10. Juli 2017

Helikoptermoral: Wir sind alle so unfehlbar

Muss man wirklich zu allem immer gleich eine Meinung haben?

Die Moral reguliert nicht mehr das Urteil über die Ereignisse,
sondern die Ereignisse prägen die Äußerung der Moral.
Wolfgang Schmidbauer, Helikoptermoral

Neulich hörte ich das Philosophiosche Radio vom WDR 5. Man hatte den Psychologen Wolfgang Schmidbauer eingeladen, der über seine Wortschöpfung und das gleichnamige Buch Helikoptermoral sprach. Ich fand den Begriff etwas sperrig und nicht gleich einsichtig, was er wollte. Dann kam der G20-Gipfel und mit ihm die ganze Schnellschuss-Entrüstung links und rechts auf Twitter, in den "etablierten Medien" und wohl auch auf Facebook (von wo ich mich aber sowieso so gut es geht fern halte). Und plötzlich verstand ich Schmidbauer und seinen Begriff Helikoptermoral. Aber eins nach dem anderen... Was soll Helikoptermoral eigentlich sein?

"Wie ihr Pendant, die Helikoptereltern, ist auch die Helikoptermoral immer schon da, immer bereit, Stellung zu beziehen. Das tut sie unter viel Getöse mit schnellen Urteilen, um so die schnellen Affekte von Angst und Wut zu bewältigen, die angesichts einer unsicheren Zukunft in einer komplexen Welt dominieren. Es geht nicht mehr um eine gut funktionierende Moral, die das Zusammenleben regelt, sondern um das endgültige Urteil, die zu Superlativen übersteigerten Werte jenseits aller Realität." (Beschreibung zum Buch Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum)

Ob jetzt der Begriff gut gewählt ist, weiß ich immer noch nicht, aber die Beschreibung dieses Phänomens ist dringend angebracht, denn diese Art der Scheinmoral verhindert wirkliche Auseinandersetzung und letztlich moralisches Handeln. Zuerst beim entrüsteten Individuum selbst und damit auch in der Gesellschaft, wo man sich entweder gegenseitig lediglich bestärkt oder aber bekämpft und zwar ohne Bereitschaft bei überzeugenden Gegenargumenten die eigene Position wieder aufzugeben. Geht es überhaupt noch jemandem darum, etwas zu lernen, den eigenen Horizont zu erweitern, anderen zuzuhören, sie ernst zu nehmen? Oder geht es nur noch darum, die eigene Meinung unbedingt in die Welt zu setzen, sie gegen Argumente zu immunisieren und kogitive Dissonanz um jeden Preis zu vermeiden? Warum muss sich wirklich jeder über "den schwarzen Block" bei den G20-Protesten entrüsten? Habt ihr Angst, dass man euch für Sympathisanten hält, wenn ihr einfach mal den Mund haltet und die wirklichen Probleme überdenkt? (Siehe mangelnde Ergebnisse dieses "Gipfeltreffens".) Oder ist es einfach wieder mal die wöchentliche Chance, euren Frust und den Willen zu moralischer Überlegenheit auf wohlfeile Art und Weise rauszulassen? Ist ja auch egal, ob eure Wut die Fahrradfahrer, die Fleischesser, VW, die Nafris (oder was ihr euch sonst so für beschissene Begriffe für Flüchtlinge aneignet), die Medien oder die Merkel trifft. Hauptsache Wut, Hauptsache Empörung, Hauptsache ihr seid besser als all die anderen. Das ist "Minifanatismus in Tugendmaske", wie Schmidbauer formuliert.  So – jetzt habe ich selbst gleich mal etwas Rage-Blogging betrieben. Natürlich nur beispielhaft und zur Anschauung für euch.

"Zur populistischen Moral gehört die Konstruktion einer Gemeinschaft der Guten, die sich zusammen der Illusion hingeben dürfen, Schattenseiten, Schwachpunkte, Defekte und Defizite seien nicht in ihrer Mitte zu finden, sondern kämen von außen und könnten dahin zurückgetrieben werden." (Schmidbauer, Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum)

Unrecht und Schuld haben immer nur die anderen. Wenn man Schmidbauer zuhört, dann ist das natürlich alles entschuldbar: Wir sind verängstigt und verunsichert, die einst vermeintlich stabilen Zusammenhänge der Gesellschaft erodieren, die Zukunft erscheint uns als irgendetwas zwischen düster und ungewiss und zu allem Überfluss kommen da auch noch Leute aus anderen Kontinenten und das kann die ganze ohnehin prekäre Situation ja wohl kaum besser machen. So ein bisschen moralische Luft ablassen, tut da als Ventilfunktion ganz gut. Was aber sind nun die Folgen jenseits des unerträglichen Tons der Entrüstung überall?

"Die kurzfristige Entlastung, die die Helikoptermoral emotional verschafft, bedeutet auf lange Sicht nicht nur, dass viel Energie für Verleugnungen vergeudet wird, sondern der Kontext, der Zusammenhang mit der Realität sich mehr und mehr verliert." (Beschreibung zum Buch Helikoptermoral. Empörung, Entrüstung und Zorn im öffentlichen Raum)

Denn Helikoptermoral löst keine Probleme, sondern entfacht nur gegenseitige Vorwürfe und eine Spirale von immer größeren moralischen Scheinansprüchen, die sowieso niemand erfüllen könnte und auch nicht sollte. Am wenigsten moralische Kapazität haben die Entrüsteten selbst, denn sie sind so sehr mit dem schnellen und drastischen Verurteilen der anderen beschäftigt, dass sie sich nicht die Zeit nehmen können, ihre Positionen überhaupt zu überdenken oder gar die Positionen der, die sie verurteilen, in Betracht zu ziehen. Oder ist es vielleicht umgekehrt: Weil sie nicht die Energie zur Reflexion aufbringen wollen, verurteilen Sie lieber schnell? Dann hat man nämlich eine gewisse Stabilität, die man nur noch verteidigen muss. Reflexion macht immer unsicher, man macht sich angreifbar. Aber nur durch diese Unsicherheit und Angreifbarkeit kommt man, so denke ich, zu einer Sicherheit der größeren Art: Souverenität.

Schmidbauers Buch geht jedoch weit über dieses mich hier im Moment bedrückende Thema der öffentlichen moralischen Entrüstung hinaus. Er beobachtet nicht nur diese öffentliche Auseinandersetzung, sondern beschreibt auch empirisch wunderbar die privaten Momente des Helikopter-Verhaltens in den Beziehungen zu unseren Kindern und unseren Partnern. Ein wichtiges Buch in unseren überängstlichen Zeiten, wie ich finde. Es ruft uns alle auf, etwas besonnener und infomierter zu interagieren, uns unseren wahren Ängsten zu stellen, anstatt sie nur nach außen zu projezieren und sowohl mit uns selbst als auch mit den anderen um uns herum in eine wahre Reflexion zu treten, anstatt immer nur reflexhaft zu urteilen. Denn letztlich zeigt sich unsere Moral darin, wie wir über Ereignisse urteilen, wir sollten unsere Moral gerade nicht den Ereignissen unterwerfen.



Das passt dazu:

9 Kommentare:

  1. Kurz bedacht finde ich den Begriff Helikoptermoral gar nicht so übel. So wie übermäßig besorgte Eltern jede mögliche Bedrängnis, in welche ihr Kind geraten könnte, zum Anlass für permanentes Engagement nehmen, kann ein moralisch Überengagierter das entsprechende Urteilen über alles, was sich seiner unmittelbaren Kontrolle entzieht, nicht lassen. Moralisten verallgemeinern ja bloß die eigenen Maßstäbe von Gut und Schlecht und verändern damit praktisch natürlich nichts, aber sie gewinnen so psychologisch eine Souveränität, die sie real nicht besitzen, zurück und lassen ihre Bescheidwisserei gerne auch mal überschießen. So kann auch der armseligste Knecht mal den Herrn geben.

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    1. Ja, das stimmt schon. Warum es mir nicht ganz so passt: Bei den Eltern kann man ja noch von einem guten Willen ausgehen, die wollen ihre Kids schützen und schießen übers Ziel hinaus. An dieser Art Moral aber, ist nichts Gutes, nicht mal eine gute Intention. Oder bin ich da zu hart?

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    2. Ein guter Artikel! Helikopter hat für mich immer mehr den Beigeschmack der Kontrolle als des Schutzes. Problematisch vor allem, wenn es mündige Menschen betrifft, z.B. in der Sozialpädagogik. Da helikoptern wir auch herum und erheben uns im wahrsten Sinne des Wortes über den Anderen. Ich denke, dass es dabei immer zuerst um einen selbst geht. Hinter "Schutz" oder dem guten Willen steht dann doch wieder die eigene Angst. Davor, nicht gebraucht zu werden, nichts ausrichten zu können, nichts zu sagen zu haben. Das finde ich zwar menschlich und in gewissem Sinne auch wichtig, aber ich denke, dass wir uns heute, da wir alles kontrollieren wollen und uns allzu wichtig nehmen, gegenseitig immer weiter pushen. Der "gute Wille" hinter Helikoptermoral könnte sein, nicht indifferent sein zu wollen.
      Und das scheint bei der kurzen Halbwertszeit der politischen Debatten und der Dichte der Ereignisse eben nur zu gehen, wenn wir uns einem Turbo- Urteil anschließen (siehe Ihr Artikel zu Zeit und H.D. Thoreau). Aber im Endeffekt wirken auf mich beide Arten - das elterliche und moralische Helikoptern - sehr selbst-bezogen und darauf bedacht, schnell und laut eine eigene "Autorität" herzustellen - dies aber im Alleingang und daher weder echt noch stabil.

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    3. Vielen Dank für Ihren Beitrag, Hannah R.! All den Beobachtungen kann ich mich nur anschließen. Auch das Bild von Kontrolle statt Schutz und dem "Über-die-Anderen-Erheben" beim "Helikoptern" ist äußerst treffend. Was Schmidbauer zu dem Bild auch noch sagt ist: die Plötzlichkeit des Helikopters und der buchstäbliche viel Lärm und heiße Luft um manchmal nichts.

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  2. Aufrufe zur Besonnenheit tauchen in verschiedenen Gewändern durch die Zeiten immer wieder auf. Was ist neu an Schmidbauer's Ansatz? Oder ist einfach der Zeitpunkt ein solcher, das Thema erneut hervorzuholen?
    Ein Schritsteller muß, wenn er erneut auf seine Themen hinweisen will, nicht auf ein altes Buch von ihm verweisen, sondern ein neues Buch zum Thema herausbringen.

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    1. Das ist natürlich kein bloßer Aufruf zur Besonnenheit, sondern eine Untersuchung des derzeitigen Äußerns von moralischen Urteilen in der Gesellschaft. Hoch aktuell auf derzeitige ENtwicklungen eingehend und gerade erschienen (März 2017). Aber was erzähle ich dir das? Kannst du ja einfach mal reinschauen, z.B. bei Amazon oder Google Books.

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    2. Danke für den Tip, Gilbert.
      Das sind tiefschürfende Gedanken und Analysen.
      Erinnert mich in seiner Tiefe an "Die Angst vor den anderen" von Zygmunt Bauman, das ich unlängst las.

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  3. Aus meiner Sicht, die mir zugegebenermaßen sehr eingeengt erscheint, verlieren wir durch Facebook, Twitter und co. einen großen Teil unserer Dikussionsfähigkeit. Jede größere Zeitschrift oder Zeitung, die sich einem Streitthema auch nur ansatzweise nähert, beherbergt in den sozialen Medien eine diskussionswütige Anhängerschaft, die bei fast jedem Artikel versucht, sich selbst in den Kommentarspalten zu zerfleischen. Und Scheinargumente stehen dort an der Tagesordnung. Strohmänner werden gebaut, falsche Schotten sondiert und ad hominem argumentiert ohne Punkt und Komma.
    Am schlimmsten finde ich Argumente, die mit den Worten "Wenn ich mir die Kommentare hier anschaue...", "Ich, als..." oder "Wir leben im Jahr 2017, also..." beginnen. Diese Kommentare dienen nur zur Abgrenzung (und vor allem Hervorhebung) des Individuums und tragen nichts zur Diskussion bei. Es wird lediglich versucht, eine (meist moralische) Stufe höher zu stehen, als das Gegenüber.
    Mir graut es vor der Zeit, wenn diese Art zu diskutieren wissenschaftlich wird; denn aus persönlicher Erfahrung, hat sie die Hörsäle bereits erreicht.

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    1. Ja, diese Beobachtungen kann ich im Wesentlichen so teilen. Ich sehe jedoch nicht, dass so etwas in die Wissenschaft diffundieren wird. Hoffentlich und wahrscheinlich nicht.

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