8. August 2021

Hyperindividualisierung und die Leugnung des Realen

"Die Vernunft wird heute von der Irrationalität tyrannisiert, nicht umgekehrt."

Buch Cover: Post-pandemic Politics
Seit zwei Jahren sehen wir am "Corona-Experiment", wie bescheiden es um Rücksicht und Solidarität in unserer Gesellschaft bestellt ist und wie Partikularismus und Irrationalität aufblühen. Dafür gibt es solche Wurzeln, die lange zurückreichen und solche, die wir selbst hoffnungsvoll gesteckt haben. Seit spätestens dem 17 Jahrhundert bewegt sich der westliche Geist in den Bahnen der Philosophie, dann der Psychologie und schließlich sogar der praktisch-politischen Vernunft auf diesem inzwischen verheerenden Irrweg. 1641 erschienen René Descartes' Meditationes de prima philosophia, von denen der Satz "Ich denke, also bin ich" übriggeblieben ist. Inzwischen muss man ihn umformulieren in "Ich meine, also bin ich", aber das ist eine andere Geschichte.

Das Medium Descartes hat uns in eine Richtung des Solipsismus und Dualismus, der Subjektivität, des Idealismus' und der Vereinzelung geschickt. In dieser Flucht liegen dann auch die späteren philosophischen Entgleisungen des deutschen Idealismus, der individuumsverliebten und gegen die Institutionen gerichteten Romantik und schließlich des missverstandenen und heute durch unser aller Denken hindurchgehenden Konstruktivismus, der uns zu suggerieren scheint, dass ein jeder in sich selbst und unabhängig von anderen "seine eigene Welt" im Kopf konstruiert. So korrekt das auf der neuronalen Ebene sein mag, so desaströs sind diese Lehren, wenn sie auf zwischenmenschliche, gesellschaftliche Verhältnisse projiziert werden. Dort scheinen sie uns zu sagen, dass jeder seine eigene Wahrheit konstruieren kann, unabhängig von Fakten oder "Realitäten" eine ganz subjektive Meinung bis hin zu "alternativen Fakten" (Kellyanne Conway), wie sie der Populismus gern proklamiert, wenn andere z.B. die Klimakatastrophe verhindern wollen. Mit Harry Frankfurt könnte man auch einfach sagen: Descartes ist der Vater einer Welt voll Bullshit.

Passend zur explosiven Lage, die uns die Verkennung des Realen eingebracht hat, hat der amerikanische Soziologe und Design-Theoretiker Benjamin H. Bratton ein Buch mit dem Titel The Revenge of the Real geschrieben: Die Rache des Realen. Schon der Titel sagt das Wesentliche: Wir haben uns in eine stimmungs- und meinugsgeleitete Parallelwelt verabschiedet, die das, was wirklich passiert, jederzeit in das uminterpretieren lässt, was jemand gerade benötigt, um seine Ziele zu verfolgen oder seine kognitiven Dissonanzen auszuhalten. Mit verheerenden Folgen für unsere Gesellschaft und den ganzen Planeten.

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