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23. Juni 2011

Erinnerung und Vergessen in der hyperthymestischen Gesellschaft

Haben wir verlernt zu vergessen?

Erinnerung und Vergessen sind beides lebensnotwendige Fähigkeiten, sie konstituieren unsere Persönlichkeiten, aus ihnen formen wir unsere Wirklichkeit. Das eine ist dabei so wichtig wie das andere. Das ist offensichtlich, wenn es ums Erinnern geht. Aber wer will schon vergessen?

forget about the sunshine when it's gone
Die Sonne vergessen, wenn sie untergegangen ist (Meg Wills via Flickr Lizenz CC)

Menschen, die unter dem hyperthymestische Syndrom leiden, können sich an beinahe jede Minute ihrer Vergangenheit erinnern und verbringen unproportional viel Zeit mit dem Nachdenken über die Ereignisse ihres Lebens. Sie können das nicht kontrolliert tun, das wäre vielleicht beneidenswert. Ihre Erinnerung drängt sich ihnen auf, sie sind ihr zwanghaft unterworfen. Die bekannteste Patientin Jill Price erinnert sich an jeden einzelnen Tag ihres Lebens bis zurück zu ihrem 15 Lebensjahr.

Fakten werden zur Geschichte

Das Vergessen von Schmerzen, die einem zugefügt wurden oder von schamvollen Momenten, die man sich selbst zuzuschreiben hat, aber auch von Ungerechtigkeiten und sogar Verbrechen, die einem angetan wurden, ist eine Voraussetzung für ein glückliches Leben und Zusammenleben. In der Familie, im Zusammenleben und unter Freunden müssen wir vergeben und vergessen. Zivilisierte Gesellschaften haben das Vergessen in ihre Rechtssysteme eingebaut. Straftaten verjähren, Lebenslänglich ist nicht gleich ein Leben lang. Dabei vergessen wir nicht streng genommen alle Fakten. Aber die emotionalen Färbungen verblassen, Fakten werden weicher und machen der Geschichte Platz. Wir werden milde im Alter, weil die Verletzungen vernarbt sind und die ehemals so eindeutigen Wahrheiten, die unseren Gerechtigkeitssinn in Feuer und Flamme gesetzt haben, werden relativiert. All das ist menschlich und gut.

Macht vergesslich sein glücklich?

Ich habe sogar den heimlichen Verdacht, dass vergessliche Menschen im Zweifel die glücklicheren sind. Mir wird schon immer von Freunden nachgesagt, dass ich vergesslich sei. Und wenn ich darüber nachdenke, dann fällt mir auf, dass ich ganz wenig in der Vergangenheit lebe. Ich denke wenig zurück an die schönen oder tragischen Momente. Ich bin auch nicht nachtragend und versöhne mich schnell. Die Frage ist nun, ob ich all das bin, weil ich vergesslich bin? Ich kann mir auch vorstellen, dass es anders herum ist: Da ich nicht so interessiert bin an dem, was war, übe ich das Erinnern auch nicht. Und was man nicht übt, verlernt man. Also macht vergesslich sein vielleicht nicht glücklich, sondern glücklich sein vergesslich?

Hyperthymestische Gesellschaft - Verlernen wir das Vergessen?

Erinnern ist gleich speichern plus wiederfinden. Das ist eine Operation, die wir als Menschheit immer besser machen. Von der Höhlenmalerei über das Singen von Liedern, das Schreiben von Büchern bis hin zum endlosen speichern und wiederfinden all der Information auf unseren Festplatten und im Internet - wir vergessen immer weniger und erinnern immer mehr. Ist das schlecht? Na ja - für einige Leute schon, z.B. wenn ihre Gesichter als die von Kriminellen für immer in irgendwelchen Bilderdatenbanken von besorgten Mitbürgern für alle auf ewig sichtbar gespeichert werden. Oder für die, deren peinliche Party-Eskapaden von anderen aufgenommen auf YouTube landen. Vor allem der Staat macht mit Aktionen wie Vorratsdatenspeicherung reichlich Gebrauch von der digitalen Speicherrevolution.

Auf der individuellen Ebene sehe ich kaum einen großen Unterschied zu vorher. Klar habe ich noch irgendwo alle meine E-Mails seit 1999. So wie meine Oma noch ihre alten Briefe hat. Aber ich lese sie nicht mehr, vielleicht habe ich nicht einmal mehr die Software, um meine Dateien alle auslesen zu können. Natürlich habe ich ca. 1 Million Fotos mehr als meine Eltern je in ihrem Leben angesammelt haben. Aber welche Bilder sehe ich mir denn hin und wieder an? Die, die ich mal ausgewählt habe und in ein Online-Album kopiert oder die, die ich mal ausgedruckt habe. Mit anderen Worten: Ich erinnere nicht mehr, als vor der digitalen Revolution. Denn ich speichere zwar, aber finde nichts wieder. Ich könnte jedoch, wenn ich wollte.

Für mich ist das ein Fortschritt, eine zusätzliche Wahlmöglichkeit. Von all dem Untergangsgesang beim Auftauchen neuer Techniken halte ich gar nichts. Das gab es schon immer. Auch das Buch wurde verteufelt und dann wurde es doch zum Sinnbild von Kultur und Intelligenz. Vielleicht ist es sogar anders herum und wir werden wieder vergesslicher, je weiter wir uns vom Buch entfernen. Als ich in den 80er Jahren zur Schule ging, mussten wir noch die John Maynard von Theodor Fontane auswendig lernen. Inzwischen lernen wir gar nichts mehr auswendig, weil wir es sowieso bei Bedarf an seinem Speicherort, den wir in der Hosentasche bei uns tragen, wieder finden. Statt Erinnern, wird das Finden zur neuen Kompetenz. Meine Hoffnung wäre, dass wir durch die neue Vergesslichkeit glücklicher werden.

Was meinen Sie?



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5 Kommentare:

  1. Für die digitale Speicherrevolte ist doch jeder selbst verantwortlich. Jeder von uns kann seinen eigenen Horizont bestimmen und mit selbstbestimmter Wirkung agierend und abwägend unterwegs sein. Unter bestimmten Gesetzmäßigkeiten lebend und diese Akzeptanz darin für sich und andere zu finden, gelingt schwer.
    Ich habe in meiner Beobachtung eines Menschenkreises festgestellt, dass ERINNERUNGen ein maßgeblicher Faktor für die weiteren Entscheidungen im individuellen Leben sind. Diese Erfahrungen sind auch nicht zu unterschätzen - sie haben mächtige Auswirkungen bei einigen Zielgruppen.
    Es gibt eine nicht zu unterschätzende Masse an Menschen, die in der Lage ist in der Vergangenheit zu leben.
    Es betrifft oft die Generationen, die existenziell betroffen waren, manchmal finden wir uns als Enkel oder Urenkel derer irgendwie o.s.w. wieder. Wir kaufen uns Häuser oder mieten Wohnungen an, weil wir ein romantisches Bild der Vergangenheit in uns tragen, was so nicht wahr ist. Ich bin Anhänger der Vergangenheit und der Zurückschau; ich habe in dieser Zurückschau erkennende Momente des Glücks, die mich in der Momentaufnahme glücklich machten und in der Zurückschau nicht weniger sind.
    Mich schreckte es immer ab , mit allem Möglichem zu leben, irgendwie Basal!

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  2. Ich denke, es geht gar nicht direkt um das Erinnern, sondern um die INTERPRETATION des Erinnerten. Dann macht es auch Sinn, Entscheidungen aufgrund Vergangenheit zu treffen. Abgesehen davon tun wir das sowieso, das macht unser Gehirn quasi automatisch: Situation vergleichen mit Speicherung - Ähnlichkeit mit vergangener Situation? -> Ja -> Damals gute Strategie gehabt? -> Ja -> Wieder anwenden! Tatsächlich herausfordernd empfinden wir eher die Situationen, zu denen es kein Pendant aus der Vergangenheit gibt. Deshalb ist es auch so schwierig, Gewohnheiten abzulegen, denn sie sind nichts als Automatismen des Gehirns... Ich persönlich schaue mir auch gern Momente der Vergangenheit an, egal ob Glück, Liebe, Trauer, Wut. Zur Interpretation der Vergangenheit gibt es übrigens ein gutes Buch eines finnischen Psychotherapeuten: "Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben" (Ben Fuhrmann).

    "Und was man nicht übt, verlernt man. Also macht vergesslich sein vielleicht nicht glücklich, sondern glücklich sein vergesslich?"

    Ich halte mich für recht glücklich und habe aber zum Leidwesen vieler Mitmenschen ein ausgezeichnetes Gedächtnis ;-) Ich mache das nicht absichtlich, sondern ich führe das darauf zurück, dass ich mich für alles mögliche interessiere, und dass ich "dabei" bin, wenn etwas passiert, also geistig im Augenblick da bin. Deshalb hätte ich gern die Schlussfolgerung auseinander dividiert: Ich halte mich mir glücklich, weil ich meine Vergangenheit und Gegenwart freundlich interpretiere, und ich bin nicht vergesslich, weil ich mich a) für das, was um mich herum passiert, interessiere,oft auch begeistere, wenn's geht. Und b) vergesse ich nicht, wenn ich in dem Moment geitig anwesend bin, wenn's passiert. Dasselbe lässt sich bei Kindern beobachten, z.B. in der Schule: Kann der Lehrer etwas so vermitteln, dass es begeistert (und das Kind gerade bei der Sache ist), bleibt es "hängen". Auch bei den "Großen" sind Ereignisse, die begeisterten, noch jahrelang im Kopf. Die Frage, die also mich umtreibt, ist weniger, warum vergessen wird, sondern warum soviel auf "Autopilot" läuft, so wenig im Alltag begeistert und die Unart weiter zunimmt, dass während man das eine tut (auch zuzuhören), das andere schon im Kopf hat - wie schade! Dann kann man wirklich nur noch auf seine digitalen Erinnerungen zurückgreifen, und wundert sich am Ende, dass einem die Bilder nichts sagen... Abgesehen davon halte ich persönlich es für Energieverschwendung, Dinge ohne Begeisterung zu tun (vor allem das Lernen) und nicht mal "dabei" zu sein, denn es ist viel anstrengender und aufwendiger, etwas "nur" zu tun und sich hinterher nicht mal zu erinnern, finde ich ;-)

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  3. Danke für die Gedanken! Ich glaube auch, dass es nicht einen Weg gibt, glücklich zu sein, sondern verschiedene.

    Das mit der Begeisterung sehe ich ganz genau so:
    "Kinder zeigen uns, wie wir auch als Erwachsene noch etwas ganz anderes erlernen können: Mit Begeisterung. Kinder begeistern sich für alles mögliche. Nur kommen sie dann in die Schule, wo ihnen die Begeisterung abtrainiert wird, weil man sie so erzieht, als ginge es darum, sie als Ressource zu nutzen. Das lassen sich die Kinder nur mit immer mehr Unlust gefallen und als Konsequenz fällt ihnen das Lernen immer schwerer." (Emotion setzt uns in Bewegung)

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  4. Frank Buschmann7. Mai 2015 um 11:31

    Ein sehr interessanter Artikel. Ich habe vor 16 Jahren meine Doktorarbeit über den psychologischen Hintergrund des Vergessens geforscht und herausgefunden, dass Vergessen im Prinzip ein Lernvorgang ist, etwas nicht mehr abzurufen oder zu tun. Dies ist bei vielen Tierarten wieder zu finden und ich habe es darin begründet, dass das für jedes Individuum und jede Spezies typische Zeitmuster beim Lernen ebenso "beim Vergessen" wieder zu finden ist. Es erklärt auch die Symptome des hyperthymestischen Syndroms.
    Ein spannender Forschungsbereich, dem ich mich gerne wieder widmen würde, wenn ich Zeit hätte.
    Aber Zeit ist der wesentliche Parameter beim Lernen und Vergessen :-D
    FB.

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    1. Danke für diese Ergänzung. Das ist wirklich interessant. Kann man die Doktorarbeit lesen, ist sie online?

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