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2. Juli 2015

Besitzen, als besäße man nicht

Ein Interview zur Spannung zwischen Freiheit und Eigentum

Thomas Gutknecht, Philosoph, Theologe, Germanist und Psychologe, wurde 1953 in Stuttgart geboren und ist seit 2003 ist er Präsident der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis. Er selbst praktiziert in dem von ihm 1991 gegründeten Logos-Institut. Themenschwerpunkte seiner Arbeit sind unter anderem Aspekte der Lebenskunst, Fragen nach Sinn und Glück, Philosophie der Zeit, der Gesundheit, der Religion sowie Theoriefragen der Philosophischen Praxis. Das philosophische Wirtschaftsmagazin agora42 hat dem Philosophen für die neue Ausgabe "Besitz und Eigentum" einige Fragen dazu gestellt, was Besitz eigentlich für ein geglücktes Leben bedeutet.

Thomas Gutknecht: Die Mitte ist etwas sehr Spannendes (Foto: Janusch Tschech)

agora42: Viel zu besitzen, wird heute überwiegend als etwas Positives angesehen. Für den Philosophen Diogenes von Sinope bestand die richtige Lebensweise hingegen darin, allem Materiellen zu entsagen. Er soll in einem Fass gewohnt und selbst noch seinen Becher weggeworfen haben, als er ein Kind aus den Händen trinken sah. War er ein Spinner?

Thomas Gutknecht: Reduktion kann sehr sinnvoll sein, vor allem wenn sie einen frei macht. Wenn der Besitz uns besitzt, dann ist das kontraproduktiv. Dann ist es unter Umständen befreiend, jemandem wie Diogenes zu folgen. Es gibt die Anekdote, dass Diogenes auf eine Bank Honig schmierte und Aristoteles aufforderte, Platz zu nehmen. Aristoteles war souverän genug, sich auf diesen Honig zu setzen, worauf Diogenes sagte: "Respekt, ich sehe, du besitzt dein Gewand und nicht dein Gewand dich." Das ist meine favorisierte Haltung: Besitzen, als besäße man nicht. In unserer materialistischen Zeit haben all die materiellen Güter einen großen Stellenwert eingenommen. Das könnte auch damit zu tun haben, dass es so etwas wie eine innere Leere gibt, eine Unfähigkeit zur Muße, die kompensiert
werden muss.

Das Konzept "Besitzen, als besäße man nicht" ist aus den biblischen Erzählungen über Jesus und seine Jünger bekannt. Auf der anderen Seite hat es gerade die Kirche zu erstaunlichen Reichtümern gebracht. Kann uns das Christentum einen alternativen Umgang mit Eigentum lehren?

Das Christentum war mit Sicherheit von derselben Idee beseelt, die auch den Kommunismus leitet: dass allen alles gemeinsam ist. Einzelne wie die Anachoreten oder die Bettelmönche gingen sogar noch über diese Auffassung hinaus und entsagten allen materiellen Dingen. Die Benediktiner haben versucht, autark zu wirtschaften und dabei großartige Wirtschaftsformen entwickelt. Gleichzeitig muss man gewisse christliche Institutionen auch kritisch beleuchten. Wo in die eigene Tasche gewirtschaftet wird, hat das mit Dienst am Menschen nichts mehr zu tun, denken wir etwa an den Ablasshandel – kurz vor dem Lutherjahr 1517/2017.

Ich muss gestehen, dass ich immer skeptisch bin, wenn alle Güter sozialisiert und dann verteilt werden sollen, weil damit immer Verteilungskämpfe verbunden sind. Eine reifere Variante wäre doch, wenn man jedem das Seine überlässt, verbunden mit der Erwartung, dass jeder es dort ins Spiel bringt, wo Not am Mann ist. Dass dies keine Utopie ist, bewies der Philosoph Epikur vor über 2200 Jahren. Epikur hat von den Personen, die seiner Schule beigetreten sind, nicht etwa erwartet, dass sie ihr Eigentum an die Gemeinschaftskasse abgeben. Vielmehr sollte jeder es behalten und damit angemessen wirtschaften – unter der Voraussetzung, dass Solidarität geübt wird.

Das bedeutet allerdings, dass wir im Notfall auf die Solidarität unserer Mitmenschen vertrauen müssten. Demgegenüber schafft Eigentum Sicherheiten in dem Sinne, dass ich zum Beispiel im Alter oder im Krankheitsfall Hilfe kaufen kann, ohne vom guten Willen anderer abhängig zu sein.

Philosophische Praxis...
Was ist das?
Ein Denker hat es schön auf den Punkt gebracht: "Viele Menschen ruinieren ihre Gesundheit in der ersten Hälfte ihres Lebens, um zu Geld, Besitztum und Erfolg zu kommen. In der zweiten Hälfte ihres Lebens brauchen sie es dann auf, um wieder gesund zu werden." Bis heute lässt mich die Zeitstruktur des menschlichen Daseins nicht los: dass ich im Augenblick lebe, aber das Ganze des Lebens vor Augen haben muss und dabei nie weiß, ob ich das, was ich jetzt anspare, in der Zukunft tatsächlich brauchen werde, weil ich die Zukunft vielleicht gar nicht erleben werde. Würde man sich nicht in den Hintern beißen, wenn man dreißig Jahre seines Lebens Zukunftsvorsorge betreibt, dann
aber mit fünfzig den Löffel abgeben muss – Solidargedanke hin oder her? Da ist immer diese Spannung zwischen "Ich lebe im Jetzt und koste das voll aus" und "Ich lebe auf eine Zukunft hin, von der ich gar nicht weiß, ob ich sie erlebe oder in welchem Zustand ich sie erlebe." Ich würde künftig kein Geld mehr ins gegebene Rentensystem investieren, weil das mit Sicherheit futsch sein wird. Aber sollte ich versuchen, ein Stück Land zu erwerben, das ich dann selbst bestellen muss? Wie lange macht mein Rücken das wohl mit? Das finde ich sehr, sehr schwierig.

Das Erstaunliche am Eigentum ist ja, dass es einerseits frei macht – wenn ich ein Haus habe, muss ich mir um die Miete keine Sorgen machen –, aber andererseits auch Verlustängste mit sich bringt. Welchen Tipp geben Sie Menschen, die sich von ihrem Besitz nicht befreit, sondern gefangen genommen fühlen?

Ein Haus zu haben bedeutet natürlich nicht, dass man immer ruhig schlafen kann. Das heißt auch Instandhaltung, beispielsweise, wenn es plötzlich ins Dach hineinregnet. Vielleicht ist es sogar der Regelfall, dass man relativ viel Geld zurücklegen muss, um ein Haus unterhalten zu können. Geld, von dem man eigentlich denkt, man könnte es sparen, weil man keine Miete zu zahlen braucht.

Außerdem besteht die Gefahr, dass die Begehrlichkeiten immer größer werden. Sie wachsen überproportional. Wenn man ein großes Grundstück hat, dann will man auch einen tollen Garten anlegen. Und wenn man einen tollen Garten hat, dann sollen dort nicht nur Tulpen, sondern vielleicht großartige Rosenstöcke wachsen. Es gibt keine Grenze nach oben. Andersherum kann auch der Geiz problematisch werden: Wenn man nur sparen will, dann gibt es kein inneres Halten mehr. Ich als Lehrer würde dann beispielsweise in meiner Schule aufs Klo gehen, um das Klopapier zu sparen. Und manche überschreiten sogar die Grenze zur Kriminalität, weil der Geiz sie dazu treibt.

Die "Lebensführungskönnerschaft" besteht darin, eine Mitte zu finden zwischen diesen widerstrebenden Tendenzen. Sparsamkeit und Freigebigkeit müssen zusammenpassen. Man könnte ein Wertequadrat entwickeln: Der Geizige hält sich für sparsam, der Verschwenderische hält sich für freigebig, aber nur wenn beides zusammengespannt wird und man die Mitte für sich und seine Lebensverhältnisse trifft, kann man es vermeiden, dass man in die eine oder andere Richtung über die Stränge schlägt. Deswegen ist die Mitte für mich nicht etwas Spießiges, sondern etwas sehr Spannendes – und zugleich eine höchst anspruchsvolle Aufgabe.



Das komplette Interview und noch viel mehr zum Thema "Besitz und Eigentum" kann in der neuen Ausgabe des philosophischen Wirtschaftsmagazins agora42 gelesen werden. Die Ausgabe erscheint morgen und kann im gut sortierten Handel oder online erworben werden.

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4 Kommentare:

  1. "In unserer materialistischen Zeit haben all die materiellen Güter einen großen Stellenwert eingenommen. Das könnte auch damit zu tun haben, dass es so etwas wie eine innere Leere gibt, eine Unfähigkeit zur Muße, die kompensiert werden muss."

    Das erinnert an den Anfang einer Unterhaltung auf einer Studentenparty - und das Gegenüber stellt sich bald als Theologie-Student und seine Argumentation als mit son sequiturs und Dammbruchargumten gespickt heraus. Und auch wenn man sich den Mund fusselig redet, wird er seine Meinung nicht revidieren, weil der Wischiwaschi-Rekurs auf Wissenschon-Autoritäten ihn davon befreit. Die Begehrlichkeiten werden immer größer ... gefangen vom Besitz ... den Knaster muss man erst mal rauchen wollen ;)

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    1. Und das Gegenüber im Gespräch auf der Studentenparty sagt "Alles ist Bewusstsein" :) Ich weiß gar nicht, was Sie gegen solche Partys haben. Klingt doch spannend.

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  2. -Respekt, ich sehe, du besitzt Dinge und nicht die Dinge dich.- (frei nach Diogenes)
    Gilt das nicht für alles? Materielles und Ideell?

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