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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

29. Dezember 2018

Demokratie, Wirtschaft, Ökosystem: Wo geht es lang?

Philosophische Gespräche zum gesellschaftlichen Wandel

"Orientierung heißt zunächst: Klärung des Terrains.
Wir müssen nach moralischen und ethischen Anknüpfungspunkten
suchen und dann Situationen herstellen, von denen alle Beteiligten profitieren.
Das Problem ist unsere Phantasielosigkeit und dass zu wenig in größeren
Zusammenhängen gedacht wird." (Gesine Schwan, S. 58)

Zum Ende des Jahres 2018 scheinen wir desorientiert zu sein und es stellt sich in verschiedenster und immer drängenster Hinsicht die Frage, wie es weitergehen soll. Wo geht es hin mit dieser Demokratie, mit unserem Wirtschafts- oder gar mit dem gesamten Ökosystem. Das philosophische Wirtschaftsmagazin agora42 hat ganz passend eine Sonderausgabe zum Januar 2019 herausgegeben: Gesellschaftlicher Wandel? Sprechen wir darüber! In dieser Ausgabe sind Interviews mit 19 gesellschaftlichen Akteuren unserer Zeit gesammelt, in denen es um den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Wandel geht, in dem wir uns befinden. Das ist immer heikel, denn wer versteht schon genau die Zeit, in die er selbst eingebettet ist? Aber Interviews bieten durch das Hinterfragen und den Dialogcharakter immer eine ganz besondere philosophische Handhabe von Gedanken. Solche Dialoge taugen besonders zur Orientierung, zur Anregung unserer Phantasie und zum Denken in größeren Zusammenhänge. Es ist also aus meiner Perspektive für ein philosophisches Magazin eine ganz besonders brilliante Idee, einmal nur Interviews zu veröffentlichen.

Ich habe hier neun Zitate, die besonders zu mir sprechen, herausgegriffen und kurz in meinem eigenen Bedeutungshorizont beleuchtet. Vielleicht spricht da auch das eine oder andere Zitat zu euch?

1. Dezember 2018

Die Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen

Hans Blumenberg und die Moral der Sterblichen

Der 1920 geborene und 1996 gestorbene, stets im Verborgenen denkende Philosoph Hans Blumenberg ist bekannt für seine intellektuellen Untersuchungen darüber, was es heißt, ein Mensch zwischen Mythen, Metaphern und existenzieller Obdachlosigkeit zu sein. Allein die Titel seiner vielen Werke lassen uns die zahllosen Möglichkeiten ahnen, das Leben zu verstehen: "Die Lesbarkeit der Welt", "Schiffbruch mit Zuschauer", "Höhlenausgänge", "Die Vollzähligkeit der Sterne" oder "Zu den Sachen und zurück". Das sind lyrisch-philosophische Titel, die ein ganzes Metaphernkonzert des Welterklärens in einem anklingen und uns so verstehen lassen, dass unsere Vorstellung von Wirklichkeit nie ganz logisch-begrifflich erschlossen werden kann, sondern dass wir auf Bilder angewiesen sind, um uns zu orientieren. Das ist beides: radikal klug und wunderschön.


Das poetische Weitwinkelobjektiv des Blumenberg'schen Geistes

In seiner Schrift Lebenszeit und Weltzeit geht Blumenberg unter anderem der Frage nach, was uns Menschen zur Bosheit und zu unmoralischem Handeln treibt. Den Rahmen bildet ein "Absolutismus der Wirklichkeit", dem wir nicht entkommen können: Die Sterblichkeit, die Endlichkeit des einzelnen Menschen vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass die Welt weiterexistiert, auch wenn wir als Individuum verschwinden werden. Generell hält Blumenberg im Anschluss an Arnold Gehlens Anthropologie für den Einzelnen und die Gattung "Mensch" die überlieferten Mythen für einen entlastenden Aspekt angesichts der menschlichen Mangelhaftigkeit. Die Kränkung jedoch, dass man selber sterben müsse, während das "Umeinenherum" einfach weiter existiere, ist auch mit Mythen nicht für jeden zu heilen:

24. November 2018

Die Zeit soll fließen, nicht drängen

Ein Text von Thomas Marti

Eine Ethik des Gleichmutes ist die Grundlage, um Synchronisationskrisen zu entschärfen oder zu verhindern und die Spannung zwischen Lebenszeit, Echtzeit und einem sich zersetzendem kollektiven Zeitrhythmus zu lösen.

Sind wir nicht alle wie Migranten auf der Flucht?

Was könnte der Mensch jenseits der Geburt, des Konsums, der Effizienz und des Selbstverkäufertums sein? Was könnte er sein, jenseits der Maxime, dass Leistung und Performanz ihm einen Platz auf dieser Welt zuweisen? Und was könnte das Wirtschaften jenseits von Indentitätsmarketing sein? Ich stelle mir diese Fragen als unsichtbare und verstellbare Wände von Räumen vor, in denen Denken Weiterdenken bedeutet. Weiterdenken in diesem Sinne könnte bedeuten, dass wir Brücken zwischen dem Unverfügbaren und dem Unvorhersehbaren bauen. Erst dann sind wir unterwegs!

Wohlfühlen, wo wir nicht hingehören 

Erst wenn wir uns auch da niederlassen und wohlfühlen können, wo wir nicht hingehören, wenn wir uns gelöst haben von Flucht und Migration, können wir Passanten in dieser einen und endlichen Welt sein. Erst in den Räumen der eingangs genannten Fragen wird ein Änderungsprozess zu einem echten Unterwegsein. Das könnte bedeuten, sich von den Sitzplätzen einer "Guided-Tour" zu erheben und sich von so immunisierten Fragen zu lösen wie "Was brauche ich, um mich entwickeln zu können?" "Wozu brauche ich das?" "Wie bediene ich das?" "Mit wem vernetzte ich mich?"

Ein gutes und gedeihendes Leben zu führen, könnte bedeuten, ein Leben im Sinne einer "Ethik des Gleichmutes" zu führen. Dieses Leben wäre geprägt von der Würde als Muster des Handelns und Tuns. Eine solche Ethik widerspricht dem Gedanken der Migration und setzt ihr Resonanz als Beziehungsmodus entgegen.

4. November 2018

Die verschiedenen Arten, böse zu sein

Wie können wir unser Moralempfinden heute noch begründen?

Der britische Philosoph Julian Baggini, Autor von Ich denke, also will ich und Das Schwein, das unbedingt gegessen werden möchte schreibt in seinem Beitrag zur Sonderausgabe des Philosophie Magazins "Das Böse":

"Die Annahme, dass Übeltäter in der Regel böse Absichten hätten, macht uns blind für die unzähligen Arten, Böses zu tun, ohne dass ein derartiger Wunsch dahinter steht." (a.a.O. S. 39)

Denn viel öfter, als dass das Böse auf das Konto von Sadisten, Psychopathen – Bösewichten geht, geht es auf das Konto von gutmeinenden Personen. Wenn wir diese – nehmen wir Jihadisten, Rassisten, religiöse Fanatiker oder auch politische Pragmatiker – Menschen mit nicht zu ende gedachten, guten Absichten als Bösewichte, Kranke, Psychos oder Monster sehen, dann werden wir ihre Anliegen nicht verstehen und zu keinen Ergebnissen in der Bekämpfung des Bösen kommen.

"Blicken wir auf die Geschichte des menschlichen Bösen zurück, so haben das selbstgerechte und das zweckmäßige Böse jeweils zweifellos unendlich viel mehr Unheil angerichtet, als das sadistische Böse [...] Die Grausamkeit der religiösen Verfolgung und der Fanatismus idiologischer Revolutionen führten dazu, dass Millionen von Menschen gefoltert und ermordet wurden. Und wir können nicht behaupten, solche Gräuel seien in unserer zivilisierten Gesellschaft heute undenkbar, solange viele, vielleicht sogar die meisten Menschen ihr Moralempfinden entweder religiös oder utilitaristisch begründen." (a.a.O.)

Das Böse geschehe weniger dort, wo üble Absicht herrscht, sondern am meisten dort, wo Gedankenlosigkeit, Gleichgültigkeit und Mangel an Reflexion herrschten. Für den Triumph des Bösen reiche es aus, wenn normale Menschen nicht nachdenken. Um Böses zu verhindern, sollten wir wissen, wo es sich am ehesten und unauffälligsten Bahn bricht. Deshalb hier in kurzer Zusammenfassung (a.a.O. S. 34 - 39):

20. Oktober 2018

Eine Superelite für das Volk

Neoliberale Eliten und reaktionärer Populismus

Eines der größten Rätsel unserer heutigen Gesellschaft ist für mich die Frage, warum "die kleinen Leute", also die gefühlten Verlierer der Globalisierung, jene reaktionär-populistischen Kräfte begeistert unterstützen und wählen, die sie nur noch mehr ins Verderben reiten, wenn sie erst einmal an der Macht sind. Und noch ein Rätsel am Rande: Warum sind die Populisten heute – denken wir an von Storch, Höcke oder Trump – immer so eine krude Mischung aus dem Panoptikum der gesellschaftlichen Merkwürdigkeiten?

Progressive und reaktionäre Eliten

Ein Glück haben wir Donald Trump, mit dem uns an einem Lebend-Experiment (USA) gezeigt wird, was passiert, wenn man einen reaktionären Populisten an die Regierung bringt, der behauptet, er würde wie ein Robin Hood die Elite bekämpfen, um den Armen zu geben. Unterm Strich sieht man, dass Trump einfach nur eine hardcore-neoliberale und nationalistische Wirtschaftspolitik fährt, die zugunsten einer kleinen Elite (die Share Holder, Immobilienbesitzer und Rohstoffmagnaten) den Reichtum im Land von unten nach oben noch schneller umverteilt, als das ohnehin schon passierte. Anders als der progressive Neoliberalismus, der eine Bereichung der Wenigen über ethnische und politische Grenzen hinweg (Globalisierung) und unter Einbeziehung moralisch legitimierender Elemente wie Umwelt- und Naturschutz, Feminismus, Multikulturalismus, gleichgeschlechtliche Ehe und so weiter unterstützt, sucht der reaktionäre Neoliberalismus à la Trump oder AFD einen nationalistischen oder zumindest identitären Weg, um seine wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Statt globale Wirtschaftseliten über alle Identitäten (national, geschlechtlich etc.) hinweg zu bereichern, möchte er eine kleine nationale Elite bereichern.

Nun ist der nationalistische Neoliberalismus, wenn man als "kleiner Mann" nur zwischen ihm und dem progressiven Neoliberalismus wählen könnte, doch der in den meisten Hinsichten schlechtere und auch weniger erfolgsversprechende Weg. Weniger erfolgsversprechend, weil eine globalisierte Wirtschaft kaum noch zurückzudrehen ist und wenn, dann nur unter hohen wirtschaftlichen Schäden für alle und besonders für "die kleinen Leute" (siehe die drohenden Handelskriege). Zudem ist dieser Weg für "die kleinen" Leute noch objektiv schlechter, weil er viele erreichte persönliche Freiheiten (Zollgrenzen, Ehe für alle, Gleichstellung der Geschlechter), gesellschaftliche Errungenschaften (z.B. die zum Überleben nötige Klimaziele) und Sozialleistungen (siehe Krankenversicherung oder steuerfinanzierte Wohlfahrt) im Namen einer vermeindlich guten alten Zeit wieder zurückdreht.

21. September 2018

Emma und das bisschen Haushalt

Mentale Last nur für Frauen?

Die französische Feministin und Zeichnerin Emma hat mit ihrem etwas schwierigen Begriff "mentale Last" oder "charge mentale" (franz.) / "mental load" (engl.) ziemliches Aufsehen erregt. Den Begriff hat sie für Frauen und vor allem Mütter geprägt, die das Gefühl haben, ihre Männer hülfen nicht im Haushalt oder nur dann, wenn man ihnen sagt, was zu tun sei. Männer kennten diese mentale Last nicht. Die allgemeine Aussage, dass das regelmäßig auf heterosexuelle Paare zutreffe, gehört dabei zum Kern ihrer Botschaft, mit der sie um die Welt zieht. Muss man ihr nicht völlig Recht geben, dass es inakzeptabel ist, wenn ihr Mann Hausarbeiten nur dann ausführt, wenn er darum gebeten wird, aber insgesamt erwartet, dass sie zuständig ist und sich im Wesentlichen darum kümmern wird?

"Die mentale Last bezeichnet die Tatsache, immer an alles denken zu müssen. Daran denken, dass die Q-Tipps auf den Einkaufszettel müssen, dass heute der letzte Tag ist, den wöchentlichen Gemüsekorb zu bestellen [...] dass die nächste Impfung ansteht oder dass der Mann kein einziges sauberes Hemd mehr hat."

Ich empfehle, die deutsche Version einmal hier zu lesen: Du hättest doch bloß fragen müssen! Auf den ersten Blick, ist das in der Tat skandalös. Und auch auf den zweiten Blick würde ich sagen, dass beide Partner offenbar etwas völlig falsch verstanden haben müssen, wenn sie sich um seine Hemden kümmert. Und da sind wir schon beim ersten Punkt, der mich an Emmas vorgeblich allgemeingültigen Diagnose der mentalen Last in Paarbeziehungen stört.


16. September 2018

Souveräne Vorbilder oder von den Umständen überfordert?

Nicht nur für Eltern: zur Selbsterziehung in den Wald

Mein zwei Jahre alter Sohn hatte heute früh Schwierigkeiten, seinen LKW mit Kastanien zu beladen und sagte plötzlich laut und frustriert "fuck!" Als ich klein war, haben Erwachsene ihren Kindern noch den Mund mit Seife ausgewaschen, dabei war es doch schon immer so offensichtlich, dass sie sich wohl besser selbst den Mund hätten waschen sollen. Denn schlimme Wörter oder Verhaltensweisen entwickeln Kinder ja nicht aus sich selbst heraus, sondern sie übernehmen das von uns vorgelebte Verhalten. Das macht mir ehrlich gesagt große Sorgen und ich komme zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben unter den Druck, auch in der Freizeit ein gutes Vorbild für jemanden anderen sein zu müssen.

Selbsterziehung im Wald (Foto: Gilbert Dietrich, CC BY-SA 2.0)

30. August 2018

Sinn stiften in einer sinnlosen Welt

Der Humanismus als Religion

Religion is interested above all in order.
Science is interested above all in power.
(Harari S. 231)

Religion stellt Ordnung über Sinnangebote sicher. Wissenschaft ermächtigt uns, uns "die Welt untertan zu machen". Was aber ist mit Sinn und Ordnung, wenn die Wissenschaft die Religionen verdrängt? Von Macht allein können wir schließlich nicht leben.

In seinem Buch Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen beschreibt Yuval Noah Harari die Moderne als so einen faustischen Deal: Wir Menschen werden immer mächtiger, erheben uns wie Prometheus gegen die Götter und über die Natur und müssen dafür nur einen auf den ersten Blick kleinen Preis bezahlen – den Verlust eines großen allumfassenden Sinns. Denn wenn die großen Erzählungen von Göttern und ihrem kosmischen Plan von heiligen Schriften zu bloßen Märchen werden, dann macht uns das einerseits frei von den Fesseln des Glaubens und seinen Dogmen und erlaubt uns damit so zu leben, zu forschen und selbst zu erschaffen, wie wir das für richtig halten. Auf der anderen Seite sind wir damit eben nicht mehr eingerahmt in diese großen Erzählungen, die uns und unserem Leben einen Sinn, unserem Leiden einen Trost und der Menschheit ihre Ordnung geben können.

Aber, so Harari, wir haben einen Weg heraus aus diesem Dilemma gefunden. Wir haben es geschafft, der Welt einen Sinn zu geben, der nicht auf einem großen kosmischen Plan oder auf das Wort Gottes zurückgeführt werden muss. Dazu haben wir eine neue Religion entwickelt, die in den letzten Jahrhunderten die ganze Welt erobert hat: Der Humanismus.

22. August 2018

Die dümmsten Vertreter der Postmoderne

Donald Trump – die Fiktion eines Präsidenten

Donald Trumps Präsidentschaft ist eines der bedeutendsten gesellschaftlichen und auch philosophisch relevantesten Symptome unserer parademokratischen Moderne. Zum einen wegen ihres postfaktischen Charakters, also dem Umgang mit dem, was man gemeinhin Realität und – in Korrespondenz mit dieser Realität – Wahrheit nennt. Zum anderen ist sie signifikant als Manifestation der immer populärer werdenden Ablehnung demokratischer Standards und Institutionen, also als Ausdruck des hypdermodernen Populismus mit all seinen wirtschaftlichen und medialen Voraussetzungen.

Make everything great again (Graffiti von Mindaugas Bonanu und Dominykas Čečkauskas - CC 4.0)

21. Juli 2018

Dein Gehirn ist zum Gehen da

Protest gegen die tägliche Tretmühle

Wozu haben wir ein Gehirn? Der Neurowissenschaftler Daniel Wolpert sagt, damit wir uns bewegen können. Deswegen brauchen stationäre Lebewesen wie Bäume auch kein Gehirn. Sein schönstes Beispiel für die Plausibilisierung seiner These ist die sogenannte Seescheide (Ascidiae). Dieses Tier bewegt sich am Anfang seines Lebens, um einen geeigneten Platz zu finden, auf dem sie siedeln kann, damit sie sich für den Rest des Lebens nicht mehr bewegen muss. Und was passiert dann?

"...beim Ansiedeln auf dem Felsen, wo sie immer bleiben wird, verdaut sie als erstes ihr eigenes Gehirn und Nervensystem als Nahrung. Sobald man sich nicht mehr bewegen muss, braucht man den Luxus eines Gehirns nicht mehr." (Daniel Wolpert: Der wahre Grund für Gehirne)

Das Bewegen, das Gehen, das Wandern sind nicht zuletzt deswegen auch immer schon beliebte Themen der Philosophie gewesen. Denn die Liebe zur Weisheit (wörtliche Übersetzung von Philosophie) hat ja gewissermaßen das Gehirn als seinen Fetisch und ohne Bewegung kein Gehirn und ohne Gehirn keine Weisheit und erst recht keine Liebe.

Gehen in der Schlucht von Verdon, Frankreich

5. Juli 2018

Wie es kam, dass wir die Erde beherrschten

Ein Mängelwesen wird durch Fiktionen zu Gott

Wer Geist und Gegenwart kennt, weiß, wie sehr es mir die Philosophische Anthropologie angetan hat, also die Frage: Was ist der Mensch? Bei aller Skepzis am Humanismus, also der religiösen Verherrlichung des Menschen und seiner unteilbaren Würde, ist es doch zulässig und eigentlich auch unumgänglich festzustellen, dass dem Menschen eine Sonderstellung im uns bekannten Kosmos zukommt. Katzen sind niedlicher und weicher, Hunde irgendwie knuffiger und liebenswürdiger, Gazellen sind schneller und Fische können besser unter Wasser atmen und schwimmen. Menschen jedoch beherrschen ganz buchstäblich die Welt mit allen Vor- und Nachteilen, die das für alle bringt.

Auf dieser Platte finden wir das Geheimnis unserer göttlichen Macht (Quelle: NASA, gemeinfrei)

Von den Vorteilen, ein Mensch zu sein

Vielleicht muss man zu den Vorteilen noch etwas sagen, denn die Nachteile für alle, die keine Menschen sind und auch für viele Menschen, liegen ja auf der Hand. Ein riesiger Vorteil für den Menschen selbst ist, dass es ihm gelungen ist, wie der Comedian Louis CK festgestellt hat, sich selbst aus der Nahrungskette herauszunehmen. Das sei ein "massive upgrade", so CK. Für die meisten Tiere ende das Leben damit, gefressen zu werden, nur Menschen stürben regelmäßig alt im Bett und könnten sich weinerlich von ihren Liebsten verabschieden. Da hat er schon Recht, ich würde es auch hassen, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit immer aufpassen müsste, dass ich nicht von Raubtieren angefallen und aufgefressen werde. Und auch, anderen aufzulauern, um ihnen die Kehle durchzubeißen, würde mir nicht immer gefallen.

27. Juni 2018

FOMO, die Suche nach der besten aller möglichen Welten

Ein Artikel von Keyvan Haghighat Mehr

Marcus Tullius Cicero ließ sich Briefe aus Rom schicken, wenn er mal nicht zugegen war, um über jegliche Geschehnisse informiert zu werden. Gute zwei Jahrtausende später fragt man nicht mehr nach Briefen, sondern bekommt sie einfach – rund um die Uhr, wenn man das möchte – und auch nicht nur dann, wenn man gerade nicht da ist.

Wofür sich Cicero entschied, war, an zwei Orten gleichzeitig zu sein – psychisch in Rom, physisch wo auch immer er gerade hin verreist war, denn er hatte wohl Angst, etwas zu verpassen. Angst davor, nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Dinge zu sein, wenn er wieder zurückkehrte, denn das nicht informiert Sein resultierte vielleicht in schlechtem Ansehen, verschlechtertem zwischenmenschlichen Dasein.

Die Menschen des zweiten Millenniums würden bei ihm wahrscheinlich FOMO diagnostizieren – die fear of missing out – die Angst davor, etwas nicht zu erleben und vor den dadurch auftretenden Konsequenzen.

Wie wohl fühlen wir uns mit endlosen Auswahlmöglichkeiten? (Averie Woodard, Unsplash License)

27. Mai 2018

Warum wir Freude an der Natur empfinden

Und was wir damit tun könnten

"Wir haben vielleicht die Natur verlassen,
aber die Natur hat uns nicht verlassen."
Michael McCarthy

Wenn der Frühling kommt und alles neugeboren wird, erneuert das auch unsere Energien und lädt uns auf mit Freude. Alles wird wieder neugeboren und das ist eine erstaunlich erfreuliche Beobachtung für endliche Wesen wie wir, deren Leben nicht zirkulär wie die natürlichen Jahreszeiten verläuft, sondern eben linear von der Geburt zum Tod.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum uns in der Natur eine Art unerklärlicher Freude oder auch Glück und Zufriedenheit überkommen? Stehen wir nicht voller Entzücken auf einem Berg und schauen jubilierenden Herzens runter ins grüne Tal? Versetzt uns nicht der Sternenhimmel in ein freudiges Erstaunen? Haben die rhythmischen Anläufe der Wellen auf den Strand nicht eine beruhigende Magie? Und sind Sonnenuntergänge nicht einfach wie ein großer Frieden, der sich über unsere Seelen legt und sie heilt?


On Being – Interview mit Michael McCarty

Wo kommt diese ästhetisch-emotionale Verbundenheit mit den natürlichen Abläufen her? Warum berührt uns die Natur so und warum sind wir trotz aller Gewalt, die wir so vielen Geschöpfen täglich antun, doch so fasziniert von Tieren? Es ist wie ein Erbe, das tiefer geht als alle Zivilisation. Wir spüren es vielleicht nicht jeden Tag, aber dieses Erbe ist so tief in uns eingeschrieben, dass es sich bei jedem Waldspaziergang wieder meldet, unseren Stress abbaut und die Stimmung hebt.

29. April 2018

Der Mensch ist das Tier, das lügen kann

Wie entfesseltes Lügen unsere Zivilisation bedroht

Sich gegenseitig der Lüge zu bezichtigen ist eine altbekannte Kampfhandlung oder ging und geht zumindest vielen Konflikten, Duellen und Kriegen voraus. Heute bezeichnet Donald Trump alle, die nicht seiner Meinung sind, als Lügner. Und er selbst wird ebenso gern als Lügner bezeichnet (allein diese Symmetrie sagt eigentlich alles darüber aus, was man über das Präsidentenamt der heutigen Zeit, der Nach-Obama-Ära, wissen muss). Oder denken wir an das neue polnische Gesetz, das die vermeintliche Lüge, es hätte Polen gegeben, die beim Mord an Juden mit den deutschen Nazis kollaborierten, unter Strafe stellt und damit selbst in einer offensichtlichen Lüge gründet.

Karikatur von DonkeyHotey (Lizenz: CC BY-SA 2.0)

15. April 2018

Wenn immer gleich alles übergriffig ist

Denken braucht spontane Zumutungen

Ich halte es durchaus für eine zivilisatorische Leistung, freundlich, diplomatisch und rücksichtsvoll zu kommunizieren. Gleichzeitig halte ich es für unabdingbar, dass man offen sprechen kann und auch mal kontroverse Thesen zur Debatte stellen kann, ohne sich gleich innerlich zu zensieren oder gar von anderen per Totschlagargument zensiert zu werden.

Weder ist das dumm-dreiste "Das-wird-man-doch-wohl-noch-sagen-Dürfen" eine Entschuldigung für Rassismen, Sexismen oder sonstige plumpe Angriffe auf den zivilisierten Umgang unter Menschen, noch sind die "safe spaces" eine diskursive Option, wie sie jetz in manchen amerikanischen Unis gefordert werden und wo nichts mehr gesagt werden darf, das irgend eine/n Anwesende/n vor den Kopf stößt. Solche Zensur im Namen der "political corectness" schafft nicht nur das Denken und Argumentieren ab, es ist auch mitverantwortlich für die Blüte des politischen Populismus, der sich zurecht gegen einen vorauseilenden Konsens im Austausch wehrt.


Wer nicht spricht, wird nicht gewürgt... Mal richgtig übergriffig

8. April 2018

Gegen die Leichtigkeit des Seins

Das einfache Leben – ein navier Traum

Minimalismus, Askese, Authentizität: das seien die Zutaten zu einem einfachen Leben, steht im Philosophie Magazin (Nr. 3 / 2018). Man könnte auch sagen: Lebensflucht, Sinnesfeindlichkeit und Egozentrik. Wie man es auch nennt, der zeitgeistige Trend zur Einfachheit beginnt mit einem Überforderungsgefühl, dem bei priviligierten Zeitgenossen Umstände wie diese drei zugrunde liegen:

  1. Zu viele Dinge umgeben uns und verlangen unsere Aufmerksamkeit und unser tägliches Management.
  2. Wir sind in einem Zeitalter angekommen, in dem unsere Begierden jederzeit erfüllt werden können. Das ist sehr anstrengend, denn es erfordert ständige Organisation, Evaluation und Investition.
  3. Wir spielen zu viele Rollen jeden Tag: Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, Lebens- oder Ehepartner, Elternteil, Autor, Künstler, Bandmitglied, Bodybuilder oder Vereinsmitglied – das grenzt an Persönlichkeitsspaltung und frisst jede Menge Energie.

Das sind Überforderungszenarien, deren Kombinationen eine wohlhabene, mitteleuropäische Existenz heute beinahe dauernd ausgesetzt ist. Das ist immer noch besser, als Hunger zu leiden oder von Krankheiten und Kriegen bedroht zu sein, aber das haben wir schon lange vergessen, deswegen kommt uns unser Leid auf hohem Niveau nicht weniger furchtbar vor.

17. März 2018

Was ist Spiritualität wirklich?

Erfahrungsbasierte Formen von Erkenntnis und Ethik

"Ich behaupte, dass die einzige Spiritualität
die Unbestechlichkeit des Selbst ist."
Jiddu Krishnamurti

Wenn jemand zu uns sagt, er oder sie lebe spirituell, dann stellt sich die Frage, was meint diese Person damit? Nicht selten geht es um eine alternative "Weltanschauung" von Menschen, die eine als kalt erlebte wissenschaftliche Welt ohne einen übergeordneten, absoluten Sinn ablehnen, ohne gleichzeitig an einen spezifischen Gott glauben zu wollen.


Spiritualität und Ekstase sind nicht dasselbe (Quelle: Paul M. Walsh, CC BY 2.0)

Was ist Spiritualität nicht?

Da hört man dann Dinge wie "alles ist Geist" oder "die Wahrheit liegt in mir", da ist schnell von Seelenpartnern die Rede, von Karma, Schicksal, Reinkarnation oder gar solchen esoterischen Konzepten wie Astralkörper. Aber das kann es doch eigentlich nicht sein. Solche Ideen zeugen eher von einer Abwesenheit eines geistigen Anspruchs an sich selbst. Eine wirkliche Spiritualität möchte genau das andere: ethische und intellektuelle Integrität als eine "innere Form von Tugend oder Selbstvervollkommnung" (Thomas Metzinger, Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, PDF-Link).

13. März 2018

Das Dazwischen ist das, was zählt

Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie

Dasein und Welt haben ihren Zusammenhang im Leiblichen, so könnte man Maurice Merleau-Pontys Hauptthese zusammenfassen. Hinter diese Erfahrung kann man nicht zurückgehen, man kann das Sein nicht weiter reduzieren, vor dem Leiblichen gibt es nichts. Merleau-Ponty ist einer der Vertreter der Phänomenologie, der Philosophie, die den Ursprung jeder Erkenntnisgewinnung in den unmittelbar gegebenen Erscheinungen sieht. Nur ist es nicht so einfach, wie es klingt: Die Welt ist nicht, wie sie uns im Bewusstsein erscheint. Wir müssen diese Erscheinung gewissermaßen zurückrechnen, wir müssen unsere Position und Perspektive, unseren Wahrnehmungsapparat, unser eigenes Verortetseins in der Welt rein- und rausrechnen, um die Phänomene wirklich beschreiben zu können. Die intuitive Wahrnehmung ist ein selbstvergessener Akt, der erst durch tiefe Reflexion über sich selbst den Phänomenen näher kommt. Maurice Merleau-Ponty zeigt das in seiner Philosophie sehr einprägsam.


Maurice Merleau-Ponty (Wikipedia)

28. Februar 2018

Prüfe dein Gewissen hinter deinem Gewissen

Was ist intellektuelle Redlichkeit?


Ich glaube, nur die allerwenigsten Menschen wollen wirklich das Falsche. Jeder, der für eine Idee argumentiert, meint es eigentlich gut. Das heißt, wir alle folgen unserem Gewissen, wenn wir für etwas einstehen, streiten oder argumentieren und meinen, dass es insgesamt gut wäre, wenn andere unserer Überzeugung folgen würden. Das Verblüffende ist, dass Menschen in ihren Überzeugungen derart fehlgeleitet sein können, dass daraus Gulags, KZs, Kriege, ja insgesamt Grausamkeiten entstehen können. Noch jeder, der diese Welt in Schutt und Asche gelegt hat, tat das aus Überzeugung, das Beste für die Menschheit zu tun. Wir wissen, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist. Ist das nicht ein großes Rätsel?

Die Bomber Bibliothekarin (Hafuboti, CC BY-SA 4.0)

11. Februar 2018

Fortschrittsmüde? Bitte wach bleiben!

Warum wir das Vertrauen in die Zukunft verlieren

Warum haben die Römer vom ersten Aufbruch nach Norden ca. 400 Jahre gebraucht, bis sie über den Kanal nach Großbritannien übersetzten, während Kolumbus im Jahr 1492 in nicht einmal 10 Wochen einen neuen Kontinent entdeckte? Der Grund ist derselbe, weshalb wir heute in einer Wissenschafts- und Fortschrittsgesellschaft leben: Wir wissen um das Unbekannte da draußen. Wir streben an, es zu finden, zu kartografieren und so zum schon Bekannten hinzuzufügen.

Erst blinde Flecken machen Lust auf Entdeckung (Frederick de Wit, 1662)

6. Februar 2018

Misanthropie, die Erkenntnis des verletzten Lebens

Fragt weiter wie die Kinder: Und wieso?

Ich habe mich immer schon zur Misanthropie bekannt, bin selbst mal ein Misanthrop, mal keiner und habe grundsätzlich große Sympathie mit Misanthropen. Denn wie ich schon im Artikel Wie wird man ein Misanthrop? geschrieben habe:

"Wie könnte man sich denn ohne Abscheu ansehen, wie wir nicht aufhören, uns in Kriegen und Massakern gegenseitig zu vernichten, wie wir vergewaltigen, foltern, die Natur in Asche legen oder in industriellem Stile Tiere quälen? Wie kann man eine solche unzivilisierte Zivilisation nicht hassen? Wie kann man sich nicht wünschen, all das hörte bald auf?"

Was mir jedoch Sorge macht, ist ein unhinterfragter Menschenhass, einer der nicht mehr verschwindet, sich verschärft und in unsere Gesellschaften einsickert. Misanthropen sind oft wütende, stolze Menschen, wutstolz auf ihre selbstgefühlte Sonderstellung, selbstgerecht in ihrer Verachtung der anderen, hochmütig in ihrer Ablehnung des Daseins. Nicht selten beziehen Misanthropen sich selbst in ihren Menschenhass mit ein, ohne das als einen Widerspruch zu ihrer vermeintlichen Sonderstellung zu sehen. Als Extrem könnte man da Emil Cioran mit seinem Satz nennen: "Ich verzeihe mir nicht, geboren zu sein."

Zarathustra – der erste Misanthrop? (Quelle: Wikipedia)

20. Januar 2018

Der Urmensch und der Motor der Geschichte

Ein einmalig raffiniertes Tier

"Es ist ein sonderbarer, surrealistischer, doch naheliegender Gedanke,
daß dieser Erdball seinen Weg weiterstürmt, umkreist von den neuen Monden,
nämlich den Paketen des giftigen Atommülls, die man in die Stratosphäre hinausschießt,
während irgendwo immer noch die Indianer den Tanz des roten Felsenhahns aufführen."
(Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 307)

Parallele Welten um 1900: Eine Saami Familie in Norwegen, Nomaden zwischen Steinzeit und Moderne

Die Geschichte ist nicht gerecht und die Evolution ein brutaler und blinder Prozess, so könnte man Yuval Noah Harari zusammenfassen, wenn er in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit der Zeit hinterher trauert, als der Mensch in Gestalt des Homo erectus, Homo ergaster, des Neandertalers und schließlich für einige zehntausend Jahre auch als Homo sapiens in kleinen Horden sammelnd und jagend durch die Wälder und Savannen streifte. Denn es blieb uns aus evolutionären Gründen nicht vergönnt, diese von Harari sehr romantisch dargestellte Lebensweise aufrecht zu erhalten. Dabei hat der Mensch als Gattung sehr wohl die meiste Zeit, nämlich zweieinhalb Millionen Jahre, als Jäger und Sammler und erst seit relativ kurzen zehntausend Jahren als seßhafter Bauer und Handwerker (und jetzt knowledge worker) gelebt.

13. Januar 2018

Good News, Bad News: Was willst du lesen?

Warum uns der mediale Pessimismus lähmt

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass du lieber schlechte Nachrichten liest. Wir haben uns auch lange schon dran gewöhnt. Außerdem ist es sowieso zu schwer, Optimist zu sein oder Optimisten ernst zu nehmen. Zum einen, weil die kolportierte Realität der Welt um uns herum ein ständiger Ansturm schlechter Nachrichten auf die Hoffnung in uns ist, dass wir ein gutes Leben haben können. Zum anderen, weil es schick ist und als intelligent gilt, wenn man schlechte Laune verbreitet. Optimisten werden von Pessimisten schnell als "naiv" bezeichnet, Pessimisten selbst hingegen, verstehen sich als Realisten. Es gibt für diese Neigung ganz archaische und tiefe psychlogische Gründe.

Beispiel eines Titelbildes (Quelle: Stiftung Deutsches Historisches Museum)

Ich wurde kürzlich in einer Diskussion als naiv bezeichnet, weil ich meinte, dass es neben den ganzen vermeintlich schlechten Menschen einer Berufsgruppe auch viele gute gäbe. Das finde ich absurd, denn der Pessimist kann einfach so pauschalisieren und sagen "alles ist schlecht" und sich damit als Realisten rühmen. Während der Optimist herabgewürdigt wird, wenn er sagt: "Moment mal, nicht alles ist schlecht, manches ist auch gut." Ist das nicht viel realistischer und vor allem wahrscheinlicher? Pessimisten haben Dank der negativity bias, also der menschlichen Tendenz, die Dinge im Zweifel negativ zu sehen, einen Realitätsbonus auf ihrer Seite.