22. November 2015

Die eingebildete und die wahre Krise

Von gefährlicher Sprache und falscher Regulierung

In den derzeitigen Medienbeiträgen fällt mir immer wieder auf, wie vielsagend und unzureichend zugleich unser sprachlicher Umgang mit den Herausforderungen unserer Gegenwart ist. Von Anfang an war scheinbar klar, dass es sich um eine Flüchtlingskatastrophe handelt und nicht um eine Herausforderung und Gelegenheit, Menschen in der Not zu helfen, Völker zusammenzubringen und demographische Ungleichmäßigkeiten auszugleichen. Angela Merkel muss man hier überraschend aus der Haftung nehmen, denn sie scheint mindestens anfänglich eine Fürsprecherin der Solidarität und des Optimismus gewesen zu sein. Ansonsten hört man im Zusammenhang mit Flüchtlingen nur von Katastrophe, Versagen und Krise.


Wir alle kennen das Konzept von der selbsterfüllenden Prophezeiung: Was erwarten wir eigentlich von unserer eigenen Fähigkeit, eine Situation zu meistern, wenn wir die Situation schon zur Katastrophe erklären, bevor wir überhaupt angefangen haben, sie aktiv zu beeinflussen? Ich denke, dass es zu einfach ist, immer die Politik für ihr angebliches Versagen zu geißeln. Solche Situationen zu meistern, ist eine riesige Aufgabe. Die Aufgabe jedoch, die Deutschland vor 25 Jahren mit der Wiedervereinigung vor sich hatte, war um vieles komplexer und wirtschaftlich schwieriger, als die Situation, in der wir uns jetzt befinden. Und doch wäre anders als bei der jetzigen Herausforderung niemand auf die Idee gekommen, die historische Chance der Wiedervereinigung als Katastrophe bezeichnet. Die Gefühle vieler westlicher Mitbürger, die sich plötzlich von Ossis überrannt fühlten, waren im Übrigen dieselben wie heute.


"Das Kapital darf sich frei bewegen, die Menschen aber nicht"

Wir müssen mit der Beschreibung und Benennung von Phänomenen vorsichtig sein, schon um unsere eigene Einflussnahme auf sie nicht zu gefährden. Ähnliches gilt für die sprachlichen Bilder, die wir den fliehenden Menschengruppen zuschreiben. Sind es Schwärme, wie wir sie von blutsaugenden Moskitos und alles fressenden Heuschrecken kennen? Sind es Wellen, die uns wie Tsunamis zu überfluten drohen? Sind es Flüchtlingsströme, die mit naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit daherkommen und nun mit Mauern, Zäunen und Grenzen umzuleiten und einzudämmen sind? Es ist kein Wunder, wenn sich viele Leute, die zu den Phänomenen eben nur Zugang über die Medien haben, verunsichert fühlen, wenn eben diese Medien mit solchen bedrohlichen sprachlichen Bildern berichten.

Aber die Bilder von Strömen, Wellen und Grenzen haben auch noch eine andere Relevanz. Herfried Münkler, der streitbare Politiktheoretiker der Humboldt-Universität, sagt im neuen Philosophie Magazin*:

"Es scheint mir eine grundsätzliche Frage, ob wir Ordnungen über Grenzen oder über Ströme denken - Ströme von Menschen, Kapital, Informationen und Gütern." (Münkler, S. 29)

Dem Gedanken des Lenkens von Strömen läge die uralte Idee zugrunde, dass unser Wohlstand zunimmt, wenn wir Zugang zu diesen Strömen bekommen. Überall auf der Welt kann man sehen, wie sich Menschen stets an Flussübergängen (sogenannten Furten, siehe Frankfurt, Erfurt oder Klagenfurt) oder an Meeresbuchten niederließen. Einfach nur, damit sie Zugang zu den Strömen erlangen und selbst Teil von Strömen werden können.

"Ströme von Kapital, Dienstleistungen, Informationen und auch Touristen sind in diesem Modell vorgesehen. Flüchtlinge aber nicht." (Münkler, S. 29)

Die Philosophin Carolin Emcke bringt es im Gespräch mit Münkler auf den Punkt, wenn sie sagt, dass sich zwar das Kapital frei bewegen dürfe, die Menschen aber nicht. Und das ist genau der Punkt, an dem wir diese Welt falsch eingerichtet haben. Wir versuchen panisch die potentiell bereichernden Veränderungen in unserer Lebenswelt zu unterbinden, indem wir streng darauf achten, dass fremde Sprachen, andere Hautfarben, Kleiderordnungen oder ungewohnte Wertevorstellungen nicht "überhand" nehmen. Jedoch die offenbar zur Verarmung und Vertreibung vieler Meisten führende dramatische Beschleunigung von schrankenlosen Finanzströmen, den Waffenhandel und das Gezocke mit Rohstoffen, all das wollen wir nicht regulieren?

Unser/e Leser/in Manu sagt: "Wer immer alles billig haben will, sollte nicht meckern, wenn Menschen aus wirtschaftlicher Not flüchten" http://www.geistundgegenwart.de/2015/11/flucht-und-sprache.html
Posted by Geist und Gegenwart on Friday, November 27, 2015


Wir regulieren auf der falschen Ebene

Der Soziologe Hartmut Rosa sieht dort einen interessanten Zusammenhang: Da uns der politische und wirtschaftliche Alltag mit all seinen endlosen Informationsströmen und den Zumutungen der persönlichen Flexibilität im Arbeitsalltag permanent an den Rand der Überforderung bringt, suchen wir nach stabilen Ankern in unserer vermeintlich privaten Lebenswelt der Werte, Sprachen und Umgangsformen. Das ist ein Konservativismus, der soweit geht, dass wir sogar anfällig für rechtsextreme Rückschritte werden, solange diese uns ein Festhalten am Gewohnten und ein Ausgrenzen eventuell verstörender fremder Einflüssen versprechen. Rosa lehnt sich mit seiner Analyse der Regulierung auf der falschen Ebene an das Konzept des Rasenden Stillstands von Paul Virillio an:

"Die Waren- und Touristenströme, die Kapital- und Devisenflüsse, die Daten- und Informationswellen, die Veränderungsraten und Anpassungs- anforderungen - sie alle beschleunigen sich unablässig und setzen uns unter gewaltigen Optimierungs- und Flexibilisierungsdruck." (S. 20)
Und dann, der rasenden Beschleunigung entgegengesetzt, die Seite des Stillstands:
"Die Flexibilisierungszumutungen des Alltags lassen sich nur bewältigen, wenn die Infrastruktur des Lebens stabil bleibt, wenn die Nachbarn nicht plötzlich andere Sprachen sprechen und womöglich andere Feste feiern - dies scheint das Grundgefühl zu sein, das sich in Europa lähmend ausbreitet." (S. 20)

Das ist schon plausibel, denke ich; solche Dynamiken, die aus Überforderung zur Abgrenzung führen, gibt es sicher. Auf der anderen Seite ist die Abgrenzung gegen Neues und Fremdes und die Angst vor Wandel und Sittenverfall nichts, das es erst seit unserer Lichtgeschwindigkeitsmoderne gibt, wie zum Beispiel Peter Sloterdijk mithilfe des Ödipus-Mythos zeigt.

Unsere Analyse zeigt jedoch, dass wir tatsächlich das falsche Problem mit unserer Sprache von Krise, Katastrophe und Flut dramatisieren. Die alltägliche Lebenswelt ist uns einfach näher, dort haben wir noch ein Restgefühl von Kontrolle, dort wollen wir keine Eindringlinge. Die andere Ebene, die der Warenströme, Kapitalflüsse und Informationswellen, scheint unserem täglichen Zugriff völlig entglitten. Dieser Ebene sind wir alle unterworfen, die Flüchtlinge genauso wie wir. In unserer eingebildeten Machtlosigkeit sind wir leicht lenkbar und so ist es kein Wunder, dass wir uns lieber gegeneinander wenden, Mensch gegen Mensch im "Verteilungskampf". Und der Freudentanz derer, die kurzfristig an Krieg und Waffen, an Rohstoffspekulation und Kreditverschiebungen verdienen, der geht noch eine kleine Weile weiter.

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 *Alle Zitate stammen aus dem Philosophie Magazin Nr. 1 / 2016

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5 Kommentare:

  1. Ja, ich stimme zu. Es ist nahezu pervers, dass diese Schieflage der Gesellschaft als normal erachtet wird. Wo Leistungsdruck und Freizeitmangel als gut gelten, und die Menschlichkeit vergessen wird, zu honorieren.
    Ich habe kürzlich einen Blog-Artikel mit ähnlichem Gedanken geschrieben: "Flüchtlinge, Rechtsruck und Leistungsgesellschaft" - https://bloggelsberg.wordpress.com/2015/11/08/fluchtlinge-rechtsruck-und-leistungsgesellschaft/

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  2. Danke für diesen Artikel! Mich macht das immer ein bisschen deprimiert, wie wenig über Fluchtursachen nachgedacht und diskutiert wird. Wieviele einfach nichts wissen oder verstehen von den Zusammenhängen zwischen der Entstehung von Fluchtursachen (z.B. Klimawandel, Neoliberalismus, Kriege und Interessen "des Westens") und den Flüchtlingen.

    Besonders auch die Menschen die gegen "Wirtschaftsflüchtlinge" sind... Wer immer alles billig haben will, ob Elektrionik, Klamotten oder Lebensmittel und dabei auch von Sklavenarbeit profitiert, sollte nicht meckern, wenn Menschen aus wirtschaftlicher Not flüchten.

    Der Klimawandel wird wahrscheinlich die Hauptursache für Flucht im 21. Jahrhundert darstellen. Also, Klimawandel bekämpfen, anstatt gegen Flüchtlinge hetzen.

    Außerdem wäre es hilfreich sich ein bisschen über Waffenexporte zu empören und Parteien, die da nichts gegen tun bei Wahlen dafür abstrafen.

    Nur mal ein paar kurze Gedanken sollten das gewesen sein.

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    1. Hallo Manu,

      Danke für deinen Kommentar! Der Hinweis auf den Klimawandel ist absolut angebracht! Das wird sicherlich die nächste Große "Welle" auslösen. Und von solchen Auslösern gibt es genug.

      Dein Satz "Wer immer alles billig haben will, ob Elektrionik, Klamotten oder Lebensmittel und dabei auch von Sklavenarbeit profitiert, sollte nicht meckern, wenn Menschen aus wirtschaftlicher Not flüchten" ist so genial, den werde ich zitieren, wenn ich darf.

      Viele Grüße,

      Gilbert

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    2. Danke!
      Sehr gerne kannst du den Satz zitieren.

      Liebe Grüße
      Manuel

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