30. Juni 2016

Der Staat bin ich!

"Es ist gefährlich Recht zu haben, wenn die Regierung falsch liegt." – Voltaire. Wie siehst du die politische Situation in Europa bzw. die wirtschaftsliberale Politik, das uneingeschränkte Streben nach Shareholder Value, Hyperkapitalismus und die damit zusammenhängenden ethischen Fragen? Ist es Zeit für selbstkritische Besinnung?

Es ist immer Zeit für selbstkritische Besinnung. Und Voltaire hatte sicherlich damals Recht, aber das ist etwas, das wir inzwischen auch mit seiner Hilfe in Europa erreicht haben: Es ist nicht mehr gefährlich, eine andere Meinung zu haben.

Occupy Berlin, Reichstag, Berlin (Corner of a Life CC BY 2.0)

Mir fällt auf, dass wir es uns angewöhnt haben, Meinungsbürger und Wutbürger zu sein, aber wir haben es verlernt, Bürger zu sein. Anstatt der Staat zu sein, grenzen wir uns ab und schimpfen über alles, was die Politik macht. Ein Grund mag sein, dass die Problemlagen so komplex geworden sind, dass wir sie nicht mehr durchschauen und stattdessen meinen, "die da oben" hätten die Kontrolle verloren (oder wahlweise: kontrollieren uns alle). Deine Stichworte Shareholder Value und Hyperkapitalismus stehen ja auch für solche "Angstbegriffe". Frag mal jemanden im Einkaufscenter, was Shareholder Value ist. Außer einer diffusen Meinung, werden die meisten dazu nichts sagen können.

26. Juni 2016

Entgrenzte Horizonte: Ein Leben ohne Normalität

Unerwartete Phantomschmerzen des technischen Fortschritts

Die Erde ist ein Powerhaus. Das wissen wir, seitdem wir entdeckt haben, dass sich ihre Eingeweide wie Kohle, Gas und Öl verbrennen und in titanische Kräfte umwandeln lassen, von denen wir vor zweihundert Jahren noch nicht einmal zu träumen wagten.

Verschieben Horizonte: US-Ölfelder (Original von Arne Hückelheim CC BY-SA 3.0)

In früheren Zeiten mussten wir unsere körpereigene Kraft auf dem Feld oder bei der Jagd ausbeuten, dann folgte die Ausbeutung der Kraft der Tiere und die anderer Menschen. Das ist zum Glück vorbei, das Powerhaus Erde hat uns und zu einem großen Teil auch unsere Haustiere von diesen sklavischen Formen der Energieerbringung entlastet. (Inzwischen kommen wir mit dieser Entlastung so weit, dass nicht nur die körperlichen Kräfte nicht mehr aufgebracht werden müssen, sondern auch die geistigen schon ersetzt werden.) Wenn wir zwar feststellen können, dass sklavische Tierkraft entbehrlich geworden ist, so müssen wir doch festhalten, dass Energiegewinnung als Nahrung aus den Tieren durch technischen Fortschritt erst Recht zu einem mörderischen Höhepunkt gelangt ist, der genau derselben Umkehrdynamik von Ausnahme und Normalität unterliegt wie alle modernen Verschwendungsphänomene.

11. Juni 2016

Weisheiten der Mystik in einer Welt der Vernunft

Bertrand Russell und die Erfahrungsweise der Matrix

Im dem seit Menschengedenken andauernden Versuch, die Welt in ihrer Gesamtheit zu verstehen, bekämpfen und befruchten sich zwei menschliche Prinzipien des Verstehenwollens: das eine kann als wissenschaftliches und das andere als mystisches Prinzip beschrieben werden.

Schon bei den antiken Philosophen sehen wir diese Differenz, etwa beim mystischen Parmenides und dem wissenschaftlichen Aristoteles. Manchmal gibt es, wie etwa in Platons Ideen erkennbar, den Versuch diese beiden ziemlich gegensätzlichen Prinzipien zusammenzubringen. Mit der durch die Ideengeschichte voranschreitenden Ausdifferenzierung von Religion, Philosophie, Kunst und Naturwissenschaften ist auch der Graben zwischen Mystik und Vernunft nur größer geworden.

Heute leben wir in einer Welt, die in ihrer Hard- und Software ganz überwiegend durch wissenschaftliche Prinzipien gesteuert wird, was wiederum uns kleinen einzelnen Menschlein hart und seelenlos vorkommen mag. Denn unser Seelenleben verlangt nach Geschichten, nach Innerlichkeit, der Einbettung ins große Ganze und vermeintlich tieferen Gründen unserer Existenz. Aus diesem Konflikt heraus verlangt es die einen nach Poesie und Kunst und die anderen nach Verschwörungstheorien und Esoterik. Im Mainstream wird aus diesen beiden Polen dann zum Beispiel ein Film wie Die Matrix (den ich übrigens liebe, und zwar alle seine drei Teile).

4. Juni 2016

Die nicht endende Zähmung des Menschen

Stufen der Domestikation der Kulturen

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Zähmung. Und zwar nicht nur die Zähmung von Haustieren, sondern die des Menschen selbst. Eine Zähmung sorgt für kulturelle Nischen in der Wildnis, in denen die natürliche Selektion auf Eis gelegt wird. Es überleben nicht die an die Natur bestangepassten Tiere, sondern jene, die mit den Verhältnissen in dieser Nische am besten zurechtkommen.

Der Mensch ist der König unter den Haustieren (Quelle: National Library of Ireland)

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