4. Juni 2011

Ist Kontrolle eine Illusion?

Wie unterscheiden uns nicht - Manfish von B.R. Guthrie
Alex Rubenbauer, der von mir sehr geschätzte Blogger des Minimalismus, hat einen Artikel von zenhabits.net mit dem Titel Kontrolle ist eine Illusion übersetzt. Der erste Satz lautet: "Sie täuschen sich, wenn Sie denken, dass alles in Ihrer Kontrolle liegt." Dem kann man bedenkenlos zustimmen, denke ich. Nicht nur das, sondern man muss sich diese Wahrheit auch öfter einmal vergegenwärtigen, damit man nicht komplett durchdreht. Im Originalartikel heißt es jedeoch "When you think you control something, you’re wrong": "Wenn Sie glauben, sie kontrollierten irgend etwas, täuschen Sie sich." Dieser Satz ist offensichtlicher Humbug.

Die Menschheitsgeschichte muss bei zenhabits als Beweis dafür herhalten, dass wir angeblich nichts planen und kontrollieren könnten: Rezession, Tsunamis, Erdbeben... Alles käme immer anders, als wir dächten, denn die Welt sei chaotisch und wir sollten das besser akzeptieren. Am Ende gipfelt das in der Empfehlung zu lernen, wie ein Fisch zu leben. Denn Fische ließen sich treiben und das bekäme ihnen ja wunderbar. "Tatsächlich unterscheiden wir uns kein bisschen von diesem Fisch, aber wir denken, dass wir diese Illusion von Kontrolle brauchen."

Ein Schwarm ist noch keine Kultur
Hier finde ich es jetzt angebracht, wenigstens die größten Unterschiede zwischen Mensch und Fisch zu benennen. Man könnte auch Heringe und Delphine vergleichen, die sich ganz erheblich in ihrem Planungsverhalten unterscheiden. Aber bleiben wir beim Menschen: Aus zugegebenermaßen recht zufälligen und wohl kaum geplanten Umständen haben sich Menschen ganz erheblich anders entwickelt, als Fische. Wir sind soziale Wesen mit großen Gehirnen geworden, gerade weil wir planen und kontrollieren. Kulturproduktion ist ein Ergebnis des Aufschiebens von Impulsen. Zum Beispiel: Anstatt alle Früchte sofort zu essen oder zu tauschen, kam es einigen Menschen in den Sinn, ein paar der Früchte aufzuheben und zum Anbau von Nahrung zu benutzen. Zur Kontrolle des Anbaus kam noch aktive Bewässerung und irgendwann Düngung und Auslese hinzu. Ganz ähnliches passierte in der Viehzucht. Dies sind nur die deutlichsten Beispiele aus der Anthropologie für Planung und Kontrolle.

Hätten unsere Vorfahren nach dem von zenhabits propagierten Motto gelebt, dann wären sie wohl wirklich Fische im Schwarm geblieben: "Wir gehen jeden Schritt mit Leichtigkeit und im Gleichgewicht, leben den Moment und lassen uns davon führen, was uns Freude macht, anstatt die nächsten 1.000 Schritte im Voraus zu planen und wo sie uns hinführen sollen." Das Aufschieben von Impulsen und das planen, dessen was uns in Zukunft Freude machen könnte, hat uns zu Menschen gemacht.

Uns selbst nicht so ernst nehmen
Natürlich weiß ich, was mit dem Blogpost gemeint ist: Wir sollten uns von der Illusion verabschieden, alles planen und kontrollieren zu können. Denn diese Illusion macht Stress und lässt uns verrückt werden. Wir sollten auch einfach mal in den Tag hinein leben können, loslassen und uns treiben lassen. Vor allem sollten wir die Fähigkeit nicht verlernen, das zu schätzen, was im Moment ist, anstatt immer nur dem nächsten Reiz hinterher zu rennen. Vielleicht sollten wir uns im Angesicht des unendlichen und gewaltig-chaotischen Kosmos auch nicht zu ernst nehmen. Wenn man an dem Gedanken nicht verzweifelt, dann gewinnt man Gelassenheit und kann sich über die vielen kleinen Sorgen erheben, anstatt sich davon verrückt machen zu lassen.

Träume und Planung sind gute Freunde
Dennoch sollten wir nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Planung ist einfach nötig, um in unseren Gesellschaften zu überleben. Außerdem hat - wie oben schon dargestellt - Planung und Kontrolle auch mit Verzicht zu tun. Etwas nicht zu tun oder jedenfalls nicht sofort zu tun, sondern aufzuschieben und zu planen unterscheidet uns sowohl von bloßen Hedonisten, als auch von psychopatischen Mördern. Ich werde auch den Verdacht nicht los, dass solche wie bei zenhabits vertretenen Ansichten zu leicht als Ausreden für Fatalismus dienen: Was sollen wir uns überhaupt noch einmischen, wir können ja doch nichts ändern! Und ganz schnell ist das Leben vorbei und man erkennt, dass man gelebt wurde, anstatt selbst gelebt zu haben. Oder im schlimmsten Fall hat man ein Verbrechen an der Menschheit nicht verhindert. Dies wäre die politische Dimension, um die ich mich sorge, wenn ich so etwas lese. Auf der persönlichen Seite glaube ich, dass die, die ihre Impulse kontrollieren und für Glück und Zufriedenheit in der Zukunft planen, anstatt sich wie die Fische treiben zu lassen, eine größere Chance haben, ihre Träume zu verwirklichen und ein erfülltes Leben zu führen. Natürlich scheitern wir oft an der Umsetzung unserer Pläne, aber das lässt in keiner Weise darauf schließen, dass es besser sei, erst gar nicht zu planen. Das wäre der Garant dafür, dass wir wirklich gar nichts mehr umsetzen. Kontrolle ist keine Illusion. Alles kontrollieren zu können, das ist eine Illusion.

12 Kommentare:

  1. So lobe ich mir das. Wer vermisst noch Kommentare, wenn sich ohne sie derartige Artikel ergeben? :-)

    Danke dafür.

    Anmerken will ich noch etwas, das mir direkt unter der Übersetzung etwas unangebracht vorgekommen wäre:

    Ich habe ja selbst sogar mal einen Artikel darüber geschrieben, wie man am besten 1.000 Schritte im Voraus plant ("Lebenszielplan"). Das Problem ist, dass man sich aus den vielen Ideen, wie man sein Leben angehen kann, am Ende wohl das zusammensuchen (und ausprobieren) muss, was für seinen selbst funktioniert.

    Ich persönlich würde mir hier zwei Dinge aus diesen sich offensichtlich widersprechenden Artikeln rauspicken: Ja, ich plane grob, dass ich jetzt mein Abitur nachhole, um in vier Jahren mit dem Psychologiestudium beginnen zu können und wenn ich mich nicht zu sehr treiben lasse, werde ich das Ziel auch erreichen. Ich muss mich keineswegs festbeissen, aber es reicht schon, es zumindest ernst zu nehmen.

    Darüber hinaus versagt dann aber meine Planung bereits. Mein Plan sieht vor, in Berlin zu studieren. Aber wer sagt, dass ich da genommen werde? Vielleicht studiere ich auch in Amsterdam. Oder ich besuche demnächst eine ganz andere Stadt, in die (oder in der) ich mich verliebe, und will dort studieren. Da hilft dann eine gesunde Prise Realismus und ein entspannter Umgang mit dem "Plan B".

    Es muss nicht immer alles genau so kommen, wie wir es planen. Und in der Regel tut es das auch nicht. Es reicht schon, wenn es grob in die Richtung geht und dabei vielleicht sogar etwas Besseres entsteht, als wir uns je ausgemalt hätten, wenn wir den Dingen Raum zur (spontanen) Veränderung geben. :-)

    "Sind Sie d'accord?"

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  2. D'accord ! Ich glaube, das fasst es gut zusammen: "Ja, ich plane grob," aber "Es muss nicht immer alles genau so kommen, wie wir es planen".

    Was mich bei zenhabits etwas reizt, ist die unbedingte Wahrheit, naiv, schwarz oder weiß. Aber so ist unsere Welt zum Glück nicht.

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    1. Exs kommt immer anders als wir planen. Wichtig ist es doch ein Ziel zu haben und dieses zu erreichen mit allen Höhen und Tiefen- und wenn etwas nicht so klappt- nicht aufgeben.

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    2. Warum schwarz oder weis? Ich verstehe den zenArtikel nicht so. Aus sich heraus leben bedeutet doch nicht, dass nur positive oder negative Impulse ohne jeglichen tieferen Sinn ausgelebt werden. Auch arbeiten kann man aus einem intrinsisch motivierten Antrieb heraus, ist sinnvoll und dient letztendlich einem Ziel. Ich lebe selbst (leider) nicht danach. Ich vage jedoch zu behaupten dass ein Leben ohne jegliche Planung möglich ist, da die Triebe in uns wie Hunger und andere Bedürfnisse wie Anerkennung usw unser Verhalten steuern würden und das jeden Tag Augenblick für Augenblick. Wer braucht da Planung?

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  3. "Natürlich weiß ich, was mit dem Blogpost gemeint ist: Wir sollten uns von der Illusion verabschieden, alles planen und kontrollieren zu können."

    Der Artikel ist also ganz offensichtlich nicht verstanden worden.
    Im Zen und in anderen östlichen Philosophien werden teils drastische Metaphern und Analogien benutzt, um ein verändertes Bewusstsein zu schaffen. Über die Analogien wie über die armen Irren, die darüber brüten oder sie im Framework westlicher Logik evaluieren, wird eher geschmunzelt. Nichts für ungut ...

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  4. Wieso Zen und östliche Kulturen? Das hier hat doch gar nichts damit zu tun, im Gegenteil: Immer wieder mache ich in diesem Blog deutlich, dasswir solche Systeme gar nicht verstehen können und dass mir die selbsternannten westlichen Buddhisten ziemlich auf den Wecker gehen, weil sie unter einem Reflexionsniveau fliegen, dass ich für heute nötig halte, um überhaupt mit einander zu reden.

    Wer heute im Westen sagt "Kontrolle ist eine Illusion" der muss sich doch mit mir über diesen Satz unterhalten können, ohne sich auf nichtverstehbare Analogien zurück zu ziehen.

    Übrigens - ganz in demselben Sinne: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass alles Bewusstsein ist.

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  5. "Etwas nicht zu tun oder jedenfalls nicht sofort zu tun, sondern aufzuschieben und zu planen unterscheidet uns sowohl von bloßen Hedonisten, als auch von psychopatischen Mördern"

    Ich glaube Sie setzen ein ein Leben und handeln ohne Planung mit dem Ausleben jeglicher Impulse gleich. Sie haben es doch selbst erwähnt. Der Mensch verfügt über ein Gehirn. Und ihre unbewussten Gedanken und Gefühle ohne bewusste Kontrolle verhindern dass Sie zb Rachepläne umsetzen. Jedenfalls ist dies bei gesunden Menschen so. Falls nicht liegt bei der Person eine Störung vor. Aber die Rede ist ja hier vom normalen Durchschnittsbürger wobei dies natürlich wieder ein extra Thema ist, was normal ist...

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  6. Je länger ich über ihre Schwarz Weiß These nachdenke desto erschreckender finde ich sie. Wenn ich also nach meinen Impulsen und Bedürfnissen handle bin ich entweder ein Massenmörder oder ein Hedonist???
    Das Sie den Artikel in Schwarz oder Weiß einteilen ist lediglich Ihre Interpretation. Scheuen Sie sich vor Ihren Impulsen oder Bedürfnissen oder warum diese rigide Einteilung?

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    1. Hallo Melanie, welche Schwarz Weiß These meinen Sie genau? Natürlich sind sie nicht entweder Massenmörder oder Hedonist, sondern immer etwas von beidem ;) Ich bin ja genau gegen jede Schwarz-Weiß-Thesen und rigide Einstellungen (die ich ZenHabits unterstellt habe).

      Und wer soll sich vor seinen eigenen Impulsen scheuen? Ich verstehe Sie leider nicht so ganz, würde es mir aber gern von Ihnen erklären lassen.

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    2. Hallo Gilbert,
      ich unterstelle Ihnen ein Schwarz-Weiß-Denken ;) und behaupte Sie interpretieren ZenHabits anders als ich. Werden meine Aussagen nun klarer?

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    3. 2 Punkte an denen ich mich bei Ihrem Artikel störe sind:
      1. "Etwas nicht zu tun oder jedenfalls nicht sofort zu tun, sondern aufzuschieben und zu planen unterscheidet uns sowohl von bloßen Hedonisten, als auch von psychopatischen Mördern" -> aus seiner Mitte heraus leben bedeutet nicht, dass man nur hedonistisch lebt oder sich böse verhält. Das ist Schwarz-Weiß-Denken und der Mensch hat gott sei Dank ein Denken und Gehirn entwickelt, das sogar impulsive Handlungen überwacht und lenkt.
      2. "Ich werde auch den Verdacht nicht los, dass solche wie bei zenhabits vertretenen Ansichten zu leicht als Ausreden für Fatalismus dienen: Was sollen wir uns überhaupt noch einmischen, wir können ja doch nichts ändern!" -> wer aus sich heraus lebt, handelt und verhält sich meist mehr als jemand der z.B. in Grübelfällen festhält und vor lauter Optionen und Planungen nicht lebt.

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    4. Hallo Melanie,

      danke für die Erklärungen: Sie behaupten, dass wir ZenHabits jeweils unterschiedlich interpretiern. Da haben Sie wohl Recht, das ist eher eine Beobachtung, als eine Behauptung. Und es ist ja überhaupt nicht schlecht, dass zwei Menschen etwas unterschiedlich interpretieren, im gegenteil, so kommt Diversität in unsere Welt.

      "Aus seiner Mitte heraus leben bedeutet nicht, dass man nur hedonistisch lebt oder sich böse verhält."

      Auch damit haben Sie vollkommen Recht und ich würde nie behaupten, dass das der Fall wäre. Was Sie dann sagen, trifft ja haargenau meinen Punkt: "der Mensch hat ein Denken und Gehirn entwickelt, das sogar impulsive Handlungen überwacht und lenkt." Eben das meine ich ja, unterscheidet uns von Tieren.

      Auch zu ihrem letzen Punkt kann ich nur zustimmen: Nirgends würde ich behaupten, dass es gut sei, sich selbst im Grübeln oder Planen zu blockieren und damit das Leben zu vergessen.

      Ich weiß nicht so Recht, wo Sie unsere Differenzen sehen. Mein Punkt wendet sich genau gegen das Schwarz-Weiß-Denken, dass man in Aussagen wiederfindet wie "Planen und Denken ist schlecht" oder "impulsives Handeln und aus dem Bauch heraus entscheiden ist schlecht". Alles gehört zu unserer Natur des Menschseins dazu. Nur, wer sich auf eine Seite (schwarz oder weiß) versteift, läuft Gefahr in ein Extrem zu verfallen und die Vollkommenheit des Seins zu verpassen.

      Ich habe eigentlich den Eindruck, dass Sie das ganz genau so sehen, aber aus irgend einem Grund wollen Sie unbedingt einen Graben zwischen uns beiden ausheben. Vielleicht sind Brücken manchmal besser, als Gräben?

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