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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

20. Dezember 2014

Was sexuelle Neigungen über uns verraten

Was bedeuten die Dinge, die uns wirklich anmachen?

Klar leben wir hier im Westen in sexuell befreiten Zeiten. Wir dürfen unsere Verlangen nicht nur ausleben, wir sollen sogar. Das geht Hand in Hand mit Leistungsfähigkeit im Beruf, mit Konsum und der Demographie unserer Gesellschaften. Aber was ist mit den Dingen, die uns wirklich richtig anmachen?

Bildausschnitt aus einem einschlägigen Internetforum von mir bearbeitet (Urheber unbekannt)

Über unsere sogenannten perversen Fantasien, unsere Fetische, geheimen Wünsche und Gedanken reden wir nicht, meistens nicht mal mit unseren Partnern. Das liegt daran, dass diese Gedanken mitunter sehr abgründig, vielleicht sogar verachtend und politisch ganz und gar unkorrekt sein können. Wir fürchten vielleicht die Reaktion des anderen darauf, vermuten sogar, dass irgend etwas mit uns selbst nicht stimmt oder haben sehr früh ziemlich strikte Schamgrenzen kennen gelernt und übernommen. Wir gehen damit das Risiko ein, uns selbst zu stigmatisieren oder den Zugang zu wichtigen verborgenen - keinesfalls nur sexuellen - Wünschen in uns zu verlieren. Wenn wir überlegen, was unsere Fetische eigentlich bedeuten, kann es uns gelingen, ein besseres Verhältnis zu ihnen und damit zu einem bedeutenden Teil unserer selbst zu etablieren. Schon mit dem Wort Fetisch wird die Stellvertreterfunktion unserer sexuellen Obsessionen deutlich: Ein Fetisch ist etwas "unechtes", das wir anstatt des unsichtbaren "Echten" verehren.

17. Dezember 2014

Willst du eine romantische Disney-Fantasie leben?

Wir Unglücklichen wissen das Unglück nicht zu schätzen



Ich bin ein großer Fan von Comedy, besonders wenn sie tragisch ist. Guter Humor hat immer eine philosophische Dimension und konfrontiert uns mit uns selbst und unseren absurden Hoffnungen, unseren dummen Überzeugungen und peinlichen Schwächen. Kein Komiker macht das im Moment so gut wie Louis C.K. aus New York mit seiner Figur Louie. Er macht das so gut, dass es oft schwer ist, seine Show noch lustig zu finden.

Perlen vor die Säue: Verschwende dein Unglück nicht!

Zuletzt sah ich die zehnte Folge aus der vierten Staffel, in der es um seine verlorene Liebe geht - eine Frau, die nach einem romantischen Intermezzo von New York zurück nach Ungarn ging. Natürlich war Louie extrem traurig, er bemitleidet sich selbst und sucht Trost oder Rat beim abgeklärten Dr. Bigelow und dessen dreibeinigen Hund (den der Doktor übrigens für den glücklichsten Hund der Welt hält). Louie sagt, dass er zu traurig ist, dass es diese kurze Liebe nicht wert war, wenn sie nur hierhin in diese Trauer geführt hat. Hier ist Dr. Bigelows Antwort von mir ins Deutsche übersetzt:
Die Unglücklichen wissen das Unglück nicht zu schätzen... Du bist ein Vollidiot. Denkst du, es ging darum, Zeit mit ihr zu verbringen, sie zu küssen, Spaß zu haben? Du denkst, das war der Sinn des Ganzen? Du meinst, das sei die Liebe? Nein, DAS HIER ist Liebe: sie zu vermissen, sterben wollen, weil sie verschwunden ist. Du bist so ein Glückspilz, ein umherlaufendes Gedicht. Wärst du lieber irgendeine Art von Fantasie, so ein Disney-Märchen? Willst du das? Verstehst du nicht, dass DAS HIER der beste Moment deines Lebens ist. Das ist, wonach du die ganze Zeit gesucht hast. Nun hältst du es endlich in der Hand, diesen kleinen Diamanten der Liebe, süß und traurig und nun willst du es wegschmeißen? Du hast gar nichts verstanden! [...] Schlimm ist es erst, wenn du sie vergisst, wenn sie dir egal wird, wenn dir alles egal wird. Das kommst noch früh genug, also genieße dein gebrochenes Herz, so lange du noch kannst, verdammt noch mal... Kannst du mal bitte die Hundescheiße aufsammeln? Du verdammter Glückspilz...
Mehr muss man dazu eigentlich gar nicht sagen. Es passt wie die Faust aufs Auge unserer überzogenen Erwartungshaltung ans Leben als Glücksspender. Das Leben ist alles andere als Disney-Romantik und wer als umherlaufendes Gedicht Leid und Trauer kennt, ist ein Glückspilz. Es geht dann nur noch darum, das zu erkennen.



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14. Dezember 2014

Bist du ein Segmentor oder ein Integrator?

Warum Work-Life-Balance für die meisten von uns so schwer ist

Mein ehemaliger Arbeitgeber fasziniert mich immer wieder, besonders auch in dem Feld, das dort People Operations (gemeinhin: HR) genannt wird. Das Google People Operations Team hat eine auf 100 Jahre angelegte Langzeitstudie begonnen, die nach wissenschaftlichen Standards die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeit und Arbeit untersucht und dabei Aspekte wie anhaltende Zufriedenheit und Kommunikation oder die Balance zwischen Arbeit und Freizeit untersucht. Zum Beispiel fand das Team heraus, dass die Mitarbeiter, zu deren regelmäßigen Gewohnheiten es gehört, Dankbarkeit zu empfinden und auszudrücken, langfristig und signifikant zufriedener mit ihrer Arbeit sind. Das überrascht nicht, denn dieser Zusammenhang ist schon aus anderen Lebensbereichen bekannt.

Schwer zu sagen, wo Arbeit aufhört und Freizeit anfängt (Bildlizenz: CC0 Public Domain)

7. Dezember 2014

Rasende Gedanken und 14000 Schritte im Wald

Diese Woche im Baruther Urstromtal

Was machen mit den zermarterten Ohren, den müden Augen, der überfrachteten Psyche? Weggehen! Wohin mit der in Straßenbahnen, Bussen und geschlossenen Räumen aufgestauten Energie der Beine? In den Wald! Wo kriegt die Lunge ihre Freiheit zurück, das Auge seine Farben, das Ohr sein Knacken und Rascheln? Auf ins Feld, an den See und ins Unterholz! Wie findet die Nase zurück ins Laub und hinein ins Holz, ins Moos und übers Wasser? Loslaufen, riechen! Was macht der Specht in meiner Stirn, der Eichelhäher im Baum, der laut vor mir warnt, wenn ich komme und die Kraniche, die versuchen sich unseren Blicken und der Kälte des Nordens zu entziehen? Sie heilen mich.

Kiefern auf den trockenen Dünen des Urstromtals

In der letzten Woche bin ich bei meiner Tante in Glashütte abgestiegen. Als ich nach Glashütte reinkam, empfing mich dort die 600 Jahre alte und 6 Meter starke Bosdorf Eiche. Trotz der massiven Brandschäden grünt sie jedes Jahr wieder. Glashütte selbst entstand 1716 als Glasmachersiedlung bei Baruth/Mark im Landkreis Teltow-Fläming in Brandenburg und blieb bis heute fast unberührt. Seit 1983 steht der gesamte Gemeindeteil Glashütte unter Denkmalschutz. Dementsprechend ursprünglich wirkt hier alles. Der alte Dorfkonsum mit der selbstgemachten Wildschweinwurst und dem frisch gebackenen Kürbiskernbrot, der Gasthof, die Töpferei und das Museum, alles hat sich in den denkmalgeschützten alten Häusern eingerichtet.

1. Dezember 2014

Verantwortung fürs eigene Leben? Was denn noch alles?

Wie zwei Prinzipien zum Gelingen unseres Lebens beitragen

Ein lebensphilosophisches Dilemma ist für mich die Notwendigkeit der Entlastung im Angesicht der Notwendigkeit der Entfaltung:

  1. Entlastung: Wir alle spüren immer wieder diesen Druck irgend etwas zu tun, erfolgreich zu sein, den Normen zu entsprechen. Er kommt teils aus der Gesellschaft, aus unserer Erziehung und schließlich dann von uns selbst. Ich denke immer wieder, dass wir alle es bitter nötig haben, uns von diesem Druck zu befreien. Sind wir nicht oft viel zu verkrampft, werden aggressiv und stehen unter Stress? Wir haben es doch verdient, ein Leben zu führen, in dem wir uns wohl fühlen, ohne diesen ständigen Druck, in einer Welt des gegenseitigen Verständnisses und der Liebe. Das ist die eine Seite, hier brauchen wir Entlastung.
  2. Entfaltung: Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass das Leben ein ständiges Weiterentwickeln ist, ein Besser-Werden, ein Entfalten. "Werde, der du bist", sagt Nietzsche und verbindet damit einen Anspruch an den Einzelnen, der für seine eigene Entfaltung, die nicht ohne Arbeit an ihm selbst vollzogen werden kann, verantwortlich ist. Sloterdijk nennt das in seinem Buch Du musst dein Leben ändern die Vertikalspannung, unter der wir alle stehen. In diesem Anspruch ist also doch wieder solch ein Druck zu erkennen, der potenziell zu Stress führen kann. Eine Vertikalspannung ist eben alles andere, als eine Entspannung. 

Aber wie können wir Verantwortung für unser Leben übernehmen, wie entfalten wir uns als moderne Menschen zielgerichtet, ohne den ständigen Druck zu haben, für alles Glück und Unglück im Leben verantwortlich zu sein? Diese zwei Prinzipien halte ich für zwar sehr wichtig für das moderne Leben und finde sie doch schwer in Übereinstimmung zu bringen.

Wenn ich einmal groß bin... Wer möchtest du sein? (Bildlizenz: CC0 Public Domain)

26. November 2014

Wir können nicht endlos hin- und hergebogen werden

Catherine Malabou empfiehlt Plastizität, anstatt Flexibilität


"Das Problem liegt darin, dass der Kapitalismus
den Begriff der Plastizität pervertiert, indem
er ihn mit der Flexibilität verwechselt."
(Catherine Malabou, Philosophie Magazin)

Eine Eigenschaft, die von uns als modernen Menschen offenbar mehr als jede andere erwartet wird, ist die Flexibilität. Wir sollen anpassbar sein an die Gegebenheiten, mit denen uns die moderne Gesellschaft, insbesondere im Arbeitsleben konfrontiert. Wir sollen "Ja" sagen zu Veränderungen, die oft Zumutungen sein können. Wenn Firmen von sich sagen, sie seien "flexible Unternehmen" verbirgt sich dahinter oft einfach ein Mangel an Strategie und Planung. Aber auch epochale Veränderungen wie sich global aufschaukelnden Systeme in Technik, Gesellschaft und Wirtschaft verlangen von uns eine immer größere Agilität angesichts schwindender Planungssicherheit. Als Belohnung für unsere Bereitschaft, auf Sicherheiten und Annehmlichkeiten zu verzichten, gibt es neue Chancen, Karrieren und vielleicht sogar flexible Arbeitszeiten.

"Menschen können nicht endlos hin- und hergebogen werden" (Bildlizenz: CC0 Public Domain)

Was beim Nachdenken darüber stören muss, ist die Einseitigkeit des Konzepts Flexibilität: Wir sollen auf eine sich ständig ändernde Umwelt mit Anpassung (z.B. durch neu Lernen, Verzicht oder Umzug) reagieren. Da kriegt man schon beim bloßen Zuhören ein Gefühl von ausgeliefert sein: Entweder wir reagieren flexibel auf die Anforderungen wie ein junger Grashalm auf den Wind oder sie brechen uns wie der Sturm einen alten trockenen Strohhalm. Das sind eigentlich keine akzeptablen Alternativen. Wie können wir den Wandel und unseren souveränen Umgang damit neu denken?

20. November 2014

Eine Übung für schreckliche Kinder ohne Zukunft

Peter Sloterdijk zu einer Ethik der Bewahrung

Im neusten Philosophie Magazin stellt Peter Sloterdijk im Interview fest, dass die heute Jungen in einer Technosphäre lebten, die ihren Eltern völlig unzugänglich sei. Das stimmt sicherlich nicht in jedem Einzelfall, aber in der Tendenz ist da etwas dran.

Mir fällt es immer dann auf, wenn ich im Urlaub denke, dass ich meiner Oma mal dieses tolle Bild schicken müsste und dann merke ich aber, dass wir bis zum nächsten Wiedersehen zu Weihnachten gar keinen gemeinsamen Kanal haben, auf dem ich ihr ein Bild zugänglich machen könnte. Oder wenn ich meinen Eltern zu erklären versuche, wo sie im Computer eine bestimmte Datei finden und dass der Shortcut (Verweis) auf dem Desktop nicht die Datei selbst ist und sie selbst dann bestehen bleibt, wenn der Shortcut gelöscht wird. Mir fällt auch die Angst der Älteren auf, sie könnten irgend etwas kaputt machen, wenn sie beispielsweise im Browser etwas falsch eingeben. Mir wird dann klar, dass es nicht daran liegt, dass die Älteren nicht den Umgang mit diesen Werkzeugen lernen könnten, sondern dass ihnen ganz fundamental das Verständnis zur Struktur dieser Technologie und damit das Vertrauen in sie fehlt. Der Unterschied zwischen tatsächlichen Knöpfen oder Hebeln und virtuellen Buttons oder Settings ist trotz versuchter Anlehnung in der Symbolik nicht zu überbrücken.

Mumbai: die Menschen mit ihren verständlichen Begierden sind schon da (CC0 Public Domain)

18. November 2014

Martha Nussbaum und die Gefühlswelt

Wie wir unsere innere Welt pflegen

Immer wieder finde ich es paradox, wie wir einerseits darauf stolz sind, dass wir freie und autonome Individuen sind und andererseits diese Freiheit und das Autonome nicht aushalten wollen oder damit nicht umgehen können. Was wir nicht alles erfinden, um uns von uns selbst abzulenken und nicht allein zu sein: angeblich Freunde zum Beispiel, die es mit ihren jeweiligen Mikro-Universen nur in sogenannten sozialen Netzwerken gibt oder Shopping als Freizeitbeschäftigung. Gibt es nichts sinnvolleres zu tun?


Martha Nussbaum: "Wir sind schockierend schwach und inkomplett..." (Bild von Robin Holland)

Jeder will heute zwar irgendwie als sensibel gelten, ein reiches inneres Leben haben, ein guter Zuhörer sein und auch mal nachdenklich sein dürfen. Wir bewundern eher die einsam vor sich hin schaffenden Maler, Komponisten oder Schriftsteller, als die Reden schwingenden Verkäufer von Ideen, Staubsaugern oder politischen Parteien. Aber dann müssen doch alle unbedingt in Teams arbeiten können und große Reden schwingen, um es zu etwas zu bringen. Oder Backpacking: finden wir eigentlich auch besser, als den Massentourismus. Doch dann buchen wir (als Mehrheit der Konsumenten) den Pauschalurlaub.

Es gibt diese große Angst vor dem Alleinsein. Eigenbrötler sind doch kurz vor der Klapse. Also beteiligen wir uns zumindest konsumierend am permanenten Medienrummel, fühlen uns schlecht, wenn wir keine Lust auf After Work Partys haben und schauen eigentlich immer eher nach außen, als nach innen: Was sind wir (von Beruf)? Was haben wir (uns erarbeitet)? Wie können wir unseren Status manifestieren? Was ist das nächste Ding, das wir besitzen müssen? Was dabei zu oft hinten runter fällt sind Fragen wie: Wie geht es mir eigentlich? Was will ich mit meinem Leben machen? Was tut mir gut?

Man muss diese Widersprüche nicht verurteilen, es ist irgendwie verständlich (wenn auch deswegen noch lange nicht gut), dass wir so sind, wie wir sind. Aber was vergeben wir uns damit? Worauf verzichten wir, wenn wir sozusagen selbst- und seinsvergessen einfach mitmachen, was uns vorgeschlagen wird? Was sind die Gefahren, wenn wir vor unserer inneren komplexen Gefühlswelt davonlaufen und die Fähigkeit verlieren, ihr Ausdruck zu geben und mit ihr umzugehen? Es kann passieren, dass wir Gefühle wie Angst gar nicht mehr wahrnehmen können. Im schlimmsten Fall suchen sich solche Gefühle ihren Ausweg in Aggression gegen unsere liebsten Mitmenschen oder sie finden ihre Sackgasse in der Depression.

Gerade las ich auf Brainpickings dazu einen Text der Philosophin Martha Nussbaum aus dem Buch Take My Advice. Leider liegt das Buch nur auf Englisch vor, weshalb ich folgenden kurzen Ausschnitt hier ins Deutsche übertragen habe.

Vernachlässige deine innere Welt nicht!

Das ist die erste und weitreichendste Empfehlung, die ich geben kann. Unsere Gesellschaft ist in ihrem Sehen sehr nach außen gerichtet und schaut fasziniert auf das neuste Ding, hört gern auf das letzte Geschwätz und lässt uns nach Selbstbestätigung und Status suchen. Wir alle beginnen unser Leben als hilflose Babys, von anderen abhängig, um Schutz und Nahrung, ja das Überleben schlechthin zu garantieren. Und obwohl wir im Laufe der Jahre einen gewissen Grad an Selbstständigkeit erlangen, bleiben wir trotzdem für immer schockierend schwach und inkomplett, abhängig von anderen und von einer unsicheren Welt in allem, was wir erreichen.

Während wir erwachsen werden, entwickeln wir eine breite Palette an Gefühlen, die mit diesem Notstand in enger Verbindung stehen: Wir haben Angst, dass etwas schlimmes passieren könnte, das wir selbst nicht verhindern können. Wir lieben die, die uns helfen und unterstützen können. Wir trauern, wenn wir eine geliebte Person verlieren. Wir hoffen auf eine gute Zukunft. Wir werden wütend, wenn jemand etwas beschädigt, das uns wichtig ist.

Unsere Unvollständigkeit wird durch unsere Gefühlswelt vollständig kartografiert. Eine Kreatur ohne jegliche Bedürfnisse, hätte keinen Grund, je Angst, Trauer, Hoffnung oder Wut zu empfinden. Aber aus irgend welchen Gründen sind uns unsere Gefühle und die damit verbundenen Bedürfnisse oft unangenehm. Also laufen wir vor unseren inneren Gefühlswelten davon und verlieren die Fähigkeit, ihr Ausdruck zu geben. [...] Wir alle werden mit Krankheit, Verlust und Alter umgehen müssen, aber wir sind durch eine Kultur der Äußerlichkeiten nicht besonders gut auf einen guten Umgang mit diesen inneren Herausforderungen vorbereitet.

Was hilft gegen unsere Unzulänglichkeit? 

Eine Eigenliebe kann uns helfen, die nicht vor den ärmlichen und inkompletten Teilen unseres Selbsts zurückschreckt, sondern die dieses unzulängliche Selbst mit Interesse und Neugier akzeptiert und versucht ihm eine Sprache zu geben, mit der die Bedürfnisse und Gefühle zum Ausdruck gebracht werden können. Geschichtenerzählen spielt eine große Rolle in der Entwicklung einer solchen Sprache. Wenn wir Geschichten über das Leben anderer erzählen, lernen wir uns in die Erfahrungen einzufühlen, die andere mit den verschiedenen Gegebenheiten des Lebens haben können. Wir identifizieren uns mit ihnen und ihren Gefühlen und lernen dabei etwas über uns selbst. Während wir älter werden, begegnen uns immer komplexere Geschichten - in der Literatur, im Film, in der Malerei oder Musik - die uns zu einem immer reicheren und subtileren Verständnis der menschlichen Gefühle und unserer eigenen inneren Welt verhelfen können.

Meine zweite Empfehlung, die ganz eng mit der ersten verbunden ist, lautet: Lies viele Geschichten, höre viel Musik und denk darüber nach, was diese dir dort begegnenden Geschichten für dich selbst und deine nächsten Mitmenschen bedeuten. Auf diese Art wirst du nie allein und leer sein. Du wirst ein erneuertes, reiches Innen- und Eigenleben haben, das dich auch nach außen mit einer größeren Bandbreite der Kommunikation mit anderen ausstatten kann.



Take My Advice: Letters to the Next Generation from People Who Know a Thing or Two: Der Autor James Harmon wollte inspirieren und helfen, aber nicht wie wir es von den typischen Selbsthilfebüchern und Ratgebern kennen, die seiner Meinung nach nur eine giftige Wolke lauwarmer Möchtegern-Weisheiten produzieren. Er wollte intelligent helfen. Also hat er die seiner Meinung nach inspirierendsten, provokantesten und intelligentesten Leute des 20. Jahrhunderts um Empfehlungen für die kommenden Generationen gebeten, darunter solche, die wie Judith Butler, Alain de Botton, Katharine Hepburn, Bette Davis, William S. Burroughs, Willard Van Orman Quine, Bettie Page oder eben Martha Nussbaum das eine oder andere vom Leben verstehen. Dieses Buch ist leider nur auf Englisch verfügbar.



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12. November 2014

Neue Arbeitswelt: Da schaukelt sich was auf

Wie geht Führung ohne bewährte Rezepte?

So geht es nicht mehr weiter mit Führung im Job und mit Führungskräften in den Firmen. Mit so einem Bauchgefühl ging auch ich lange durch die Gegend und dachte doch immer in den alten Maßstäben. Zum Beispiel ist eine lang gehegte Überzeugung von mir, dass Führung sehr stark auf Persönlichkeit und damit auf Führungsstil hinausläuft. Aber ist das noch so? Dazu später mehr.

Überhaupt nicht verwundert war ich, als ich letzten Mittwoch auf der New Work Night in Berlin mein Bauchgefühl bestätigt bekam: So geht's nicht weiter, sagten dort auch Managementguru Thomas Sattelberger und der Organisationspsychologe Peter Kruse, dessen redegewandte Analytik und verblüffende Statistiken schon seit Jahren über re:publica und ähnliche Plattformen die Internetgemeinde verzücken. Überrascht war ich jedoch von der Totalität des Wandels, in dem wir uns befinden. Schon im XING-Magazin spielraum vom Winter 2013/2014 sagt Kruse über die Manager: "Sie tragen die volle Verantwortung, verlieren aber zunehmend an Macht und Einfluss." (S. 44)

Prof. Kruse mit typisch-überkomplexer Folie auf der New Work Night (Foto: Gilbert Dietrich CC 4.0)

8. November 2014

Eine Kopfsache für Introvertierte

Liebe dich selbst so, als ob dein Leben davon abhängt

Patrick Hundt, ein befreundeter Blogger und bekennender introvertierter Weltreisender, hat mit Kopfsache: Liebe den Introvertierten in dir ein kleines, sehr persönliches Buch geschrieben, das den Introvertierten unter uns zeigt, was in ihnen steckt und wie sie ihre persönlichen Eigenschaften im Alltag erfolgreich einsetzen können. Ganz bewusst grenzt sich Hundt dabei von den (halb-)wissenschaftlichen Bestrebungen ab, mit denen Autoren (auch hier auf Geist und Gegenwart) den Persönlichkeitsmerkmalen Introversion und Extroversion ansonsten versuchen, zu Leibe zu rücken. Statt dessen will das Buch solchen Menschen, die sich fragen, warum sie eigentlich so "anders" sind, einen Weg zu Akzeptanz und Selbstliebe zeigen. Und das geschieht ganz pragmatisch und authentisch, indem der Autor alle Energie darauf verwendet, sich selbst mit seiner zum Rückzug neigenden Persönlichkeit anhand von interessant erzählten persönlichen Anekdoten aus seinem Arbeits-, Privat- und Reiseleben zu verstehen.

Der Autor mit seinem Buch (Bild von Patrick Hundt)

30. Oktober 2014

Richtig kündigen als wichtiger Karriereschritt

Street Art von MIR* (Foto von Jacob Bøtter via CC BY 2.0)

Trennungskultur: Wie man eine Firma (nicht) verlässt

In meinem mehr als 20-jährigen Arbeitsleben habe ich bisher dreimal gekündigt, einmal habe ich alles falsch gemacht. Aber dazu später. Als Personalmanager habe ich einiges an Kündigungen gesehen und in den meisten Fällen geht das in den Umständen entsprechend zivilisiert über die Bühne. Wenn nicht, dann ist es oft eine Führungskraft, nicht selten eine ganz oben, die den guten Stil vermissen lässt wenn Mitarbeiter gehen. Seltener sind es die Mitarbeiter selbst, die durch Kündigungen Probleme verursachen. Das liegt natürlich vor allem an der Asymetrie der Macht- und Zahlenverhältnisse und daran, dass manch Vorgesetzter es persönlich nimmt, wenn jemand "sein" Team oder "seine Firma" verlässt.

Trennungskultur ist ein großes, schweres Thema, das in vielen Firmen vernachlässigt wird. Da kann man glücklich sein, wenn es zum Onboarding noch klappt, über Offboarding machen sich die wenigsten Gedanken. Wie man sich trennt, wird wesentlich von der Unternehmenskultur bestimmt, die von oben getragen werden muss. Leider herrscht in vielen Firmen ein archaisches Konkurrenzdenken, getrieben von Neid und Missgunst gegenüber den Wettbewerbern, die nun auch noch um die Mitarbeiter konkurrieren. Anstatt sich davon inspirieren zu lassen, die Produkte und das Unternehmen weiter zu entwickeln, kommt es zu urmenschlichen Reaktionen zwischen Angst, Trotz und Aggression, wenn jemand zur Konkurrenz geht.

In solchen Umfeldern wundert es dann nicht, dass die Kollegen, die sich entscheiden zu gehen, ihren Abgang vermasseln. Und ich selbst habe bei meiner ersten Kündigung einfach den Mittelfinger gezogen, dem Chef das Werkzeug vor die Füße geschmissen und gesagt, dass ich ab morgen einfach nicht mehr komme. Damals war ich sehr jung und konnte von Glück sagen, dass der Personalleiter - ich weiß es noch wie heute: er war blind und hatte einen für die 90er Jahre ziemlich abgefahrenen PC mit Braille-Tastatur - dass also der blinde Personalleiter durch mich hindurchschaute und sagte: "Mein Junge, ich kann dich gut verstehen, aber lass uns doch die Sache ordentlich beenden." Dann setzte er einen Aufhebungsvertrag mit mir auf. An dem Tag hatte ich einiges gelernt und meine zwei nächsten Kündigungen waren stilsicher. Hier sind ein paar häufig zu beobachtende Fehler und meine Tipps, wie man statt dessen vorgehen kann:

26. Oktober 2014

Wozu überhaupt Philosophie?

Fünf Dinge, die uns töricht aus der Wäsche schauen lassen

Philosophie ist ursprünglich die Suche nach einem guten Leben. In den letzten Jahrzehnten jedoch gab es Philosophie eigentlich nur noch in der Universität. Als studierter Philosoph kenne ich die akademische Philosophie von innen. Meiner Erfahrung nach ist sie besser als ihr Ruf. Natürlich gibt es in den Universitäten solche Philosophen, deren Werke außerhalb der ehrwürdigen Mauern überhaupt nicht verstanden werden können. Ich habe allerdings auch sehr viel Praktisches für mein Leben gelernt, z.B. dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen oder wie sie uns vorgekaut werden. Ich habe den Mut zum Denken dort entdeckt und es immer schade gefunden, dass diese Philosophie nicht den Weg nach draußen in den Alltag der Menschen findet.

Es gibt inzwischen wieder einige dieser öffentlichen Philosophen, es gibt populäre Zeitschriften und Schulen philosophischer Praxis. Und allen voran gibt es Alain de Botton in London, der es sich zur Mission gemacht hat, Philosophie verständlich und für den Alltag relevant zu machen. In einem Video (siehe unten in Englisch) hat er beispielhaft zusammengefasst, was die Weisheit heute noch für uns leisten kann. Weisheit (sophia) braucht unsere liebevolle (philo) und stätige Beschäftigung, damit sie sich in unseren Alltag übersetzt und wir versuchen können, gut zu leben und - ja - auch gut zu sterben. Was ist uns verloren gegangen, seit wir die Philosophie nicht mehr im Alltag praktizieren? Die Weisheit, sagt Alain de Botton und es gibt einige Dinge, die uns besonders töricht machen. Die fünf wichtigsten haben wir hier aus dem Video übersetzt und zusammengefasst:

1. Wir stellen keine großen Fragen

Es gibt viele große Fragen: Was ist der Sinn des Lebens? Wozu gehe ich arbeiten? Wie könnte unsere Gesellschaft am besten organisiert sein? Die meisten von uns stellen sich hin und wieder solche Fragen, aber wir geben dann auf, verzweifeln vielleicht und beantworten sie nicht. Vielleicht machen wir uns sogar lustig über solche Fragen und nennen sie abgehoben. Dabei ist es extrem wichtig, dass wir solche großen Fragen ernst nehmen, denn nur mit Antworten auf diese Fragen wird es uns gelingen, unsere Energien in die richtige Richtung zu lenken.

Philosophen haben durch die Jahrhunderte solche Fragen gestellt. Große Fragen können immer in kleinere und verständlichere Einheiten runtergebrochen werden. Abgehoben ist eigentlich nur der, der meint, dass er über solchen naiv klingenden Fragen drübersteht.

18. Oktober 2014

Von freien Menschen und passiven Kunden

Was ist unser Selbstverständnis als souveräne Bürger?

Unser eigenes Verständnis von dem, was wir als Menschen sind und sein können, wird darüber mit entscheiden, wie unser Leben gelingt. Vom Erdulden der Umstände und Mitschwimmen im neusten Trend, wenn wir uns passiv verhalten bis hin zum Gestalten und Revolutionieren unseres Lebens, wenn wir es aktiv analysieren und führen. Natürlich sind wir alle mal passiv und mal aktiv, das ist ganz selbstverständlich. Passivität ist zur Orientierung wichtig, zum Auftanken und zum Genießen. Gefährlich wird es, wenn unser Selbstverständnis darauf eingeschränkt wird, dass wir als Menschen vom Konsum abgesehen eine lediglich passive Lebensform seien. Und ich meine, dass wir in einer Welt leben, die uns gern auf die Rolle als ein nur sehr eingeschränkt aktiver König-Kunde festlegt und ansonsten davon ausgeht, dass wir uns möglichst passiv verhalten.

Wo der Mensch heute noch frei sein kann (CC0)

9. Oktober 2014

Traurig sein macht glücklich

Das Leben ist okay, selbst wenn alles schief geht (Alain de Botton)


Sei positiv, Kopf hoch, lass dich nicht hängen! An sich glauben, sich permanent weiterentwickeln und bloß keine Rückschläge eingestehen, sondern immer nach vorn schauen und das beste draus machen. Das klingt doch nach uns, oder? Ich jedenfalls denke auch oft so und irgendwie hilft es mir ja auch durch die eine oder andere Krise. Im letzten Winter war ich in Südafrika und habe mir auf dem Flughafen ein Magazin mit dem Titel flow gekauft, um die Zeit zum Abflug zu überbrücken. Dieses Magazin sagt von sich selbst, voll von positiver Psychologie zu sein. Nicht wenig überrascht war ich also, als ich darin ein Interview mit dem Philosophen Alain de Botton fand, in dem er genau das Gegenteil zu dieser "Think Positive" Doktrin sagt: Gib dich deiner Negativität hin, das Leben ist nun mal wie es ist - gewöhnlich. Im Folgenden habe ich einen kurzen Auszug aus diesem in Englisch erschienen Interview übersetzt.

Traurig sein macht glücklich? Das klingt schräg!

Nur wenn du Trauer zulässt, verstehst du, dass sie ein Teil des Lebens ist. Ich mag beispielsweise die pessimistische Seite des Christentums sehr: Das Leben ist nicht perfekt, Menschen sündigen, sie scheitern und sind unvollständig. Inzwischen sind wir aber in einer Gesellschaft angekommen, die vom optimistischen Denken beherrscht wird. Wir sind ganz eingenommen von Jugend, Glück und Schönheit und das macht es uns so schwer, Scheitern, Schmerzen, Krankheit, Alter und Tod zu akzeptieren. All das stößt uns unweigerlich zu, jedoch werden wir im Umgang mit diesen Härten allein gelassen. Wir brauchen also mehr Platz im Leben für Trauer und Melancholie.


Das Leben ist nun mal wie es ist - gewöhnlich (Bild via CC gemeinfrei)

4. Oktober 2014

Weder war es noch wird es sein. Was ist es?

Präsenzbewusstsein und Dauer


"Wir erzeugen als Organismen, als Lebewesen ständig unsere eigene Zeit.
Atmend sind wir diese Zeit. Dies ist unsere elementare Weise zu sein."
(Gernot Böhme, Bewusstseinsformen, 172)


Unser Herz schlägt die Zeit. Wir atmen Dauer. Sesshū Tōyō, Japan, 1496 (gemeinfrei)

Was, wenn wir immer schneller atmen, wenn wir völlig außer Atem geraten? Das scheint mir heute immer häufiger der Fall zu sein. Wir verbringen unsere Zeit indem wir von einem Termin zum anderen rennen und auf der Arbeit messen wir die Zeit in Zielen und Milestones, von denen wir häufig mehrere parallel erreichen sollen. Was wir dafür immer weniger erleben, ist die Zeit als Dauer. Betrachten wir als Gegenentwurf das Bild oben, stellen wir uns vor, wir sind ein Teil dieses Bildes, vielleicht in den kleinen Figuren rechts. Stellt sich nicht ein großes Gefühl von Dauer ein? Aber die Zeit als Augenblick, der nicht verweilt, ist bereits in unserer abendländischen Philosophie angelegt, wie Gernot Böhme in seinem Buch Bewusstseinsformen. beschreibt:

28. September 2014

So viel Urlaub, wie du nur kannst

Von den Tücken zunehmender Freiheit bei der Arbeit

A: Wie fühlt es sich an, so frisch zurück aus dem Urlaub?
B: Komisch... Ich weiß nicht, was im Büro los ist, wichtige Projekte laufen ohne mich und alle Kollegen sind sauer, weil ich ihre E-Mails nicht beantwortet habe.
A: Klingt ja genau wie vor dem Urlaub!
B: Ja, nur dass ich jetzt weniger Urlaub habe.

Ein Witz aus alten Zeiten. Aber langsam nehmen wir Fahrt auf: Immer mehr internationale Firmen, aber auch kleinere Start-Ups und IT-Firmen in Deutschland gehen kulturell voran, demokratisieren ihre Betriebe und definieren nebenher den mündigen Mitarbeiter neu. Eine ganz frische Idee: Der Arbeitnehmer bestimmt selbst, wie viel Urlaub er machen möchte... beziehungsweise machen kann. Das wäre ein großer Schritt weg von der Bevormundung, die viele Arbeitgeber - selbst im Umfeld der Knowledge Work - heute noch für nötig halten.

Arbeit oder Urlaub? (Bild von David Reid via CC)

Wie ich immer wieder sage: Ich glaube prinzipiell daran, dass Menschen souverän und eigenverantwortlich handeln sollen. Leider konterkarieren viele Prozesse in den meisten Firmen das total. Anstatt die Mitarbeiter wie Erwachsene zu behandeln, werden sie kontrolliert, gegängelt und gemaßregelt. [...] Jeder kann ein Auto kaufen, Kinder erziehen und wählen gehen, aber niemandem trauen wir zu, eigenverantwortlich zu entscheiden, wann sie ihre Aufgaben erledigen können und wie viel Zeit sie dazu benötigen (siehe das Interview Philosophie und Führungsverantwortung, 29.06.2013).

19. September 2014

Mag ich, mag ich nicht - Freiheit trotz Facebook!

Wie unfrei und unglücklich macht uns das soziale Netzwerk?

Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu Facebook. Ich mag es, um dort Neues und Links zu interessanten Artikeln zu entdecken (obwohl sich Twitter und Google Plus viel besser dazu eignen) und ich mag es um selbst Neues aus meinem Blog zu posten. Für Geist und Gegenwart nutze ich Facebook sehr aktiv, mein privates Konto habe ich allerdings stillgelegt. Privat mag ich Facebook gar nicht. Warum? Ein Aha-Moment war für mich, als ich eines Tages auf das Profil einer ehemaligen Kollegin stieß. Ich sah mir an, was sie in den letzten Wochen dort hinterlassen hatte und es war alles toll, bunt und gute Laune. Man sah sie beim Ski-Fahren, in Restaurants, mit Freundinnen, Babys und Katzen und man musste den Eindruck haben, sie habe das beste Leben, das man sich vorstellen kann. Auf der anderen Seite kenne ich ihr "wahres" Leben und weiß, dass es schwierig ist, so wie das Leben der meisten Menschen. Dieses Schwierige hat aber auf Facebook keinen Platz. Ist ja auch klar, man will schließlich Positives zeigen, Urlaubsbilder und so weiter. Was aber macht das mit jemandem, der sich das anschaut? Ich sehe die ganzen Profile von Bekannten, die alle ein sorgenfreies Leben voller Spaß und Freude spiegeln und im Vergleich dazu sieht mein Leben mit Stress auf der Arbeit, mit Problemen in der Beziehung, vielleicht Krankheit und materiellem Verzicht ganz mies aus.



14. September 2014

Der Geist als hervorragender Diener...

...und furchtbarer Herrscher

"Alles um mich herum, so wie ich es wahrnehme,
stützt meinen tief verwurzelten Glauben, dass
ich das Zentrum dieses Universums bin,
die wahrhaftigste, lebendigste und
wichtigste Person, die existiert."
David Foster Wallace

David Foster Wallace war einer der großen einflussreichen Intellektuellen und Schriftsteller der modernen USA. Im September 2008 nahm er sich das Leben, eine schwere Depression, gegen die er zwanzig Jahre kämpfte, hatte ihn in die Knie gezwungen. Drei Jahre zuvor hielt er vor den Absolventen des Kenyon Colleges eine Rede, die inzwischen als eine Anstiftung zum Denken berühmt geworden und als Buch verlegt worden ist. Ich las diese Rede zum ersten Mal vor drei Jahren. In diesem Artikel versuche ich Wallace' Kerngedanken herauszustellen, weil sie mich nicht loslassen und ich immer wieder spüre, wie wichtig sie für mein persönliches Leben, in Zeiten der Krisen, in denen ich mit mir und meinen Mitmenschen hadere, geworden sind.


David Foster Wallace von Steve Rhodes (CC BY 2.0)

In seiner Rede vor den Studenten meint Wallace, wir würden das so zwar nicht sagen, aber tief in uns drin, sind wir von Geburt an so gepolt, dieser Ego-Illusion zu unterliegen. Alles, was in unserem Leben passiert, sagt uns, dass sich die Welt um uns herum dreht. Und die Tatsache, dass unsere eigene Gedanken uns unmittelbar zugänglich sind, während die Gedanken der anderen umständlich und mit Informationsverlust kommuniziert werden müssen, scheint uns zu zeigen, dass wir wirklich und im höchsten Grad existieren, während andere zwar auch da zu sein scheinen, aber in einer Existenz zweiten Grades, die wir nur vermittelt wahrnehmen können.

6. September 2014

Meine Reizbarkeit und Versöhnung mit der Welt

Eine etwas gereizte Untersuchung zur Aussöhnung mit der Wirklichkeit


Ich weiß nicht, ob Sie das von sich selbst kennen oder jemanden kennen, bei dem das so ist: Man schläft zu leicht, wacht schnell auf, ist enorm gestört durch die trampelnden Nachbarn über einem oder durch die Obstfliegen, die in den letzten noch einmal erwärmten Tagen vom Pflaumenbaum im Garten ihren Weg in die Küche finden. Manchmal nerven mich sogar die Vögel, wenn sie im Garten zetern. Jeder ist anders reizbar. Ich kann auch das Knistern von Plastiktüten nicht ertragen. Und elektrische Geräte wie Staubsauger oder - meine größten Feinde - die mit Benzin betriebenen Laubblasturbinen, die sich jetzt Hinz und Kunz für ihre Gärten kaufen. Weil Laub etwas Furchbares ist, das muss entfernt werden! Und ein Harke oder ein Rechen - das geht ja gar nicht. Den Arm hin und her bewegen, um Blätter in einen Haufen zu schieben ist eine unmoderne Unzumutbarkeit. Lieber setzt man sich Ohrenschützer auf und geht mit schwerem Gerät und ohrenbetäubendem Lärm gegen die gefallenen luftleichten Blätter vor. So haben auch alle Nachbarn etwas davon. Neulich war ich in den Masuren, genoss sie menschenleere Stille, als plötzlich eine Horde Verrückter auf Jet-Skis durch den davor so ruhigen See pflügten. So etwas macht mich wütend... Ich schweife ab.

Auch eine Art, sich mit der Welt zu versöhnen (Bild von Craig Sunter via Flickr CC)

Unsere Empfindlichkeit kann so weit gehen, dass wir unser Zuhause, unseren Urlaub, ja unsere ganze Umwelt und unsere Mitmenschen nicht mehr genießen können, sondern in ihrer Wahrnehmung einen störenden Reiz nach dem nächsten identifizieren. Es gibt dann keine Toleranz gegenüber "dem anderen" mehr. Jegliche "Störung" wird einem anderen Schuldigen angelastet, anstatt sich zu fragen, ob das überhaupt eine Störung ist oder ob es nicht einfach mit zum Leben gehört, Reizen und Einflüssen der Welt ausgesetzt zu sein.

27. August 2014

Es gibt einen Grund für unsere dauernde Sorge

Angekommen in der Eigentlichkeit des Seins

Warum rennen wir in diesem Hamsterrad und versuchen nur noch zu überleben? Warum macht das alles keinen Sinn mehr? Warum ist alles immer nur noch pragmatisch? Warum lernen unsere Kinder in den Schulen höchstens, wie sie einen Schulabschluss bekommen, aber nichts fürs Leben? Wo sind die ineinander greifenden Sinnbezüge unserer Lebensbereiche? Niklas Luhmann würde sagen, die einzelnen Systeme (Bildung, Wirtschaft, Kunst) differenzieren sich aus und werden immer selbstbezüglicher, haben immer weniger mit einander zu tun. Es gibt kein großes Ganzes mehr. Haben wir uns nicht in unseren pragmatischen Banalitäten verrannt, ohne noch zu sehen wozu?

Die Einbindung aller Systeme ins große Ganze war einst durch die Religionen (religio ist lateinisch für Rückbindung) gewährleistet. Durch die radikale Aufklärung haben wir jedoch dafür gesorgt, die gesellschaftlichen Teilsysteme zu entkoppeln. Und es ist uns ja auch zu Recht sehr wichtig, dass Staat und Kirche getrennt sind, dass unsere Kinder in den Schulen nicht religiös indoktriniert werden, dass wir im Gericht nicht nach den zehn Geboten oder der Scharia gerichtet werden. Das sind wichtige Errungenschaften der Zivilisation. Aber haben wir das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet?


Ohne Distanz zur Welt wird das Leben zu einer einzigen Sorge (Bild von Alon via Flickr CC)

23. August 2014

Wie wird man ein Misanthrop?

Die schönsten Arten, die Menschheit zu verachten

"Ich glaube an die Gleichheit und die
Einigkeit der gesamten Menschheit.
Wir sind alle Scheiße!" 
Bill Hicks

Einer der meistgelesenen Artikel auf Geist und Gegenwart mit über Hundert Kommentaren heißt: Misanthropie - Bin ich ein Menschenhasser? Als ich diesen Artikel im Dezember 2011 schrieb, dachte ich, das wäre ein Minderheitenthema. Es war überhaupt nicht abzusehen, dass er solch ein Erfolg werden würde. Es drängt sich die Frage auf: Warum? Ist es nicht traurig, dass sich so viele Menschen angesprochen fühlen und von sich selbst sagen, sie wären Menschenhasser?

Fuck you! (von Deemonita via CC)


Um das zu beantworten, sollte man sich anhören, was sie zu sagen haben. Viele dieser selbsterklärten Misanthropen haben seit Veröffentlichung diesen Artikel kommentiert. Erstaunlicherweise sind die allermeisten Kommentare unter dem Artikel sehr zivilisiert. Mich bestärkt das in meiner Entscheidung, auf Geist und Gegenwart auch anonyme Kommentare zuzulassen und sie vor Erscheinen nicht zu moderieren. Lediglich vier Kommentare musste ich löschen, weil sie nicht nur latent menschenverachtend (das ist ja bei dem Thema irgendwie erwartbar), sondern konkret bedrohend oder glatt verfassungsfeindlich waren. Wer sind also die Menschen, die sich selbst als Misanthropen, als Verächter der Menschheit betrachten? Und wie wird man zu einem von ihnen?

20. August 2014

Gefühle bei Menschen und anderen Tieren

Warum Gefühle so wichtig sind, warum auch Tiere verliebt sein können und warum Gefühlslosigkeit eine Krankheit ist. Ein Interview mit Prof. Dr. Kurt Kotrschal, wissenschaftlicher Leiter des Biologicum Almtal von der Kunsthistorikerin und Autorin Veronika Hofer.


Kurt Kotrschal, Gründer und Leiter des Wolfsforschungszentrums
(Fotograf: Peter Rigaud, Quelle: Christian Brandstätter Verlag)


Prof. Dr. Kurt Kotrschal lehrt an der Fakultät für Lebenswissenschaften, Department für Verhaltensbiologie an der Universität Wien. Hier beschäftigt er sich mit sozialer Organisation und der Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung. Davon zeugen auch seine Bücher wie etwa Wolf - Hund - Mensch: Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung. Seit über 24 Jahren leitet Kotrschal als Nachfolger von Konrad Lorenz die Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau im Almtal. Im Jahr 2008 hat er das Wolf Science Center mitbegründet.

16. August 2014

Warum wir nicht wissen, was wir wollen

Wie können wir heute überhaupt noch etwas wollen?


Ist es schwerer geworden, heute noch etwas zu wollen? Was ist anders geworden? Schaut man die letzten hundert Jahre zurück, so ist an die Stelle der Alternativlosigkeit des Individuums (wer König war, blieb König; wer Bauer war, bleib Bauer) heute eine Überforderung durch ein Übermaß an Optionen und Ambitionen getreten. So diagnostiziert nicht nur Sloterdijk (Die schrecklichen Kinder der Neuzeit) die heutige Tragik der Freiheit und des Überflusses, die uns ratlos fragen lässt: "Was will ich eigentlich?"

Tragik des Übermaßes an Optionen überall (Jeremy Zilar via Flickr CC)

Überfluss an Optionen und Zwang zum Optimum

Durch das Übermaß an Optionen, an noch zu verwirklichenden Lebensentwürfen, an zu bereisenden Orten, an potenziell zu treffenden erotischen Partnern, ja Übermaß sogar in der Auswahl an Waschmitteln, sehen wir uns ständig dem Zweifel gegenüber, ob wir die beste Wahl getroffen haben. Ob es nicht noch besser geht? Am Ende wollen wir gar nicht genau dieses Waschmittel, diesen Urlaub, diese Arbeit oder genau diese Frau. Statt dessen wollen wir das Beste und können uns nie sicher sein, es auch erlangt zu haben. Auf die Frage, was wir denn nun wollen, haben wir mit "das Beste" immer noch keine Antwort.

7. August 2014

Es gibt keine Identität ohne Masken

Der freie Umgang mit der Unfreiheit


Bei allem Psycho-, Coaching- und Selbstoptimierungskult, der uns zur Zeit zu überrollen und mit seinen Imperativen zu überfordern scheint, wird eines immer wieder unterschlagen: Die fundamentale Ungerechtigkeit der Verteilung von Kapazitäten, Rechten und Gütern und die damit einhergehende Unfreiheit der vielen in der Gestaltung ihres Lebens. Wenn man an diese Themen so naiv ran geht, dass eben jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, dann ist das nicht einmal die halbe Wahrheit.

Die Maske als Medium unserer Identität (Stefano Menegatti via Flickr CC)

Eine treue Leserin kommentierte meinen Artikel Jeder Mensch ist eine Fiktion (Von der Freiheit der Selbsterfindung) folgendermaßen:

30. Juli 2014

Folge deiner Angst

Von der Angst über die Wut bis zum Mut

Kennen Sie die Geschichte? Die Schlange starrte auf das Kaninchen. Das Kaninchen starrte auf die Schlange, und dann sagte das Kaninchen: "Buh!" Die Schlange zuckte zusammen und musste über das alberne Kaninchen lachen. Als die Schlange ihre Augen wieder aufmachte, war das Kaninchen weg.

Wie kann das Kaninchen seine Todesangst überwinden? Wo entsteht der Mut? Wie kann jeder von uns Zugang zu dieser Ressource erhalten? Wie können wir Mut und Angst ausbalanzieren? Und warum ist es gut, unseren Ängsten zu folgen? Diese Fragen beantwortet Ihnen heute Nadja Petranovskaja.


Mutiges Häschen (Bild von MaffersToys via Flickr CC)

Die sechs Gespenster der Angst

Wenn hier von "Angst" die Rede ist, sind die normalen menschlichen Ängste gemeint, nicht die verschiedensten Angststörungen und extreme Angstzustände. Viele Wissenschaftler haben sich bereits mit dem Begriff "Angst" auseinander gesetzt. Napoleon Hill, einer der Väter der amerikanischen Selbsthilfe-Szene, hat in seinem Buch Denke (nach) und werde reich die sechs Gespenster der Angst beschrieben, und auch wenn sein Buch sich primär dem Unternehmertum widmet, so sind doch diese sechs Gespenster allgegenwärtig in jeder Stadt dieser Welt. Diese lauten:

  1. Angst vor Armut
  2. Angst vor Kritik
  3. Angst vor Krankheit
  4. Angst vor Liebesverlust
  5. Angst vor dem Alter und
  6. Angst vor dem Sterben

Diese sechs Ängste, so Hill, bestimmen unser Leben. Einen Großteil unseres Tages verbringen wir damit, alles zu tun, um nicht zu sterben. Wir verdienen Geld, um Dach über dem Kopf, Kühlschrank und Essen im Kühlschrank bezahlen zu können. Auch die Angst vor Armut und Krankheit spielen hier mit rein, besonders wenn wir uns um den beruflichen Erfolg und Gesundheit kümmern.

26. Juli 2014

Was ist dran am Mythos von Genie und Wahnsinn?

Geister zwischen Kreativität und Psychose

Anders, als wir uns gern glauben machen, vertragen sich Kreativität und psychische Störungen nicht ohne weiteres. Mein Verdacht ist, dass wir als durchschnittlich begabte Menschen das Haar in der Suppe der überdurchschnittlich Begabten suchen. Da fällt es leicht, sie als etwas sonderbar hinzustellen und zu glauben, dass sie nicht ganz richtig im Kopf sind. Wir sind dann lieber "gesund" und dafür weniger kreativ.

Kreativität und Wahnsinn haben einiges gemein (Bild von figlioDiOrfeo via Flickr CC)

Die amerikanische Psychiaterin und Neurowissenschaftlerin Nancy Andreasen beschreibt in ihrem Buch The Creating Brain: The Neuroscience of Genius die viel komplexeren Zusammenhänge, die hinter der kreativen Psyche und dem Wahn stehen. Dabei wird deutlich, dass psychische Störungen wie Schizophrenie oder Depressionen dem kreativen Schaffen etwa in der Literatur oder auch in den Wissenschaften eher im Wege stehen. Wer beispielsweise unter Schizophrenie leidet, wird kognitiv zu "durcheinander" sein, um etwas sinnvolles hervorzubringen. Für viele kreative Arbeiten wie das Schreiben benötigen wir einen Geist, der ordnen, strukturieren und konstruieren kann. Schizophrenie kann zwar zu künstlerischen Tätigkeiten passen, die auf plötzliche Eingebungen bauen, sie passt aber nicht zu konzeptionellen Arbeiten. Häufig seien laut Andreasen unter den konzeptionell Kreativen jedoch affektive Störungen wie Depressionen oder Manien zu beobachten.

16. Juli 2014

Der edle Bruder Neid

Mit Nietzsche lernen, den Neid zu nutzen


"Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd begründet ist, entsteht jener, im ganzen als unmoralisch geltende Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre: der Neid. Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des anderen über das gemeinsame Maß und will ihn bis dahin herabdrücken – oder sich bis dorthin erheben: woraus sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse und die gute Eris bezeichnet hat." (Nietzsche: Der Wanderer und sein Schatten)


Noch nicht ganz angekommen: Auf dem Weg nach oben.  (Foto: John and Christina via Flickr)

Neid gilt in unserer Gesellschaft gemeinhin als verwerfliche Gefühlsregung, die nur zu Missgunst, Zank und am Ende Totschlag führt. Die Griechen nannten das "Eris": Die Göttin der Zwietracht, die durch ihre Intrigen unter anderem den Trojanischen Krieg heraufbeschwörte. Aber bereits der antike Dichter Hesiod kannte eine zweite Eris, eine die den Menschen antreibt und zu Höherem streben lässt. Diese zwei Zwillingsschwestern kehren in Nietzsches Wanderer und sein Schatten als der "Neid und sein edlerer Bruder" wieder.

3. Juli 2014

Bin ich ein weiser Mensch?

Eine "Anleitung" zur Weisheit in 10 Punkten

Weise werden, das wollen wir alle irgendwie. Durch den eigenen Lebensweg die Ruhe finden, abgeklärt sein, nicht mehr mithetzen, sondern aus der Distanz beobachten und vielleicht kluge Ratschläge geben. Irgendwie ist es aber auch immer aufgeschoben: Alte Männer sind weise, altersweise. Alt und weise - das scheint nichts für uns mitten im Leben zu sein. Oder doch? Die School of Life von Alain de Botton verfolgt eine ganz pragmatische Idee der Weisheit im Alltag, von der ich mich hier inspirieren lies. Auch wenn wir nie vollkommen weise werden können, kann uns das Konzept der Weisheit als ein Fluchtpunkt im Leben den Weg zu einem bewussteren und glücklicheren Leben weisen. Was also ist Weisheit, wodurch zeichnen sich weise Menschen aus?

Unbenannt
Klischee von der Weisheit (Bild: Peter via Flickr CC)

29. Juni 2014

Verführt, benutzt und fallen gelassen

Wie wir Manipulationen erkennen und ihnen begegnen können

In Abwandlung eines bekannten Diktums der Kommunikationstheorie müsste man sagen: Wir können nicht nicht manipulieren. Fast immer, wenn wir kommunizieren, haben wir etwas im Hinterkopf, wollen etwas erreichen oder jemanden von etwas überzeugen. Es bedarf einer ganz anderen Bewusstseinsform, wenn man das ablegen will, man müsste sich davon verabschieden, überhaupt noch etwas zu wollen. Es ist also normal, dass unser Partner, unsere Kollegen oder der Chef uns zu etwas bewegen wollen, das in ihrem Interesse ist. Hoffentlich ist es aber auch in unserem Interesse. Dass wir hin und wieder jemanden in seinem Verhalten manipulieren, kann vorkommen und gehört in einem gewissen Rahmen zum sozialen Austausch. Es gibt aber auch Menschen, deren soziale Interaktion zu großem Teil auf Verführung und Manipulation beruht. Oft sind es sehr interessante, charismatische Menschen, denen es gelingt, uns sehr geschickt für ihre Zwecke einzuspannen. Wir selbst drohen dabei, auf der Strecke zu bleiben.


Manipuliert und verführt? (Quelle: Victoria Nevland via Flickr CC)

17. Juni 2014

Sieben Gründe für unsere Unzufriedenheit im Job

Warum wir in unserem Arbeitsleben oft unglücklich sind

Die Arbeit ist bei den meisten von uns ein großer Teil des Lebens. Man kann es sich eigentlich nicht leisten, damit unglücklich zu sein. Und doch akzeptieren wir dieses Unglück allzu oft. Der britische Philosoph Alain de Botton hat in seinem Book of Life Gründe für die Unzufriedenheit und Wege zur Zufriedenheit im Beruf analysiert. Erst, wenn wir die Gründe verstehen, können wir auch etwas gegen den Frust tun.

preparing for a date with misery
Krawatte statt Seele? (Quelle: Gilbert Rodriguez via Flickr CC)

Mit ziemlicher Sicherheit sind Sie einigermaßen frustriert bei der Arbeit. In einer perfekten Welt sollte Arbeit uns so viel positives geben können: eine Berufung und das Gefühl von Errungenschaft, Sinnstiftung, ein Zusammengehörigkeitsgefühl und sogar Freundschaften. Aber eigentlich geht immer etwas schief: Unsere wahren Talente werden nicht erkannt und eingesetzt, die Firma scheint uns nicht würdig, unsere Lebenszeit für sie zu opfern, die täglichen Aufgaben erscheinen trivial, aber stressig und viele im Management sind große kindische Tyrannen, wie wir sie noch im Kleinformat aus dem Buddelkasten kennen.

Oft geben wir uns selbst voreilig die Schuld für diese Misere: Unsere Berufswahl war nicht durchdacht, sondern impulsiv, wir sind eitel und faul und wir haben nicht den Drive unseres ehemaligen Klassenkameraden, der inzwischen ein kleines Imperium führt. Trotz einiger Wahrheit, die vielleicht in unserer Selbstverurteilung liegt, viele Faktoren, die zum Versanden unserer Träume führen, liegen gar nicht innerhalb unserer Kontrolle und Macht, sondern haben ihre wesentlichen Gründe in den Strukturen unserer Anstellungs- und Wirtschaftsverhältnisse. Uns nur selbst dafür verantwortlich zu machen, bedeutet, dass wir diese gesellschaftlichen Realitäten missverstehen. Hier sind einige dieser Faktoren, auf die unsere Frustation im Arbeitsalltag zurück zu führen ist:

15. Juni 2014

Die lange Nacht der Philosophie

Jenseits einer systematischen Wald- und Schreibtischphilosophie

Die lange Nacht der Philosophie in der Wahrnehmung des deutschen Medien- und Event-Publikums scheint vorbei zu sein. Diesen Eindruck hatte ich zumindest gleich, als ich mich durch die überfüllten Flure, Treppen und Räume des Institut Français in Berlin quetschte, das zum ersten Mal nach vergleichbaren Veranstaltungen in Paris und London solch ein Event in Deutschland veranstaltete. Es war dermaßen voll, dass ich mit meiner Begleiterin erst einmal in die Brasserie ging, um Flammkuchen zu essen und mit unseren Nachbarn rechts und links über das Reisen, die Philosophie und die französische Küche zu reden.


31. Mai 2014

Dienst nach Vorschrift und Leben nach dem Herzen

Ein paar Gedanken aus dem Urlaub -

für die man aber nicht extra Urlaub nehmen muss


"Zwischen Verlangen und Bedauern gibt es einen Punkt, der Gegenwart heißt." 
Sylvain Tesson, In den Wäldern Sibiriens (S. 162)

Burnout
Burnout (Bild von Jan-Joost Verhoef via Flickr CC)

Ich gähne, gähne und gähne. Wieder, wieder und immer wieder. Es ist der zweite Tag meines Urlaubs. Warum wir gähnen, ist nicht geklärt. Es gibt zahllose Theorien von Sauerstoffmangel über Drohgebärde bis hin zur Gehirnkühlung. In einem sind sich alle Theorien einig: Das Gähnen zeigt ein Umschalten von einem Zustand in einen anderen an. Von wach zu müde (oder umgekehrt), vom Interesse zur Langeweile, vom Stress zur Entspannung (oder umgekehrt). Heute, am vierten Tag meines Urlaubs ist das exzessive Gähnen verschwunden und die Gedanken an die Arbeit werden immer seltener und verblassen emotional. Die Themen und Zustände, die mich in den letzten Wochen noch gestresst haben, sind zwar immer noch in dieser Welt und ich werde auch zu ihnen zurückkehren, aber sie haben weniger bis kaum noch irgend eine Macht über mich. Statt dessen reift eine Erkenntnis...

25. Mai 2014

Unsere Heiterkeit kennt kein Übermaß

Bubble Joy
Alles, was Lust macht, ist gut (Bubble Joy von Davide Gabino via Flickr CC)

Gut ist, was Lust macht

Es gibt ganz fundamentale Gegensätze in unserem Leben: Spaß/Horror, Gut/Schlecht, Lust/Unlust usw. Wir sind sozusagen gespalten. Warum ist das so? Vom Menschen sagt Alexander Kluge in Die Lebensbahn des Zwerchfells: Sein Kopf, das Herz, die Atmung ziehen nach oben, zum Höheren. Das Niedere - die Verdauungsorgane, die Geschlechtsorgane, die Beine - verbindet ihn mit der natürlichen Welt. Und was liegt dazwischen? "Weder auf die Kommandos von oben noch auf die von unten wirklich hörend, ein starker Muskel: das Zwerchfell..."¹ Und in der Tat scheint auch der aufs Zwerchfell zielende Humor die Entladung der Spannungen zwischen Gegensätzen zu ermöglichen. Im Interview in der Epilog, sagt Alexander Kluge:

Jedes Baby will die Kugel, die ihm vorgeführt wird, greifen. Wir wollen zur Wirklichkeit hin, und wir wollen, wenn uns Wirklichkeit schädigt und Angst macht, von ihr weg. Diese Gefühle können Sie nicht trennen. Das ist der Antagonismus des Gefühls. Das ist eine Revolte der menschlichen Empfindung gegen die Wirklichkeit. Hier liegt die Quelle des Witzes, das ist aber gleichzeitig auch sehr ernst.²

Dieser grundlegende Antagonismus ist in der Philosophie vielfach beschrieben. Baruch de Spinoza beschrieb schon im 17. Jahrhundert sehr fern von jeder Moralisierung mit Lust und Unlust das Grundprinzip der Lebenserhaltung: Wir streben zur Lust, die uns zur Selbsterhaltung führt und weg von der Unlust, die eine verringerte Selbsterhaltungsfähigkeit anzeigt. Als Beispiel der Hunger: Er bereitet uns Unlust, wir werden sogar launisch und aggressiv, wenn er andauert. Essen und Trinken jedoch bereiten uns Lust und dienen der Selbsterhaltung. Über erotische Triebe muss man gar nicht reden, denn sie sorgen über die Selbsterhaltung hinaus für die Arterhaltung. Alles, was Lust macht, ist gut.

Erkenntnis ist lustvoll

Das Zusammendenken von Körper und Geist (oder Leib und Seele) als zwei Aspekte eines Wesens macht neben dem Verzicht auf Moralisierung Spinoza so modern. Er wollte "geometrisch über Unfreiheit und Freiheit, das gelingende und misslingende Leben, über Schmerz, Trübsal, Lust und Liebe nachdenken", so Michael Hampe in Spinoza und die Lebenslust im neuen Philosophie Magazin. Das heißt, anstatt über das menschliche Verhalten moralisch zu urteilen, will er es nach den Gesetzen der Natur wissenschaftlich untersuchen. Nach diesem aufklärerischen Verständnis ist Lust gut, denn sie hilft uns bei der Selbsterhaltung als grundlegendes Streben jedes natürlichen Wesens.

Doch um uns dem auszusetzen, was für uns gut ist, müssen wir wissen, was für Individuen wir sind. Wir müssen wissen, was in der Welt unser Tätigkeitsvermögen steigert. Selbsterkenntnis und Welterkenntnis können unsere Lust steigern. Überhaupt sind wir, wenn wir erkennen, tätig, und wenn wir dabei Neues herausbekommen, steigern wir unsere Selbsterhaltungsfähigkeiten und empfinden Lust.*

Spinoza ist kein reiner Hedonist: Auch Lust kennt ein Übermaß, besonders dann, wenn wir sie isoliert auf bestimmte körperliche Regionen oder Zustände beschränken. Die Grenze von Lust zu Sucht und damit zu Unlust ist fließend. Bei einem Lusterleben, das den Exzess zur Normalität erhebt und uns in die Sucht und Unlust treibt, bleibt die Erkenntnis dessen auf der Strecke, was dem Triumph der Lust über die Unlust dauerhaft dient.

Die Heiterkeit (hilaritas), die eine Form der Lust ist, hat jedoch niemals ein Übermaß, so Spinoza. Denn in der Heiterkeit werden alle Teile des Körpers in ihrer Fähigkeit, tätig zu sein, gesteigert. [...] Es ist die Heiterkeit und nicht die erotische Ekstase, die die absolute Lust Spinozas darstellt. Sie ist immer gut, birgt kein Suchtpotenzial. Es mag sein, dass die Intensitäten der fokussierten Lust oder Unlust, eines organisch fixierbaren Hochgenusses oder Schmerzes viel größer sind als jede Heiterkeit und jede Melancholie. Doch wenn wir uns auf das konzentrieren, was unser Wesen ausmacht: unsere Fähigkeit, uns als Individuen zu erhalten, dann sind diese den Gesamtzustand betreffenden Lüste und Unlüste die relevanten Zustände.³

Was mir hier auffällt ist auch noch eine andere Modernität: Die frühe Vorwegnahme unserer heutigen Obsession auf das individuelle, das Ich, das es gegen alles andere zu erhalten gelte. Aber sicher wäre es ein Missverständnis, wenn wir Spinozas Selbsterhaltung als Egoismus lesen. Denn auch hier greift die Erkenntnis der großen Zusammenhänge als Voraussetzung zu Lust und Heiterkeit: Ohne Du kein Ich, ohne Wir kein Individuum.

Liebe stellt sich da ein, wo die Ursache eines Lustzustandes betrachtet wird. Wenn wir uns selbst und die Welt richtig erkennen, so bereitet das Lust. Wenn wir den Zusammenhang zwischen uns und der Welt erkennen, so bereitet das noch mehr Lust.

[...]

Das glückliche Leben ist lustvoll, weil es von der Liebe zu den unpersönlichen Strukturen der Natur bestimmt ist.³

Was ist nun mit dem Zwerchfell? Ist es die Grenze zwischen Mensch und Tier? Dieser Muskel, den wir benötigen, um aufrecht zu gehen und der auf der anderen Seite unkontrollierbaren Spasmen ausgeliefert ist, wenn wir gekitzelt oder über alle Maßen belustigt werden. Der Mensch - so Helmut Plessner4 - kommt im Lachen an seine Grenzen, er verliert die Kontrolle und damit das, was ihn als Menschen auszeichnet. Wie ein Tier ist er im Lachen seinen Affekten ausgeliefert. Die Heiterkeit hingegen ist kein Lachen, sondern ein auf Dauer gestelltes Arrangieren und Verstehen des Menschen in seiner Umwelt. Kontrollverlust wie Lachen, gelegentliche Exzesse des Genusses oder die erotische Ekstase gehören aber dazu. Denken wir nächstens mal dran: Gut ist, was uns Lust macht.



1) Alexander Kluge: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten
2) Die Epilog, Heft 04: "Ich beabsichtige das gar nicht."
3) Michael Hampe in Spinoza und die Lebenslust im Philosophie Magazin Nr. 4 / 2014 | Das Ich-Syndrom
4) Die Epilog, Heft 04: Der Sinn des Lachens — Helmuth Plessner entdeckt den Ursprung des Menschen von Maybrit Hillnhagen

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16. Mai 2014

Zuflucht zu den inneren Wäldern

Rückzug in die Einsamkeit als Form des Widerstandes


Cottage in the woods
Sibirien: Cottage in the Woods (Bild von Igor via Flickr, Lizenz: CC)

Der moderne Kapitalismus ist ein enorm anpassungsfähiges Untier. Im Survival of the Fittest ist er der Gewinner unter den Staatsformen. Jede noch so subversive Aktion wird dankbar von ihm aufgenommen. Gestärkt geht der Kapitalismus aus allen Konfrontationen mit seinen Gegnern hervor, er liebt seine Gegner und macht sie zu Geld. Punkmusik und Banksy verkaufen sich prächtig. Der Staat lacht mit seinen Kabarettisten, wo andere Staatsformen sie wegschließen. Und je heruntergekommener ein Stadtbezirk, desto schöner seine Gentrifizierung. Man fragt sich, ob dieses amöbenartige Einverleiben alles Widerstandes eine Grenze findet. Kann man überhaupt etwas subversives tun? Gibt es ein richtiges Leben in einer falschen Welt? In Sylvain Tessons Buch In den Wäldern Sibiriens fand ich dazu folgende Stelle:

"In der Stadt bezahlen der Liberale, der Linke, der Revolutionär wie der Großbürger ihr Brot, ihr Benzin und ihre Steuern. Der Einsiedler dagegen bittet den Staat um nichts und gibt ihm nichts. Er vergräbt sich in den Wäldern und entnimmt ihnen, was er braucht. Sein Rückzug stellt für die Regierung einen Gewinnausfall dar. Zum Gewinnausfall zu werden, sollten die Revolutionäre sich zum Ziel setzen. Eine Mahlzeit aus gebratenem Fisch und im Wald gepflückten Blaubeeren ist staatsfeindlicher, als eine mit schwarzen Fahnen gespickte Demonstration. Diejenigen, die die Zitadelle sprengen wollen, brauchen die Zitadelle. Sie sind gegen den Staat in dem Sinne, dass sie sich gegen ihn lehnen. Walt Whitman: »Aber in Wahrheit bin ich weder für noch gegen Institutionen (Was überhaupt habe ich mit ihnen gemein? oder was mit ihrer Zerstörung?)« [...]

Rückzug ist Revolte. In eine Hütte zu ziehen bedeutet, von den Kontrollschirmen zu verschwinden. Der Einsiedler löscht sich. Er sendet keine digitalen Spuren mehr, keine Telefonsignale, keine Bankkartenimpulse. Er entledigt sich jeder Identität. Er praktiziert ein umgekehrtes Hacking, er tritt aus dem großen Spiel aus. Es ist im Übrigen keineswegs notwendig, dafür in den Wald zu gehen. Der revolutionäre Asketismus wird auch im urbanen Kontext geübt. Die Konsumgesellschaft bietet die Wahl, danach zu handeln. Etwas Disziplin genügt. In der Welt des Überflusses steht es den einen frei, als Fettkloß zu leben, den anderen aber, Mönch zu spielen und ihr Dasein abgemagert im Gemurmel der Bücher zu führen. Letztere nehmen Zuflucht zu den inneren Wäldern, ohne ihre Wohnung zu verlassen. "

Nun kann eben wirklich nicht jeder in eine Hütte am Ural ziehen. Und außerdem wollen das auch nur die wenigsten. Warum? Nun: Ich empfehle das Buch von Tesson zu lesen, dann kriegt man von ganz allein kalte Füße. Aber wir haben eben doch die Wahl: Wenn es nicht die Wälder der Wildnis sind, in die wir uns zurückziehen können, dann wenigstens die inneren Wälder, die wir oft aber auch erst wieder entdecken müssen (wo sie nicht schon abgeholzt sind).

Ich traf Sylvain Tesson in Leipzig im Institut Français im Rahmen der diesjährigen Buchmesse. Tesson ist ein sehr ruhiger, witziger Mensch, sehr politisch interessiert und trotzdem ein Naturmensch, der auch die deutsche Philosophie - immer mit einer gewissen ironischen Distanz - liebt: "Schopenhauer in Sibirien hat noch einmal eine ganz andere Brutalität." Wer diesen Mix - Humor, Politik, Literatur, Natur und Philosophie - interessant findet, dem lege ich ganz dringend das Buch In den Wäldern Sibiriens: Tagebuch aus der Einsamkeit ans Herz. Tesson steht der nordamerikanischen Tradition des Nature Writings in absolut nichts nach. Für mich ist er meine literarische Entdeckung des Jahres.



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