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6. Juli 2012

Wie unser Gehirn die Welt erschafft

Mysterien der Wahrnehmung

von Chris Frith
Wer glaubt, dass wir durch eine Welt laufen, die ganz genauso beschaffen ist, wie sie uns erscheint und dass es vor allem ganz einfach und selbstverständlich ist, diese Welt wahrzunehmen, der täuscht sich. So wie wir alle uns ununterbrochen in der Wahrnehmung unserer Umwelt täuschen. Das jedenfalls beschreibt Chris Frith in Wie unser Gehirn die Welt erschafft. Was man dem Buch wirklich zugute halten muss: Es ist sehr unterhaltsam geschrieben und lässt sich auch ohne viel Vorverständnis von Laien lesen. All die bekannten Wahrnehmungstricks vom Necker-Würfel über die Domino-Illusion bis hin zur Fremdkörpererfahrung meiner eigenen Hand sind hier erklärt. Das liest sich sehr gut, macht Spaß und man lernt tatsächlich etwas über die Mysterien der Wahrnehmung und der daraus resultierenden Konstruktion unserer Realität. Enttäuscht dürfte der Leser sein, der sich mehr Tiefe gewünscht hätte oder gar neue Erkenntnisse hinsichtlich der hirnphysiologischen und molekularen Grundlage unserer Wahrnehmung.

Man merkt, dass es Chris Frith vor allem auf ein leicht lesbares Buch abgesehen hat. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist, um mehr Menschen für ein ansonsten sehr komplexes Thema zu interessieren. Allerdings kann es manchmal auch ärgern, wenn er immer wieder mit seiner imaginären Figur der Englisch-Professorin kommt. Diese Figur ist die Gegenspielerin des Autors und provoziert ihn mit zweifelnden Fragen, die Phänomene der Wahrnehmung zu erklären. Das ist ein legitimer erzählerischer Trick, der manchmal eben nervt, weil man sich ein wenig wie ein Kind behandelt fühlt und nicht wie ein wissenschaftlich interessierter Laie. Aber man kann darüber hinweg lesen. Sehr hilfreich sind die kurzen fett gedruckten Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels. Mit ihnen kann man noch einmal kurz überprüfen, ob man wirklich auch das mitgenommen hat, was der Autor vermitteln wollte.


Räumlich nach links unten oder rechts oben? Der Necker Würfel: ein aufschlussreicher optischer Trick

Wir haben nur Modelle unserer Welt
Wenn ich als sachte vorgebildeter Leser eine neue Sache mitgenommen habe, dann dass unsere Gehirne ständig Vorhersagen treffen über die erwartbar eintretenden Wahrnehmungen. Von uns völlig unbemerkt überprüft das Gehirn in wahnwitziger Schnelligkeit (aber doch mit messbarer Verzögerung) diese Vorhersagen anhand der Sinneseindrücke und korrigiert dabei die gemachten Vorhersagen, bis das Modell frei von Widersprüchen ist. Das ist der Mechanismus des Lernens über Feedback-Schleifen.  Man kann das selbst am Necker Würfel oben beobachten: Wir nehmen keine 12 geraden Linien wahr, sondern unser Gehirn interpretiert das Gebilde als 3-dimensional. Mehr noch, der Würfel ist ambig: Wenn wir hinsehen, wird unser Gehirn ihn mal nach links unten (bei mir meistens der Fall) und mal nach rechts oben in den Raum gehend wahrnehmen. Hier können wir also direkt sehen, wie das Gehirn immer wieder das Modell überprüft und sich bei diesem Würfel nicht entscheiden kann.
"Ich habe gezeigt, wie unser Gehirn die äußere Welt entdeckt, indem es Modelle konstruiert und Vorhersagen trifft. Die Modelle werden durch Kombination von Sinneseindrücken und Vorhersagen oder Erwartungen konstruiert. Sowohl Wahrnehmung als auch die Erwartungen sind essentiell für diesen Prozess. Wir sind uns dieser Leistung des Gehirns nicht bewusst, sondern nur der daraus resultierenden Modelle. Das lässt die Erfahrung unserer Welt mühelos und direkt erscheinen." (S. 138)
Diese Erklärung wiederholt Frith so oft im Buch, bis man wirklich verstanden hat, dass genau dieser Prozess für jede unserer Interaktion mit der Welt zutrifft: Sei es die Wahrnehmung, eine Bewegung oder das Verständnis in der Kommunikation mit anderen. 

Paul Watzlawick
Vorurteile als Ausgangspunkt und Barriere jeden Verständnisses
Kommunikation - so sagt Paul Watzlawick - ist ein in Grenzen gehaltenes Missverständnis. Das wird durch Friths Ansatz bestätigt. Die Grenzen sind jene ständig in Schleifen ablaufenden Fehlerkorrekturen des Modelles, das ich vom anderen und seinen Gedanken habe. Frith meint, dass auch bei der Interaktion mit anderen Menschen die Vorhersagen auf Basis der Vor-Erfahrungen (meiner selbst und des anderen) zum Ausgangspunkt des Modells werden. Das heißt am Anfang der Schleife aus Vorhersagen und Fehlerkorrekturen steht ein Vorurteil. Wir haben uns angewöhnt, Vorurteile als diskriminierend abzulehnen, dabei sind sie ein ganz zentraler Ausgangspunkt jeden Verstehens. Diese Idee kennen wir bereits aus Hans Georg Gadamers Hermeneutik. In Gadamers hermeneutischem Zirkel wird ganz genau so wie in Friths Feedback-Schleife die Wahrnehmung konstant abgeglichen mit der Vormeinung. Daraus resultiert dann die graduelle Annäherung des Verständnisses an die Sachverhalte. Werden wir jedoch faul und begnügen uns mit unserer Vormeinung, ohne uns um Ab-und Angleichung zu bemühen, dann werden Vorurteile in der Tat zur Barriere jeden Verständnisses.

Die Entlastung vom Bewusstsein
Diese recht aufwendige Modellierung der Welt - ob nun in der Wahrnehmung oder dem Verständnis anderer Menschen - geschieht ohne Begleitung des Bewusstseins, was uns dazu verhilft, ein sehr stabiles, vermeintlich sofortiges und mit Leichtigkeit wahrgenommenes Erlebnis der Umwelt zu haben. Zugrunde liegen dem auch Effizienz-Prozesse: Wir können uns gar nicht bewusst mit all den Sinnesdaten befassen, das würde zu einer Überlastung führen, die uns die Konzentration auf das Wesentliche rauben würde. Es ist ein bisschen wie bei der Kodierung von Musik in MP3 - hier wird technisch versucht, "unnötige" Töne zu löschen und damit die Informationsdichte zu erhöhen (die Dateigröße zu verringern), ohne Wesentliches zu löschen. Wie der iPod unserem Ohr einen kompletten Sound vorgaukelt, täuscht uns das Gehirn in den Glauben, dass wir ganz natürlich in eine Welt eingebettet sind, die so ist, wie wir sie wahrnehmen. Am Rande erklärt Chris Frith - er hat lange zur Schizophrenie geforscht -, was passiert, wenn dieses Ausblenden all der Verarbeitungsmechanismen der Wahrnehmung und Bewegung nicht funktioniert: Man fühlt sich fremdgesteuert.* Die Entlastung vom Bewusstsein trägt also nicht nur zur Effizienz bei, sondern hilft uns, unsere eigenen Handlungen als frei gewollt zu erleben.

Grundlagen aller geistigen Fähigkeiten
Mich fasziniert Friths Gedanke, dass Kommunikation auf genau denselben Mechanismen beruht wie z.B. die visuelle Wahrnehmung der Außenwelt: Vorhersagen und ihre Fehlerkorrektur. Frith zeigt damit auf eine Fundamentalstruktur der kognitiven Fähigkeiten von Mensch und Tier. Nur wir Menschen haben es geschafft, die kognitiven Fähigkeiten so weit auszudehnen, dass wir in der Lage sind, Ideen von einem Gehirn zum anderen zu transportieren. Chris Frith nennt das: Embedded in a shared mental world. Der Konstruktivist Watzlawik würde hier widersprechen... aber dazu ein andermal mehr. Vorerst nur: Frith bleibt oft in solchen sprachlichen Bildern wie "eingebettet in einer mentalen Welt". Dadurch wird zwar intuitiv verständlich, was er meint, aber es bleibt auch wenig exakt. Das ist schade, denn wir hätten ja gerne ganz genau erfahren, wie unser Gehirn die Welt erschafft.

Ich empfehle dieses Buch als Einstiegslektüre in die Mysterien der Wahrnehmung allen, die noch neugierig sind und sich überraschen lassen können von Konzepten, die nicht ganz konform mit der eigenen Überzeugung der Weltwahrnehmung sind.




*Frith meint, dass durch die ständige implizite Vorhersage des Gehirns, welche Wahrnehmungen wir z.B. haben werden, wenn wir unsere Hand bewegen, diese Wahrnehmungen ausgeblendet werden und uns nicht bewusst sind. Wenn diese Vorhersage nicht funktioniert oder ausbleibt, dann nehmen wir ganz direkt in den Gelenken, den Muskeln und auf der Haut jede Bewegung wahr, ganz so, als würde jemand anders unsere Hand bewegen. Das selbe Phänomen verbirgt sich hinter der Frage, warum man sich nicht selber kitzeln kann: Eben weil unser Gehirn blitzschnell vorhersagt, was passiert, werden die Wahrnehmungen ausgeblendet und es kitzelt nicht. Wenn uns jemand anders kitzelt, dann kitzelt das Unvorhersehbare, die Überraschung.

3 Kommentare:

  1. Wer sich "mehr Tiefe" wünscht und vor allem schon den sprachtlichen Trick entdeckt hat, dass bei Publikationen dieser Art selbst dann von "der Welt" die Rede ist, wenn real die eigene "Vorstellungswelt" gemeint ist, der könnte Weiterführendes in dem Buch "Das geistige Auge" von Colin McGinn finden. (Originaltitel "Mindsight", dt. beim Primus-Verlag, 2007 - s. hier)

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  2. Ja, Frith fand ich auch eine spannende Lektüre. Gestern abend habe ich eine Doku zum Thema Musik gesehen, wo genau diese Konstruktions- und Abgleichs-Fähigkeit des Gehirns bei dem Behelf eines künstlichen Gehörgangs genutzt wird: Tauben Kindern, auch von Taubheit bedrohten Erwachsenen können mittels Einbau/Aufsatz von Empfänger/Sender Impulse ins Gehirn geleitet werden, die in eine akustische Wahrnehmung umgesetzt werden. Von einer Erwachsenen erfuhr man, dass es sich anfangs anhören würde, wie "R2D2" aus Starwars, also mehr ein Pfeifen, dass sich das nach und nach aber reguliert - hier kommt also die Korrekturfunktion zum Tragen, so dass die Dame mittlerweile wieder Klavier spielen kann. Super faszinierend. Wen's interessiert: http://www.3sat.de/page/?source=/wissenschaftsdoku/sendungen/163475/index.html

    Zum Abschluss: Wie das Gehirn das macht, ist tatsächlich noch ein Rätsel!

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  3. endlich Zeit gefunden mich in Chris Frith Buch zu vertiefen...
    Der 'homo imaginans' vgl. McGinn ist faszinierend zu lesen.
    Die Englisch-Professorin fand ich lustig:
    Bezeichnenderweise geht es im Kern um Kooperation/Konkurrenz und 'Spiel'-'Theorie'
    http://ed.iiQii.de/gallery/Science-TheOnlyNews/ChrisFrith_ucl_ac_uk

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