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9. Juli 2017

Warum Tatsachen immer auch politisch sind

Macht und Wahrheit in der Postmoderne

Als ich in den 90er Jahren studierte, waren postmoderne Philosophen wie Derrida, Lacan oder Foucault gerade der letzte Schrei an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der deutschen Universitäten. Ich setzte mich auch in diese Seminare und erinnere mich an ziemlich fruchtlose Debatten zum Begriff "Dispositiv" und einige aufgeregt politisch diskutierende Studenten. Daran ist ja eigentlich nichts falsch, aber ich hatte den Eindruck, dass alles, was die Philosophen hergaben, einfach in diese oder jene Richtung interpretiert wurde, so wie es den ideologischen Diskutanten gerade in den Kram passte. Dann kam es an der Humboldt-Universität erst einmal zu einem monatelangen Studierendenstreik inklusive Barrikaden und Professorenbeschimpfungen und die Philosophie machte komplett Pause.

WTF? Foucault als Popikone und Streetart. (mike CC BY-SA 2.0)

Immerhin habe ich dann begriffen, was Foucault mit seiner von Hegel und Nietzsche inspirierten Philosophie einer dialektischen und dynamischen Macht meinte: Macht kam nicht einfach "von oben". Wenn wir den Professoren und anderen Studenten, die nicht streiken wollten, den Zutritt zur Uni verwehrten und damit am Ende doch rein gar nichts ausrichteten, dann zeigte sich, dass es keinen einzelnen Souverän der Macht gab, sondern dass Macht vielfältig verwoben in soziale und epistemische Zusammenhänge auftritt, dass sie ephemer sein konnte und alsbald wieder verschwinden würde und vor allem, dass unser studentischer Wille zur Macht keineswegs die aus der Dialektik lebenden kapitalistischen Strukturen infrage stellte, sondern sie geradezu stärkte. Einfach nur, weil wir "durften" und weil uns das System damit entweder ins Leere laufen lies oder unsere umstürzlerisch gemeinte Energie eben doch wieder einem leicht angepassten, aber nicht grundsätzlich anderem System zugeführt wurde, das sich dadurch quasi evolutionär gegen Revolutionen immunisierte. (Anders ergeht es den G20-Protestierenden leider auch nicht.)

Zeitgleich entstanden auch neue Kommunikations- und Wissenstechnologien im Internet, die wir damals auch als subversiv missverstanden (wie wir heute wissen). Klar haben solche Rhizom-Strukturen ohne Machtzentren das Potenzial zur Infragestellung des Systems, aber eben nur für einen kurzen Zeitraum, dann immunisiert sich das System dagegen, indem es diese neuen Strukturen vereinnahmt und letztlich Macht doch wieder auf eine Seite verschiebt.

Davon abgesehen bleibt für mich festzuhalten, dass ich postmoderne Philosophie, Struktursalisten und Poststrukturalisten, Dekonstruktivisten, Semiotik und Diskursanalysen nicht wirklich verstand. Sie kamen mir in ihrem Misstrauen gegenüber Tatsachen und ihrer Ablehnung des Realismus beliebig vor und in ihrem Personal ideologisch durchsetzt. Ideologie halte ich übrigens generell für unverträglich mit der Philosophie und für ein Gift jeglicher Erkenntnis. Denn während Philosophen ihre Ideen der Logik unterwerfen, unterwerfen Ideologen die Logik ihren Ideen. Und das ist schlichtweg unredlich und taugt nicht zur Erkenntnis. Ich will damit nicht behaupten, dass meine Wahrnehmung der postmodernen Philosophie diese tatsächlich gut beschreibt. Meine Wahrnehmung entstand im Kontext von Seminargruppen, die nur so erkenntnisreich sein können, wie sie gut geführt werden. Das damalige ziemlich unerfahrene akademische Personal schien von Seminarführung noch weniger, als von der Postmoderne verstanden zu haben.

"Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen!"

Dass es auch anders geht, entnehme ich gerade einem Interview des Philosophie Magazins mit dem Politik- und Sozialphilosophen Martin Saar. Schauen wir zuerst auf die Frage nach der Wahrheit und den Tatsachen, denn mein Verdacht war immer, dass die Postmodernen das heutige Zeitalter des Postfaktischen eingeleitet haben, in dem es akzeptabel zu sein scheint, völlig ohne Scham über die eigene dumme Dreistigkeit von "alternativern Fakten" zu reden. Tatsachen sind ja bekanntermaßen das, was wahrnehmbar der Fall ist und aus logischen Gründen kann nicht eine Sache und ihr Gegenteil wahr sein: Entweder Trumps Amtseinführung war die am wenigsten besuchte oder sie war die am stärksten besuchte, beides zugleich geht nicht zur selben Zeit im selben Univesrum, auch dann nicht, wenn man das Adjektiv "alternativ" dazu nimmt.

"In seinen unvorsichtigen Momenten schreibt Nietzsche Sätze wie: 'Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen!' Nietzsche, und ihm folgen viele der postmodernen Denker, meinen [sic!] damit natürlich nicht, dass es überhaupt keine Tatsachen gibt, sondern eher, dass es keine bloßen oder nackten Tatsachen gibt. Dass also das, was zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Kontext, in einer bestimmten Wissenskonfiguration als Tatsache gilt, von Voraussetzungen abhängt." (Martin Saar, Philosophie Magazin, Sonderausgabe 08, Juni 2017, S. 128)

Nun, das klingt freilich unbefriedigend, nämlich doch so, als ob es eben keine von uns unabhängigen Tatsachen gibt. Dabei lässt sich mit einem einfachen Gedankenexperiment zeigen, dass es z.B. auch ohne unsere Anwesenheit und Interpretatiopn auf der Erde soetwas wie Steine gibt. Hier sieht man, dass man zwar debattieren kann, was in unserer "Wissenskonfiguration" alles als Stein gilt, aber nicht vernünftigerweise die Tatsache bezweifeln kann, dass es auch ohne unsere Interpretation solche Dinge gibt, die wir heute "Stein" nennen.

"Die Skepsis gegenüber den Tatsachen oder den großgeschriebenen [...] Wahrheiten war motiviert dadurch, dass man das Kontingente, Umkämpfte, Umstrittene der Wahrheiten, der Tatsachen, in den Vordergrund stellen wollte, aber nicht, um sie danach hinter sich zu lassen, sondern um sich klarzumachen, unter welchen Bedingungen und Einflussnahmen Tatsachen stehen und entstehen." (Ebd., S. 129)

Saar nennt das "eine Politik der Wahrheit, eine Politik der Tatsachen" und ruft mit den Postmodernen zur Reflexion darüber auf, die Tatsachen vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten und zu benennen, wer was behaupten kann, zu welchem Zwecke und mit Hilfe welcher Mittel. Solches Denken hat zumindest aufklärerisches Potenzial und kann Machverhältnisse verschieben, wie wir an den auch mit der Postmoderne angeschobenen Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen sehen können. Saar meint, dass Wahrheit genau in der Verbindung zwischen Subjektivität und Objektivität entstünde, ein Gedanke, der an an die Erkenntnistheorie des spekulativen Realismus erinnert.

Wahrheit und Macht sind ineinander verflochen

Kommen wir abschließend noch einmal zum eingangs nur anekdotisch besprochenen Thema der Macht. Wir haben uns vielleicht im Laufe einer Geschichte von Monarchen, Feudalherren, Päpsten und anderen deontischen Autoritäten an ein zentralistisches und stabiles Bild der Macht gewöhnt.

"Foucault findet, dass dieses Bild von Macht als klarer Hierarchie zeitgenössische politische Phänomene nicht gut beschreibt. Er sucht nach einem flexibleren Bild von Macht, das zulässt, dass auf verschiedenen Seiten dieser Frontlinie der Herrschaft noch Macht zu finden ist. Dass es die Macht der Ohnmächtigen gibt, dass es Machtpotenziale gibt, die sich nicht immer ganz realisieren ... Und für diese Art von flexibler oder hochdynamischer Machtvorstellung ist Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht vorbildlich. Mit Nietzsche können wir denken, dass Macht nicht irgendwo zentralisiert ist, im Thron des Souveräns, sondern dass sie den gesamten sozialpolitischen Körper durchzieht." (Ebd., S. 128)

Hier sehen wir im Übrigen auch den großen blinden Fleck des Marxismus, der die Dynamiken der Machtverhältnisse ausblendete und statt dessen an eine letztendliche Klärung der Machverhältnisse durch Klassenkampf und die Revolution des Proletariats glaubte. Mit dieser Herangehensweise musste der Sozialismus dem viel dynamischeren und anpassungsfähigerem Kapitalismus unterliegen.

Wir können hier zu einem Zusammendenken der Themen Macht und Wissen kommen: Nicht ist es nur so, dass Wissen immer auch Macht ist und nur die Mächtigen zur Festigung ihrer Macht zu den Dummen sagen würden: Nichts wissen macht nichts. Es ist auch so, dass die Frage, was wir als wahr oder als Tatsache betrachten von Machtverhältnissen abhängt: Zur Hochzeit des Christentums galten in Europa ganz andere Dinge als wahr, als nun zu den Hochzeiten der Wissensgesellschaft. Die darunterliegenden Tatsachen bleiben freilich unabhängig davon, was irgend jemand mit Macht behauptet. Hat ein Gott diese Welt erschaffen? Die Antwort auf diese Frage mag zu jeweils anderen Zeiten und von jeweils anderen Menschen unterschiedlich ausfallen, sie ist jedoch nicht: Jein.



Das passt dazu:

1 Kommentar:

  1. "...Hier sieht man, dass man zwar debattieren kann, was in unserer "Wissenskonfiguration" alles als Stein gilt, aber nicht vernünftigerweise die Tatsache bezweifeln kann, dass es auch ohne unsere Interpretation solche Dinge gibt, die wir heute "Stein" nennen."

    Ich tat mich mit diesen (scheinbar?) unvernünftigen Gedankensystemen auch immer schwer, fand sie aber gleichzeitig spannend. Und es stimmt ja: Das Erleben/Wahrnehmen dessen, was für uns ein "Stein" ist, wäre für die Ameise etwas Anderes, nämlich ein BERG oder Gebirge.
    Und noch viel krasser, geradezu ein KOAN: Ein Planet ohne hörende Wesen. Ein Ast bricht vom Baum. Gibt es ein Geräusch?

    Was Marx angeht, so setzt seine Theorie/Prognose vom Geschichtsverlauf doch eigentlich einen entwickelten (Spät-)Kapitalismus voraus, was ja in jenen Ländern, die sich als sozialistisch/kommunistisch verstanden, nie der Fall war.
    Da sind wir jetzt näher dran, die Zentralisierungsprozesse sind schon weit gediehen...

    Damit will ich NICHT sagen, dass ich an eine Arbeiterrevolution Marxschen Sinne glaube - aber spannend wird es durchaus, indem sich die Widersprüche immer deutlicher zeigen: Wenn es immer mehr Arme gibt, wer soll dann alles kaufen, um das Wachstum am Laufen zu halten?

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