26. November 2014

Wir können nicht endlos hin- und hergebogen werden

Catherine Malabou empfiehlt Plastizität, anstatt Flexibilität


"Das Problem liegt darin, dass der Kapitalismus
den Begriff der Plastizität pervertiert, indem
er ihn mit der Flexibilität verwechselt."
(Catherine Malabou, Philosophie Magazin)

Eine Eigenschaft, die von uns als modernen Menschen offenbar mehr als jede andere erwartet wird, ist die Flexibilität. Wir sollen anpassbar sein an die Gegebenheiten, mit denen uns die moderne Gesellschaft, insbesondere im Arbeitsleben konfrontiert. Wir sollen "Ja" sagen zu Veränderungen, die oft Zumutungen sein können. Wenn Firmen von sich sagen, sie seien "flexible Unternehmen" verbirgt sich dahinter oft einfach ein Mangel an Strategie und Planung. Aber auch epochale Veränderungen wie sich global aufschaukelnden Systeme in Technik, Gesellschaft und Wirtschaft verlangen von uns eine immer größere Agilität angesichts schwindender Planungssicherheit. Als Belohnung für unsere Bereitschaft, auf Sicherheiten und Annehmlichkeiten zu verzichten, gibt es neue Chancen, Karrieren und vielleicht sogar flexible Arbeitszeiten.

"Menschen können nicht endlos hin- und hergebogen werden" (Bildlizenz: CC0 Public Domain)

Was beim Nachdenken darüber stören muss, ist die Einseitigkeit des Konzepts Flexibilität: Wir sollen auf eine sich ständig ändernde Umwelt mit Anpassung (z.B. durch neu Lernen, Verzicht oder Umzug) reagieren. Da kriegt man schon beim bloßen Zuhören ein Gefühl von ausgeliefert sein: Entweder wir reagieren flexibel auf die Anforderungen wie ein junger Grashalm auf den Wind oder sie brechen uns wie der Sturm einen alten trockenen Strohhalm. Das sind eigentlich keine akzeptablen Alternativen. Wie können wir den Wandel und unseren souveränen Umgang damit neu denken?

20. November 2014

Eine Übung für schreckliche Kinder ohne Zukunft

Peter Sloterdijk zu einer Ethik der Bewahrung

Im neusten Philosophie Magazin stellt Peter Sloterdijk im Interview fest, dass die heute Jungen in einer Technosphäre lebten, die ihren Eltern völlig unzugänglich sei. Das stimmt sicherlich nicht in jedem Einzelfall, aber in der Tendenz ist da etwas dran.

Mir fällt es immer dann auf, wenn ich im Urlaub denke, dass ich meiner Oma mal dieses tolle Bild schicken müsste und dann merke ich aber, dass wir bis zum nächsten Wiedersehen zu Weihnachten gar keinen gemeinsamen Kanal haben, auf dem ich ihr ein Bild zugänglich machen könnte. Oder wenn ich meinen Eltern zu erklären versuche, wo sie im Computer eine bestimmte Datei finden und dass der Shortcut (Verweis) auf dem Desktop nicht die Datei selbst ist und sie selbst dann bestehen bleibt, wenn der Shortcut gelöscht wird. Mir fällt auch die Angst der Älteren auf, sie könnten irgend etwas kaputt machen, wenn sie beispielsweise im Browser etwas falsch eingeben. Mir wird dann klar, dass es nicht daran liegt, dass die Älteren nicht den Umgang mit diesen Werkzeugen lernen könnten, sondern dass ihnen ganz fundamental das Verständnis zur Struktur dieser Technologie und damit das Vertrauen in sie fehlt. Der Unterschied zwischen tatsächlichen Knöpfen oder Hebeln und virtuellen Buttons oder Settings ist trotz versuchter Anlehnung in der Symbolik nicht zu überbrücken.

Mumbai: die Menschen mit ihren verständlichen Begierden sind schon da (CC0 Public Domain)

18. November 2014

Martha Nussbaum und die Gefühlswelt

Wie wir unsere innere Welt pflegen

Immer wieder finde ich es paradox, wie wir einerseits darauf stolz sind, dass wir freie und autonome Individuen sind und andererseits diese Freiheit und das Autonome nicht aushalten wollen oder damit nicht umgehen können. Was wir nicht alles erfinden, um uns von uns selbst abzulenken und nicht allein zu sein: angeblich Freunde zum Beispiel, die es mit ihren jeweiligen Mikro-Universen nur in sogenannten sozialen Netzwerken gibt oder Shopping als Freizeitbeschäftigung. Gibt es nichts sinnvolleres zu tun?


Martha Nussbaum: "Wir sind schockierend schwach und inkomplett..." (Bild von Robin Holland)

Jeder will heute zwar irgendwie als sensibel gelten, ein reiches inneres Leben haben, ein guter Zuhörer sein und auch mal nachdenklich sein dürfen. Wir bewundern eher die einsam vor sich hin schaffenden Maler, Komponisten oder Schriftsteller, als die Reden schwingenden Verkäufer von Ideen, Staubsaugern oder politischen Parteien. Aber dann müssen doch alle unbedingt in Teams arbeiten können und große Reden schwingen, um es zu etwas zu bringen. Oder Backpacking: finden wir eigentlich auch besser, als den Massentourismus. Doch dann buchen wir (als Mehrheit der Konsumenten) den Pauschalurlaub.

Es gibt diese große Angst vor dem Alleinsein. Eigenbrötler sind doch kurz vor der Klapse. Also beteiligen wir uns zumindest konsumierend am permanenten Medienrummel, fühlen uns schlecht, wenn wir keine Lust auf After Work Partys haben und schauen eigentlich immer eher nach außen, als nach innen: Was sind wir (von Beruf)? Was haben wir (uns erarbeitet)? Wie können wir unseren Status manifestieren? Was ist das nächste Ding, das wir besitzen müssen? Was dabei zu oft hinten runter fällt sind Fragen wie: Wie geht es mir eigentlich? Was will ich mit meinem Leben machen? Was tut mir gut?

Man muss diese Widersprüche nicht verurteilen, es ist irgendwie verständlich (wenn auch deswegen noch lange nicht gut), dass wir so sind, wie wir sind. Aber was vergeben wir uns damit? Worauf verzichten wir, wenn wir sozusagen selbst- und seinsvergessen einfach mitmachen, was uns vorgeschlagen wird? Was sind die Gefahren, wenn wir vor unserer inneren komplexen Gefühlswelt davonlaufen und die Fähigkeit verlieren, ihr Ausdruck zu geben und mit ihr umzugehen? Es kann passieren, dass wir Gefühle wie Angst gar nicht mehr wahrnehmen können. Im schlimmsten Fall suchen sich solche Gefühle ihren Ausweg in Aggression gegen unsere liebsten Mitmenschen oder sie finden ihre Sackgasse in der Depression.

Gerade las ich auf Brainpickings dazu einen Text der Philosophin Martha Nussbaum aus dem Buch Take My Advice. Leider liegt das Buch nur auf Englisch vor, weshalb ich folgenden kurzen Ausschnitt hier ins Deutsche übertragen habe.

Vernachlässige deine innere Welt nicht!

Das ist die erste und weitreichendste Empfehlung, die ich geben kann. Unsere Gesellschaft ist in ihrem Sehen sehr nach außen gerichtet und schaut fasziniert auf das neuste Ding, hört gern auf das letzte Geschwätz und lässt uns nach Selbstbestätigung und Status suchen. Wir alle beginnen unser Leben als hilflose Babys, von anderen abhängig, um Schutz und Nahrung, ja das Überleben schlechthin zu garantieren. Und obwohl wir im Laufe der Jahre einen gewissen Grad an Selbstständigkeit erlangen, bleiben wir trotzdem für immer schockierend schwach und inkomplett, abhängig von anderen und von einer unsicheren Welt in allem, was wir erreichen.

Während wir erwachsen werden, entwickeln wir eine breite Palette an Gefühlen, die mit diesem Notstand in enger Verbindung stehen: Wir haben Angst, dass etwas schlimmes passieren könnte, das wir selbst nicht verhindern können. Wir lieben die, die uns helfen und unterstützen können. Wir trauern, wenn wir eine geliebte Person verlieren. Wir hoffen auf eine gute Zukunft. Wir werden wütend, wenn jemand etwas beschädigt, das uns wichtig ist.

Unsere Unvollständigkeit wird durch unsere Gefühlswelt vollständig kartografiert. Eine Kreatur ohne jegliche Bedürfnisse, hätte keinen Grund, je Angst, Trauer, Hoffnung oder Wut zu empfinden. Aber aus irgend welchen Gründen sind uns unsere Gefühle und die damit verbundenen Bedürfnisse oft unangenehm. Also laufen wir vor unseren inneren Gefühlswelten davon und verlieren die Fähigkeit, ihr Ausdruck zu geben. [...] Wir alle werden mit Krankheit, Verlust und Alter umgehen müssen, aber wir sind durch eine Kultur der Äußerlichkeiten nicht besonders gut auf einen guten Umgang mit diesen inneren Herausforderungen vorbereitet.

Was hilft gegen unsere Unzulänglichkeit? 

Eine Eigenliebe kann uns helfen, die nicht vor den ärmlichen und inkompletten Teilen unseres Selbsts zurückschreckt, sondern die dieses unzulängliche Selbst mit Interesse und Neugier akzeptiert und versucht ihm eine Sprache zu geben, mit der die Bedürfnisse und Gefühle zum Ausdruck gebracht werden können. Geschichtenerzählen spielt eine große Rolle in der Entwicklung einer solchen Sprache. Wenn wir Geschichten über das Leben anderer erzählen, lernen wir uns in die Erfahrungen einzufühlen, die andere mit den verschiedenen Gegebenheiten des Lebens haben können. Wir identifizieren uns mit ihnen und ihren Gefühlen und lernen dabei etwas über uns selbst. Während wir älter werden, begegnen uns immer komplexere Geschichten - in der Literatur, im Film, in der Malerei oder Musik - die uns zu einem immer reicheren und subtileren Verständnis der menschlichen Gefühle und unserer eigenen inneren Welt verhelfen können.

Meine zweite Empfehlung, die ganz eng mit der ersten verbunden ist, lautet: Lies viele Geschichten, höre viel Musik und denk darüber nach, was diese dir dort begegnenden Geschichten für dich selbst und deine nächsten Mitmenschen bedeuten. Auf diese Art wirst du nie allein und leer sein. Du wirst ein erneuertes, reiches Innen- und Eigenleben haben, das dich auch nach außen mit einer größeren Bandbreite der Kommunikation mit anderen ausstatten kann.



Take My Advice: Letters to the Next Generation from People Who Know a Thing or Two: Der Autor James Harmon wollte inspirieren und helfen, aber nicht wie wir es von den typischen Selbsthilfebüchern und Ratgebern kennen, die seiner Meinung nach nur eine giftige Wolke lauwarmer Möchtegern-Weisheiten produzieren. Er wollte intelligent helfen. Also hat er die seiner Meinung nach inspirierendsten, provokantesten und intelligentesten Leute des 20. Jahrhunderts um Empfehlungen für die kommenden Generationen gebeten, darunter solche, die wie Judith Butler, Alain de Botton, Katharine Hepburn, Bette Davis, William S. Burroughs, Willard Van Orman Quine, Bettie Page oder eben Martha Nussbaum das eine oder andere vom Leben verstehen. Dieses Buch ist leider nur auf Englisch verfügbar.



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12. November 2014

Neue Arbeitswelt: Da schaukelt sich was auf

Wie geht Führung ohne bewährte Rezepte?

So geht es nicht mehr weiter mit Führung im Job und mit Führungskräften in den Firmen. Mit so einem Bauchgefühl ging auch ich lange durch die Gegend und dachte doch immer in den alten Maßstäben. Zum Beispiel ist eine lang gehegte Überzeugung von mir, dass Führung sehr stark auf Persönlichkeit und damit auf Führungsstil hinausläuft. Aber ist das noch so? Dazu später mehr.

Überhaupt nicht verwundert war ich, als ich letzten Mittwoch auf der New Work Night in Berlin mein Bauchgefühl bestätigt bekam: So geht's nicht weiter, sagten dort auch Managementguru Thomas Sattelberger und der Organisationspsychologe Peter Kruse, dessen redegewandte Analytik und verblüffende Statistiken schon seit Jahren über re:publica und ähnliche Plattformen die Internetgemeinde verzücken. Überrascht war ich jedoch von der Totalität des Wandels, in dem wir uns befinden. Schon im XING-Magazin spielraum vom Winter 2013/2014 sagt Kruse über die Manager: "Sie tragen die volle Verantwortung, verlieren aber zunehmend an Macht und Einfluss." (S. 44)

Prof. Kruse mit typisch-überkomplexer Folie auf der New Work Night (Foto: Gilbert Dietrich CC 4.0)

8. November 2014

Eine Kopfsache für Introvertierte

Liebe dich selbst so, als ob dein Leben davon abhängt

Patrick Hundt, ein befreundeter Blogger und bekennender introvertierter Weltreisender, hat mit Kopfsache: Liebe den Introvertierten in dir ein kleines, sehr persönliches Buch geschrieben, das den Introvertierten unter uns zeigt, was in ihnen steckt und wie sie ihre persönlichen Eigenschaften im Alltag erfolgreich einsetzen können. Ganz bewusst grenzt sich Hundt dabei von den (halb-)wissenschaftlichen Bestrebungen ab, mit denen Autoren (auch hier auf Geist und Gegenwart) den Persönlichkeitsmerkmalen Introversion und Extroversion ansonsten versuchen, zu Leibe zu rücken. Statt dessen will das Buch solchen Menschen, die sich fragen, warum sie eigentlich so "anders" sind, einen Weg zu Akzeptanz und Selbstliebe zeigen. Und das geschieht ganz pragmatisch und authentisch, indem der Autor alle Energie darauf verwendet, sich selbst mit seiner zum Rückzug neigenden Persönlichkeit anhand von interessant erzählten persönlichen Anekdoten aus seinem Arbeits-, Privat- und Reiseleben zu verstehen.

Der Autor mit seinem Buch (Bild von Patrick Hundt)

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