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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

8. August 2012

Der Übermensch in uns und das richtige Leben

Den Schaffenden, den Erntenden, den Feiernden will ich mich zugesellen:
den Regenbogen will ich ihnen zeigen und alle die Treppen des Übermenschen.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten jeden Moment Ihres Lebens unendliche Male erneut durchleben, wieder und wieder bis ans Ende der Zeit. Wer kann das ertragen? Nur der, der das Leben in all seinen Facetten bejaht und keine Reue kennt. Wenn Sie mich fragen, ist das ein bisschen viel verlangt. Wir alle erleben Momente, die wir nicht noch einmal erleben möchten: schmerzhafte Besuche beim Zahnarzt, der Tod einer geliebten Person oder eine öffentliche Blamage. Es wäre nicht menschlich, solche Momente im Leben nicht zu bedauern. Wäre es übermenschlich? Wir wollen es untersuchen und erkunden, wie man solch einem Ideal wenigstens in Ansätzen näher kommen könnte.

Der Begriff Übermensch ist älter als unsere Zeitrechnung, zuletzt aber durch Nietzsche populär geworden und dann durch die Nazi-Ideologie des 20. Jahrhunderts diskreditiert worden. Nietzsches Übermensch hat zwei Seiten: Den nach Selbsterkenntnis, Kreativität und Entfaltung im besten Sinne strebenden, der keine Götter oder Ideologien benötigt, sondern auch im Denken frei ist. Und den biologischen Supermann, der durch Züchtung der Masse überlegen ist. Dieser biologische Übermensch ist zurecht nach den Katastrophen der selbsternannten Herrenmenschen diskreditiert. Auch wenn man sich selbst - in nietzscheanischer Manier - kein Denkverbot auferlegen will, wird man den Gedanken ablehnen wollen, wenn man akzeptiert, dass die kulturelle Raffinesse des Menschen gerade darin zeigt, dass der Gedanke der Solidarität über dem des Recht des Stärkeren triumphiert.

Werde, der du bist
Der andere Übermensch jedoch, das sich entfaltende und immer stärker werdende Individuum, dieses Konzept ist interessanter als je zuvor. In einer Zeit, in der Jahrhunderte alte Säulen des menschlichen Spiritualismus und seiner damit einhergehenden gesellschaftlichen Strukturen ihre Sinn gebende Rolle verloren haben, wird es um so wichtiger, dass wir in der Lage sind, uns selbst einen Sinn zu geben, uns unserer Anlagen gemäß zu entfalten und somit über unser derzeitiges Selbst hinaus zu wachsen. Genau das war Nietzsches Stoßrichtung gegen den Nihilismus: Die Entfaltung des Individuums, das Hinauswachsen über die vermeintlichen Grenzen und Sinnlosigkeiten. In unsere modernen Abwesenheit von Ideologien und Religionen kommt der Philosophie - die ja nach der Antike gern zum Steigbügelhalter solcher Ideologien und Religionen gemacht wurde - wieder eine stärkere Rolle in ihrer ursprünglichen Funktion zu: durch Liebe zur Weisheit lernen, ein gutes Leben führen. Das ist die Philosophie als Werkzeug zur Lebensbewältigung. Sie kann uns helfen, das Leben in seiner Vielseitigkeit zu interpretieren, eine uns angemessene Sprache für seine Phänomene zu finden und Lösungen zu entwickeln, wie wir mit seinen Herausforderungen umgehen.

Peter Sloterdijk - Pop-Professor für Philosophie und Ästhetik und ein Nietzschekenner - nennt diesen Drang nach Entfaltung die Vertikalspannung*: "Diese Spannung wird im Innern eines Menschen aus dem Bild eines zukünftigen Selbst erzeugt - das Selbst eines Könners, das man durch Übung hervorbringen kann." Hier findet sich eine Parallele zu Nietzsches Aufruf Werde, der du bist! Dieser Übermensch ist immer schon in jedem von uns angelegt, er muss nur entfaltet werden. "Nur entfaltet" ist allerdings leicht gesagt, denn es bedarf stetiger Übung und Disziplin, so über sich hinaus zu wachsen. In jeder Gesellschaft gibt es diese Übermenschen, meist versinnbildlicht in Figuren wie dem Weisen, dem Schamanen oder dem Mönch. Der Witz ist jedoch, dass wir alle diese Vertikalspannung in uns spüren, aber - obwohl es alle könnten - nur einige diese Spannung bewusst annehmen und in eine ihr Leben bestimmende Energie umwandeln. Es ist leichter, die Sehnsucht nach einem anderen Leben unter einem Haufen Gegenständen, zu viel Arbeit, gescheiterten (oder geglückten) Beziehungen und etwas Alkohol verschwinden zu lassen.

Gehetzt und nicht gezogen
Sloterdijk diagnostiziert, dass zwar auch ohne diesen hohen Anspruch der Entfaltung des Selbst die meisten von uns bereits überfordert sind. Das liege aber daran, dass wir in der Regel "von hinten gehetzt" und "nicht von oben gezogen" werden. Das heißt, wir lassen uns Angst um unsere Arbeitsplätze oder unseren Status in der Gesellschaft machen, anstatt uns daran zu orientieren, was positiver Weise aus uns werden könnte, weil es in uns angelegt ist. Vertikalspannung kann, wenn sie nicht von Selbstkenntnis begleitet ist, auch dazu führen, dass wir uns getrieben fühlen:
"Ich sage, das Einzige, was vor dem verrücktmacherischen Dimensionen des Lebens in Vertikalspannung retten kann, ist, dass man sie zwar anerkennt, aber sich nicht in selbstdestruktive Formen des Vergleichs hineinbegibt. Die Menschheit hat bis auf den heutigen Tag kein stärkeres Mittel, unglücklich zu machen, entdeckt, als den direkten Vergleich mit Überlegenen. Gleichzeitig ist das ganze Leben eine einzige Veranstaltung zur Demonstration von Differenzen zwischen Menschen, die die Sache so gut machen, wie sie können, und anderen, die es besser machen. Man muss wissen, dass der Vergleich die moralische Höllenmaschine ist, die das menschliche Leben verwüstet. Zugleich ist er unausweichlich. Man muss wissen, wie man die schädlichen Vergleiche stoppt, um den langen Lauf des Lebens genau in der Geschwindigkeit zu bewältigen, die für mich die jetzt mögliche und richtige ist.
[...]
Das ist das größte moralische Geheimnis: Wie man dem Gift des Vergleichs zugleich heilsame Wirkung abverlangt. Man kann das Gift als Gegengift verwenden, indem man begreift, du könntest an keiner anderen Stelle laufen, als du es jetzt tust, und auch angesichts deines Trainingsniveaus auch nicht schneller."
Offenbar muss also die Selbstkenntnis die Geburt des Übermenschen in uns begleiten. Wir müssen herausfinden, was für uns ganz individuell das Richtige ist. Dazu muss es uns gelingen, eine Distanz zu dem allgegenwärtigen Produkt- und Life-Style-Marketing, der Karrierebesessenheit und dem romantischen Liebesgedöns aufzubauen. Wir müssen hineinhören, uns fragen, was es ist, das uns tagtäglich aufs neue faszinieren könnte, das unser Herz höher schlagen lässt und das uns wirklich und langfristig etwas bedeutet. Das ist die erste Übung auf dem Weg der Selbstentfaltung. Nur wenn wir das herausfinden und mit Leben füllen, kommen wir dem Ideal des Übermenschen nahe, der guten Gewissens zu jedem Augenblick sagen kann: "Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdentagen Nicht in Äonen untergehn" (Faust. Der Tragödie zweiter Teil).

Was sind Ihre Augenblicke, die Sie gut und gerne bis in alle Ewigkeit und ohne Verdruss neu erleben könnten? Wenn Sie sich diese Frage zumindest selbst beantworten können, sind sie schon ein ganzes Stück geklettert auf der Regenbogen-Treppe der Schaffenden, den Erntenden und Feiernden.


*Die Zitate stammen aus einem Interview des Philosophie Magazins (Nr. 05/2012) mit Peter Sloterdijk, S. 37 - 41.

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11 Kommentare:

  1. Jaein... also so ganz ohne benennen geht es wohl nicht, denn dann würden wir alle nur aphasisch nebeneinander her meditieren und rein gar nichts würde passieren. Sie hätten dann diesen Kommentar nicht hinterlassen.

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  2. "Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden?
    Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehen, als den Menschen zu überwinden?
    Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham."

    Ich liebe Nietzsche... Ein schöner Artikel, insbesondere durch Sloterdijks Perspektive.
    Aber auch ich bin geneigt, tokumei zuzustimmen. Nichtdualismus muss auch nicht zwangsläufig zu "aphasischem Nebeneinanderhermeditieren" führen. Nichtdualismus oder wie Nietzsche sagt "jenseits von Gut und Böse" bedeutet nur, den automatischen Mechanismus des "Vergleichens" zu unterbinden und Dinge einfach als das zu benennen, was sie tatsächlich sind.

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    1. Nein, der östlich geprägte Nicht-Dualismus ist etwas anderes als Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, wo die Rangordnung der Werte jenseits gängiger Werturteile bestimmt werden sollte. Das hat mit Nicht-Dualität nix zu tun, die hätte der Philosoph mit dem Hammer dem Nihilismus zugeordnet.

      Übrigens: auch wenn die eigene Wahrheit stirbt, wird keine absolute Wahrheit zutage treten, denn sie wäre als solche immer noch in meinem Kopf und nicht außerhalb. Und sobald ich von ihr spreche, fiele sie sowieso wieder ins Meinen zurück.

      Aber nochmal anders zur Nicht-Dualität.

      Wer sich mit dem Osten beschäftigt, kennt ja sicher das Sprüchlein aus dem Shinjinmej: “Die Unterscheidung zwischen richtig und falsch führt zur Krankheit des Geistes”.

      Das wird in östlich angehauchten Foren gerne zitiert, und ich bekenne mich da auch schuldig, es getan zu haben. Nur: Wenn Sie abends am Bahnhof stehen und sehen, wie zwei Gestalten auf einen am Boden liegenden Menschen eintreten, halten Sie sich daran?
      Wäre Kindererziehung unter diesem Vorzeichen möglich? Könnten Sie als Chef zwei streitende Mitarbeiter mit diesem Zitat wieder ohne eine Entscheidung getroffen zu haben wegschicken?
      Kann ich damit bioethische, ja überhaupt ethische Fragen lösen?
      Und um klar zu stellen, was ich meine: Mag sich jeder hinsetzen und meditieren und sich aus allem raushalten: Aber dann auch bitte ohne jeden moralischen Anflug (und auch die Zurückweisung moralischer Wert- und Handlungsurteile aus der nicht-dualistischen Lebenseinstellung ist ein solches Urteil. Die Foren sind voll davon von aufgeblasenen halbesoterischem Urteilsgeschwätz über die geistvergessene Welt - das klingt wie in den Sechzigern das bigotte Christenvölklein. Dabei empfehle ich einen Blick auf die Theravadaklöster und die Mönche mit ihren 227 (Nonnen: 311) Regeln, die 80 - 90 % des Essens, dass ihnen die Ärmsten täglich spenden, wegwerfen, Geld einnehmen und auch sonst sehr an den Saustall erinnern, den man hier mal Ablass nannte. Bei einem solchen Leben kann man gut aufs Urteilen verzichten. Nicht aber, wenn Sie arbeiten oder die Verantwortung (einschließlich des Unterhalts) für Ihr Leben selbst übernehmen. Dazu ist schon Übung nötig, Zeiten der Ruhe und Zeiten der Aktivität (man kann es auch weniger barock wie der Sloterdijk ausdrücken). Aber ohne Meinung und Entscheidung?

      Viele Grüße
      Uwe Kaiser

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    2. Das ist ein guter Punkt - wie relevant sind solche "Weisheiten" für uns und unser Leben?

      Ich selbst habe mich nie mit östlicher Philosophie auseinandergesetzt oder nur vermittelt über Schopenhauer und Nietzsche. Aber liege ich falsch in der Annahme, dass östliche Philosophie-Schnipsel in ihrer vermeintlichen Einfachheit dazu verführen, dass Menschen schnell "ja" sagen, "so ist das" und damit den Denkvorgang abkürzen? Denn viele dieser östlichen Gedanken kommen in Form von "Catch Phrases" daher. Sie sind kurz und auf einem oberflächlichen Level verführerisch leicht zu verstehen. Ich glaube, das hat mich immer auf Abstand gehalten, ich traue der vermeintlichen Einfachheit nicht. “Die Unterscheidung zwischen richtig und falsch führt zur Krankheit des Geistes” - da möchte man doch noch bevor man überhaupt anfing nachzudenken "Ja!" schreien, sein Leben und Denken vereinfachen und für einen Moment sieht alles so klar und deutlich aus: Man kann sich gehen lassen und der Rückzug des "urteilenden Geistes" wird legitimiert. Wenn nichts mehr wahr oder falsch ist, dann ist das eine ungemeine Entlastung fürs Gehirn.

      So viel zu meiner Skepsis gegenüber dessen, was bei uns gemeinhin als östliche Philosophie kondensiert. Gibt es Texte oder Autoren, mit denen man anfangen kann, sich ein Verständnis östlicher Philosophie jenseits von Esoterik zu erarbeiten?

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    3. Vielleicht versuchen Sie es mit Siddhartha. Eine indische Dichtung ist eine Erzählung von Hermann Hesse (gibt es auch als DVD), oder "Der Ochse und sein Hirte bzw.auch die "zehn Ochsenbilder" oder "Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten" ein Werk des US-amerikanischen Autors Robert M. Pirsig aus dem Jahr 1974. Es ist eine Mischung aus Roman, Autobiographie und philosophischer Abhandlung. Es geht um einen Motarradtripp und den dabei entstehenden zwei Sichtweisen auf "Qualität"!
      Wenn sie "Paarbeln mögen:
      Zhuang Zi (Dschuang Dsi)
      (um 365 v. Chr.–290 v. Chr.)
      • Das wahre Buch vom südlichen Blütenland
      Hier in der Übersetzung von Richard Wilhelm. Frei zugänglich unter: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Zhuang+Zi+(Dschuang+Dsi)

      Mir hat der Hinweis gefallen und hilft bis heute:"sich an nichts zu binden" oder "zu klammern" - weder im Sinne von "das will ich haben" oder auch "dass will ich nicht loslassen" oder DAS macht mich aus..oder "wenn dieses oder jenes nicht gelingt, dann bin ich xyz". Dazu half mir ebenso folgender Gedanke: " Auch das geht vorrüber". Hierbei geht es nicht darum, sich aus der Welt zu verabschieden, sondern sich nicht an etwas i n n e r l i c h zu binden. Das macht "freier" während du dein "normales" Leben weiter führst. Das "übe" ich seit 25 Jahren insbesondere Ohne! Räucherstäbchen, Gongschlag, Kissen, Kloster oder sonstigen "Zeremonien"...Wenn sie es ganz praktisch mögen: erlernen sie die Kunst des Bogenschießens - bis "es" schießt ohne "ihre" verbissene Technik.

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    4. Lieben Dank für den Tipp. Siddhartha habe ich natürlich wie die meisten von uns zur Pubertät gelesen. Nochmal neu lesen kann nicht schaden. Aber hier bei meiner Frage nach "Texten oder Autoren, mit denen man anfangen kann, sich ein Verständnis östlicher Philosophie jenseits von Esoterik zu erarbeiten", meinte ich eher analytische Texte und nicht Prosa. Was nicht heißen soll, dass Prosa keine Erkenntnisse liefert. Tut sie schon, aber meist nicht im analytischen Sinne.

      Der Hinweis an die Bindung ist auf jeden Fall hilfreich. Bei mir endet das dann ganz schnell bei meiner Familie. Sich hier nicht zu binden, hieße, keine Familie zu haben und das wiederum hinterließe eine Wüste in mir, die einem Symeon oder jedem anderen zu Salz erstarrten Asketen zur Ehre gereichte.

      Praktische Übungen sind in der Tat sehr geeignet, den Geist zu befreien, aber das sind wir fast schon wieder bei den Asketen. Vom Jogger über den Marathonläufer bis zum Fakir ist es gar nicht so weit.

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  3. Es gibt aber auch das hier:

    "Alles ist euer Leben. Tag und Nacht, was immer euch begegnet, ist euer Leben; daher sollt ihr euer Leben der Situation anpassen, die euch im Augenblick begegnet. Verwendet eure Lebenskraft dazu, aus den Umständen, die auf euch zukommen, eine Einheit mit eurem Leben zu gestalten und die Dinge an ihren richtigen Platz zu setzen.“
    Dogen Zenji (1200-1253)

    Und die "Wir-Perspektive" ist sowieso eine schwierige Angelegenheit, so schwierig wie diejenige, aus der persönlichen Erfahrung allgemeine Gesetze ableiten zu wollen (wenn das, was Sie schreiben, nicht ohnehin ein nicht gekennzeichnetes Zitat ist.

    VG
    UK

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  4. Nietzsche ist sicher kein guter Versteher östlicher Philosophien gewesen 
    Aber aus meinem persönlichen Leben sind sie schon viele Jahre nicht mehr wegzudenken, ohne dass ich aber deshalb aus meiner Herkunft aussteigen wollte. Doch ist beispielsweise die klassische (nicht-religiöse) chinesische Philosophie (Laozi, Liezi (wohl mehrere Autoren), Zhuangzi, Menzius, Konfuizus u.v.m.) mit ihrer auf die praktische Lebenskunst gerichteten Sichtweise sowohl im Zeitvergleich als auch aus aktueller moderner Sicht europäischen Texten dieser Zeit eher überlegen. Sehr empfehlenswert hierzu neben den Originaltexten (in der richtigen Übersetzung) die beiden Bücher von Henrik Jäger über Zhuangzi bzw. Menzius. Gleiches gilt auch für manches aus dem buddhistischen Bereich, insbesondere für moderne Interpretationen, denn buddhistische Grundaussagen haben sich als sehr gut vereinbar mit neurologischen und physikalischen Erkenntnissen erwiesen, und insbesondere der Dalai Lama ist ein auch sehr wissenschaftlich denkender Mensch (empfehlenswert: Die Welt in einem einzigen Atom). Wann sagt schon einmal ein hoher Würdenträger anderer Konfessionen, dass die Klassiker seiner Religion an die Erkenntnisse der Wissenschaft anzupassen seien. Da gibt es für Katholen noch lange keine Kondome.

    Etwas anderes ist natürlich das, was hier von Anhängern daraus gemacht wird. Natürlich wird Laozi wie auch Seneca oder Plato für Manager und andere Gestresste verwurstet. Und, um es unhöflich auszudrücken, die größte Qual sind die Esoteriker und Zartgeister, die sich die Konzepte des Ostens für ihre unsägliche, simplifizierende, introspektive spirituelle Erbauungsliteratur zurechtbiegen – ein boomender Markt. Die etwas „anspruchsvollere“ Variante geriert sich dann wissenschaftlich, am liebsten natürlich quantenphysikalisch – Quantenheilung und ähnlicher Blödsinn. Allen gemeinsam ist dabei eine Zurückweisung von Vernunft, Intellekt, von Unterscheiden (siehe Nicht-Dualität) etc. unter Berufung auf die alten Quellen oder die Reden Buddhas – aber die waren halt oft an Mönche und nicht an Menschen gerichtet, die ihren Unterhalt selbst verdienen müssen. Das zweite ärgerliche Moment besteht darin, dass neben dieser Missachtung der Historie die Überwindung der falschen Ansichten vom Ich in einer Gesellschaft versucht wird, in der die Ichs gerne ochsenfroschmäßig aufgeblasen auftreten (wenn auch oft gut buddhistisch ohne Substanz) und die Introspektion dann mit dem völligen Rückzug aus dem notwendigen, aber eben lästigen und störenden Tagesgeschäft einhergeht. Da ich es noch live miterlebt konnte/musste, empfand ich den Rosenmüller-Film (Der Sommer in Orange) eine sehr treffende Beschreibung, die jederzeit auch wieder auf das Hier und Jetzt zutrifft.
    Aber trotzdem (oder gerade deshalb): Der Ansatz bleibt ein vernünftiger – im guten Sinne des Wortes. Es lohnt sich philosophisch, und es lohnt sich für den eigenen Geist, nach Osten zu schauen. Was daraus werden kann, zeigt das wunderbare (und teure) Buch von Rolf Elberfeld „Phänomenologie der Zeit im Buddhismus“, ein Juwel interkulturellen Philosophierens. Wer sich eine gute und wissenschaftlich fundierte Einführung in den Buddhismus und seine Grundlagen antun möchte, dem empfehle ich Michael von Brück (bei Suhrkamp und Zen bei Beck). Wie ein Alltag sich gestalten lässt, kann man bei Volker Zotz nachlesen.

    So, das reicht auch erst einmal.
    VG
    Uwe




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  5. Am heutigen 115. Todestag von Nietszche will ich auf Ihre Frage antworten: Es sind die Momente, in denen ich etwas Größeres erkenne, einen neuen Plan fasse und seine Umsetzung angehe, aber auch sie, in denen ich etwas Altes abstreife und es hinter mir lassen - Stirb und Werde, ganz dionysisch, wie bei Nietzsche.

    In Ihrem Text zum Übermenschen kommt mir das Kriterium des Eigene-Werte-Schaffens etwas zu kurz - denn darum ging es Nietzsche ja auch (wesentlich).

    Sich mithilfe der eigenen gedanken selbst aus dem Dreck ziehen und seine Dämonen besiegen, war ebenfalls, scheint mir, ein Impetus nietzscheanischer Philosophie. Zu seinem Todestag habe ich einen kleinen biografsichen Text verfasst - vielleicht interessant für Sie zum Verlinken?:

    http://www.buzznews.de/2015/08/25/friedrich-nietzsches-115-todestag-auf-dem-weg-zum-wahnsinn/

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    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar!

      Das Buch von Safranski habe ich auch gelesen und kann es ebenfalls vorbehaltlos empfehlen.

      Ja, eigene Werte schaffen ist sicher ein Hauptthema und Nietzsche ist entsorechend komplex, sodass man wahrscheinlich schwerlich nur alles in einem Blog-Artikel abdecken kann. Aber ein Glück gibt's ja Kommentare wie den Ihren.

      Viele Grüße!

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    2. Der unnütze Baum
      Hui Dsï redete zu Dschuang Dsï und sprach: »Ich habe einen großen Baum. Die Leute nennen ihn Götterbaum. Der hat einen Stamm so knorrig und verwachsen, daß man ihn nicht nach der Richtschnur zersägen kann. Seine Zweige sind so krumm und gewunden, daß man sie nicht nach Zirkel und Winkelmaß verarbeiten kann. Da steht er am Weg, aber kein Zimmermann sieht ihn an. So sind Eure Worte, o Herr, groß und unbrauchbar, und alle wenden sich einmütig von ihnen ab.«
      Dschuang Dsï sprach: »Habt Ihr noch nie einen Marder gesehen, der geduckten Leibes lauert und wartet, ob etwas vorüber kommt? Hin und her springt er über die Balken und scheut sich nicht vor hohem Sprunge, bis er einmal in eine Falle gerät oder in einer Schlinge zugrunde geht. Nun gibt es aber auch den Grunzochsen. Der ist groß wie eine Gewitterwolke; mächtig steht er da. Aber Mäuse fangen kann er freilich nicht. Nun habt Ihr so einen großen Baum und bedauert, daß er zu nichts nütze ist. Warum pflanzt Ihr ihn nicht auf eine öde Heide oder auf ein weites leeres Feld? Da könntet Ihr untätig in seiner Nähe umherstreifen und in Muße unter seinen Zweigen schlafen. Nicht Beil noch Axt bereitet ihm ein vorzeitiges Ende, und niemand kann ihm schaden. Daß etwas keinen Nutzen hat: was braucht man sich darüber zu bekümmern!«

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