29. Mai 2015

Seneca und die Philosophie der Kürze des Lebens

Das Aufschieben des Lebens ist sein größter Verlust

"Nur einen kleinen Teil des Lebens leben wir. Die ganze übrige Dauer ist ja nicht Leben, sondern bloß Zeit." Seneca - De brevitate vitae (Link zu Amazon)

Seneca im Museo del Prado, fotografiert von Jean-Pol GRANDMONT (Lizenz: CC BY 3.0)

Schon vor zweitausend Jahren fiel Seneca auf, dass erwachsene Menschen in ihrer Geschäftigkeit das Leben auf später verschieben, wenn sie 50 oder 60 sind. Nicht im Moment zu leben, das heutige Leben nicht ausreichend zu würdigen und es zu bereuen, wenn zu spät ist, ist kein neues Phänomen. Neu ist vielleicht, dass heute wenigstens die Wahrscheinlichkeit hoch genug ist, das Rentenalter auch zu erreichen. Zu Senecas Zeiten haben nur die Glücklichsten dieses Alter erreicht.

Die zwei Gesichter der Routine

Aber auch das ist kein Trost, denn - wie die amerikanische Autorin Annie Dillard sagt - so wie wir unsere Tage verleben, verleben wir selbstverständlich auch unser Leben. Und Seneca und Dillard sehen vor allem das vertändeln des Lebens in der Geschäftigkeit und Achtlosigkeit der Mitmenschen. Mit anderen Worten, wir dürfen die Routinen nicht unterschätzen. Wenn wir erst mal 50 oder 60 sind, werden wir wohl kaum anfangen, ein anderes Leben zu leben. Die Gewohnheiten sind die Fesseln des freien Mannes, sagt Ambrose Bierce. Das stimmt - aber nur zur Hälfte. Wir können uns durch "Übung" die Routinen aneignen, die uns auch in der zweiten Hälfte des Lebens ein gutes Leben bescheren können. Aber dazu später mehr, bleiben wir erst mal beim Gedanken, dass Routinen und Terminpläne sich vor allem dazu eignen, das Leben zu automatisieren und damit zu verpassen.

"Eine Routine schützt vor Chaos und Launen. Sie ist ein Netz, um Tage einzufangen. Ein Gerüst, auf dem ein Arbeiter stehen und vorübergehend mit beiden Händen arbeiten kann. Eine Routine ist eine Attrappe von Vernunft und Ordnung - gewollt, gefälscht und zur Realität gemacht. Routine ist Frieden und sie ist ein Hafenbecken, das man in das Wrack der Zeit gebaut hat. Ein Rettungsboot, indem du dich noch Jahre später vor dich hinlebend wiederfinden wirst. Jeder Tag gleicht dem anderen und du wirst dich dieses Lebens als ein verschwommenes und kraftvolles Muster erinnern." (Annie Dillard, Übersetzt aus The Writing Life)

Bereits in der Antike hatten Routinen und Gewohnheiten zwei Seiten: Eine vergangene und eine zukünftige, eine Entwicklungsmöglichkeit ist also immer mitgedacht. Routinen sind verwandt mit den Zeremonien, die wir aus verschiedenen Kulturen kennen. Zeremonien sind im Grunde zelebrierte Routinen, die sich perfektionieren oder perfektioniert haben. Ich zelebriere zum Beispiel gern meinen Tee am Morgen. Ich könnte ihn einfach routinemäßig aufgießen und runterschlucken. Statt dessen suche ich sorgfältig die Zutaten und Gerätschaften aus und verwandle dann schon die Zubereitung in eine Zeremonie und genieße das Produkt am Ende bewusst. Den Faden weiter gesponnen kommen wir zu Kunst und Sport, wo perfektionierte Routinen zur größten Könnerschaft führen. Auf Grundlage der Vergangenheit werden Routinen angepasst und verändert, also eingeübt. Eine Übung ist jede Operation, "durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird" (Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, S. 14). Routinen können so auch im Alltag aktiv gesteuert werden und müssen nicht zwangsläufig voll automatisiert und unveränderbar die Macht über uns ergreifen. Für mich ist es der einfache Unterschied zwischen passiv und aktiv, der die Welt bedeutet. Das eine heißt seinsvergessen durch das Leben zu taumeln oder mit dem Strom zu schwimmen, das andere heißt, wirklich zu leben, wahrzunehmen, zu genießen, die Zeit zu spüren und zu lieben. Man muss seine Routinen besitzen und formen.

Das größte Hindernis für das Leben ist die Erwartung

Es gibt so ein paar Angewohnheiten, die uns von einem "guten Leben" wegführen: In Eile zu sein, zu sehr beschäftigt zu sein, keine Zeit zu haben - das sind keine Schicksale, sondern Zustände, die wir zumindest zulassen und die wir uns angewöhnt haben. Wenn wir Leute beobachten, die von sich sagen, sie seien zu beschäftigt oder in Eile, dann fällt auf, dass das für sie inzwischen chronisch geworden ist. Diese Leute sind immer in Eile, sie haben sich antrainiert, zu beschäftigt zu sein und sie werden auch in ihrer zweiten Lebenshilfe keine Zeit fürs Leben finden.

Ich selbst merke das auch an mir. Oft bin ich irgendwie in Eile, habe kaum die Zeit, mal stehen zu bleiben, mir etwas anzusehen oder die Sonne und den Wind zu genießen. Oder noch schlimmer: Ich renne über eine rote Fußgängerampel, um die Straßenbahn zu bekommen. Dann fällt mir auf, dass ich mein Leben riskiert habe, obwohl fünf Minuten später die nächste Bahn kommt. Wenn ich mich dann zum Innehalte zwinge, stelle ich fest, dass es eigentlich keinen wichtigen Grund für meine Eile gibt. Vielmehr lasse ich mich von der Hektik um mich herum anstecken oder will irgendwie noch vor einem bestimmten Zeitpunkt auf Arbeit sein. Ja, auch das Konzept Pünktlichkeit, dass es mir als Deutscher besonders angetan hat, stresst mich manchmal. Ich führe mir dann vor Augen, dass die fünf oder zehn Minuten, die ich später komme, rein gar keine negativen Auswirkungen haben werden. Im Gegenteil, wenn ich zum Beispiel Besuch erwarte, bin ich oft heilfroh, wenn meine Gäste etwas später kommen. Wir müssten vorsichtiger mit dem umgehen, was zu einem uns noch unbekannten Moment einfach enden wird, meinte Seneca und beklagte, dass die Menschen die Zeit nicht zu schätzen wüssten, weil sie etwas "Unkörperliches" sei, das man nicht sehen könne, würde ihr kein Wert beigemessen.

"Allzu mühsam sind sie beschäftigt: auf Kosten ihres Lebens richten sie ihr Leben ein, um besser leben zu können. Sie legen ihre Pläne auf lange Sicht an. Aber der größte Verlust an Leben ist das Aufschieben: es entreißt uns einen Tag nach dem anderen, es bringt uns um das Gegenwärtige, indem es Entferntes verspricht. Das größte Hindernis für das Leben ist die Erwartung, die am Morgen hängt und das Heute vertut."

Wenn wir das auch 2000 Jahre später nachvollziehen können und uns vielleicht wundern, dass dieses vermeintlich moderne Problem schon die alten Römer und Griechen umtrieb, muss man aber doch feststellen, dass die Konsequenz die Seneca daraus zog nicht mit dem vereinbar ist, was wir heute als gut verbrachte Zeit verstehen würden.

"Rechne aus, wieviel die Gläubiger, wieviel die Geliebte, wieviel der Patron, wieviel der Klient von dieser Zeit weggenommen hat, wieviel der Streit mit der Gattin, wieviel die Züchtigung der Sklaven, wieviel das geschäftige Umherlaufen in der Stadt; nimm die Krankheiten dazu, die wir uns durch eigene Schuld zugezogen haben, nimm auch noch dazu, was ungenutzt liegengeblieben ist: du wirst sehen, daß du weniger Jahre behältst, als du alt bist…"
Vieles von dem, was Seneca als “Verschwenden der Zeit” beschreibt, ist ja heute das, was Sinnhaftigkeit stiftet: Mit dem/der Geliebten Zeit verbringen, vielleicht auch mal streiten, Arbeiten und Handel treiben, das "unnütze" Ausruhen, auch Krankheiten und sogar Trauer gehören zu einem kompletten Leben. Wenn man all das abzieht, was Seneca als “Verschwendung” aufzählt, dann bleibt vom Leben rein gar nichts übrig. Für Seneca war das richtige Leben nur das Philosophieren in Muße. Die Philosophie war das Haus seines Lebens, in dem er sich völlig neu einrichtete. Aber die Philosophie gereicht heute nicht einmal mehr einem Philosophen zu einem kompletten Leben. Im Gegenteil, wir würden ein Leben für die Bücher von Toten zu Recht ein vertändeltes Leben nennen.


Wenn die Geschäftigkeit das Leben verdrängt

Philosophie bedeutete einen Freiraum, ein eigenes Universum, in das nicht jeder folgen konnte und das vor den Banalitäten der Gesellschaft schützte. Die eigene Zeit vor dem Zugriff der anderen zu bewahren war für Seneca die beste Sorge um einen selbst. Besonders skeptisch war er, was die Arbeit anging. Auch wenn wir heute eine andere Perspektive darauf haben, erinnert Seneca uns daran, dass es im Leben mehr gibt, als "Erfolg" und "Geschäft" und dass diese gesellschaftlichen Obsessionen die Gefahr bergen, dass wir die Muße, das Denken, das Genießen und Wahrnehmen verlernen.

Hier sollten wir mal eine Pause einlegen und darüber nachdenken: Was passiert, wenn die Geschäftigkeit die Wahrnehmung verdrängt? Wir hören auf zu leben und bringen uns nur um die Zeit. Wenn wir es aber schaffen, die alten Tugenden des Wahrnehmens und der Muße wieder in unsere täglichen Routinen einzubauen, werden wir vielleicht die Zeit dehnen können, das Leben wieder spüren lernen. Wenn wir dann alt sind, werden wir es uns selbst danken, denn wir haben gelebt und nicht nur existiert. Die Alternative ist, dass wir unser Leben in Sorge und Hast verbringen und plötzlich mit dem nahenden Tod konfrontiert werden. An dem Punkt haben wir dann keine Wahl mehr: Wir müssen uns ihm stellen und haben plötzlich alle Zeit der Welt, genau dann, wenn unsere Zeit abgelaufen ist.



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12 Kommentare:

  1. Ab und an finde ich es sehr hilfreich, sich mit dem Tod zu beschäftigen. So schlüpft man in eine andere Perspektive und kann Geschehnisse in einem anderen Licht betrachten. „Ist das im Hinblick zur Kürze des Lebens wirklich sinnvoll oder wichtig?“ ist eine Frage, mit der ich beispielsweise sinnlose Beschäftigungen eliminiere.

    Andererseits sind Routinen und Struktur wichtig, um seine Ziele zu erreichen. Es stimmt, dass das nur Erwartungen sind. Trotzdem muss man diese bewältigen, denn diese sind Teil des eigenen Wachstums. Ich stimme zu, dass man dennoch sein Leben dabei bewusst genießen sollte und auch mal Halt machen kann.

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    1. Hallo Sascha,

      danke für deinen Kommentar! Das ist eine gute Frage, die man sich wirklich in solchen Situationen als Test stellen kann. Guter Tipp!

      Ich finde Routinen gar nicht wichtig, um Ziele zu erreichen, sondern eher aus einer Perspektive der Übung. Mit Routinen bewusst eingesetzt können wir den Alltag "üben", um letztlich besser zu leben.

      Viele Grüße,

      Gilbert

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  2. Hallo Gilbert, vielen Dank für diesen Artikel. Das Thema "Lebenszeit" und Achtsamkeit beschäftigt mich auch schon eine ganze Weile. Auch wenn mich diese innere Haltung dem Leben gegenüber (Achtsam, verköstigen, verweilen, bewusst wahrnehmen, Mitgefühl entwickeln...) sehr fasziniert, merke ich, wie stark die Tretmühle des Lebens in eine Richtung schwingt (effizienz, Wachstum, Tempo etc.) Mir scheint, dass ohne einen wirkichen Umschwung, der oft von aussen kommt (Krisen, Abbrüche...) unser Inneres noch nicht bereit ist für solche eine Feinjustierung.
    Kleine Dinge helfen aber schon mal - ich laufe z.B. öfters mal Barfuß, was mich langsamer werden lässt und meine Aufmerksamkeit in die unteren Bereiche meines Körpers - NICHT Kopf - wandern lässt.
    DAnke für diese Seite hier!
    Jan

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  3. Ja, das Üben ist schwierig und dauert ein ganzes Leben ;)

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  4. Es ist mir sehr wohl bewusst, wann ich in Eile und in Stress komme und dann..versuche ich, nein es fällt mir nicht schwer, zur inneren Ruhe zu kommen. Es ist eher umgekehrt, ich muss andere Menschen daran erinnern,( z.B. beim Einkauf an der Kassa, es sind oft ganz alltägliche und simple Sachen, doch sind sie unausweichlich da und hat oft mit mir persönlich nichts zu tun.
    Es ist leider eine Tatsache, das nicht nur das Arbeitsleben Eile verlangt, sondern unsere heutige wirtschaftliche Gesellschaft, die nur auf Gewinn ausgerichtet ist und dir nichts anderes übrig bleibt dich anzupassen.
    Ich bin "Gott sei Dank" schon aus dieser Tretmühle heraus, doch war ich mir in jungen Jahren auch dessen nicht bewusst. Es liegt einfach daran, dass wir zu viele Sachen auf einmal meistern müssen, damit die Familie (mit Kindern) floriert. Es wird zu vieles an einem herangetragen, z.B. als Alleinerziehender oder auch als plötzlich Erkrankter.

    In der Pension fällt vieles davon weg und seit ich sie genieße fühle ich mich wirklich erstmals befreit.
    Ich denke, das ist auch der Grund, weshalb man über das Tempo, die Achtsamkeit und einiges mehr nachdenkt und es verinnerlicht.

    Lg. aus Wien
    Waltraud Aouida

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    1. Danke für diesen Kommentar!
      Ja, es sind vor allem die alltäglichen Herausforderungen, die zu üben sich lohnt.
      Das mit der Pension ist gut gesagt und irgendwie auch verständlich, dass diese Qualitäten für viele erst dann ins Leben kommen.
      Mein Wunsch wäre, dass wir alle nicht so lange warten, bis wir in Rente gehen.

      Einen schönen und entspannten Sonntag!

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    2. Dir auch einen schönen Abend noch und ja, es ist schade, dass wir so lange warten (müssen?) auf verinnerlichte Ruhe in unserem Leben.

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  5. Danke für diesen sehr tollen Artikel!
    Nur eine kleine Kritik: Seneca war aber kein Grieche, sondern Römer.

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    1. Hey, danke für das Kompliment und den Hinweis! Ja, absolut korrekt. Ich mach das oben etwas deutlicher. Mit besten Grüßen!

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  6. Einige wenige Zeilen, die ich schon vor dem Eintritt in das Rentenalter gedichtet habe:
    ich suche meinen Weg
    und spür in mich hinein...
    die Antwort liegt in mir,
    da darf ich sicher sein.
    Ich gehe meinen Weg.

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  7. Ich sehe das Leben als eine Art "Schwingung": nur wer Anstrengung erlebt, kann die Entspannung schätzen; nur wer den Lärm gehört hat, geniesst die Stille; nur wer Hitze gefühlt hat, spürt die angenehme Kühle; nur wer mal gehungert hat, weiss, was Sattsein bedeutet.
    Insofern sind es die Gegensätze, die ausbalanciert und ins Leben integriert sein wollen. Beide Seiten im Blick zu behalten ist die Kunst. Die meisten Menschen tendieren leider zur Einseitigkeit.

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    1. Das ist eine schöne, poetische und auch realistische Art, das Leben zu begreifen. Danke fürs Teilen!

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