der Strand so groß, dass man auch gut allein sein kann. Welche Ruhe ...

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  5. Irgendwo habe ich noch ein altes Luftgewehr...
    Ich freue mich auf den Tag, an dem
    ich, gemütlich vom Balkon aus, Amazon
    empfindsame Nadelstiche zusetzen kann.
    Spaß beiseite:

    Letztendlich benötigen wir, jeder für sich,
    einen Ruhepol. Wie man einen solchen findet ?
    Ich denke es verhält sich ähnlich, wie mit der Suche
    nach dem Glück.

    In diesem Sinne: Viel Erfolg allen Suchenden !

    Herzlichst,
    Ian C.

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