13. Mai 2016

Unsere westliche Panik vor dem Ende der Ich-Autonomie

Haben wir keine größeren Probleme als das Internet?

Wir wünschen uns von unserem technologischen Fortschritt immer auch ein Besserwerden der gesamten Menschheit. Und wenn man zurück schaut, dann muss man schon sagen, dass es im Schnitt gesehen, den Menschen immer besser geht. Selbst mancher, der zu den Armen zählt, hat heute ein reicheres und gesünderes Leben, als Menschen, die vor einigen Hundert Jahren zu den Reichen zählten. Hunger, Seuchen und Säuglingssterblichkeit sind in den meisten Teilen der Erde historisch auf dem Rückmarsch. Aber natürlich ist das nur eine Perspektive, es gibt andere.

Wer hat Angst vor dem Computer? (Bild gemeinfrei von Historic Computer Images)

Ein Zweifel, den ich beispielsweise als begeisterter Nutzer moderner Technik, immer im Hinterkopf nagen spüre, ist, ob denn all diese neuen Technologien wirklich so umweltfreundlich sind, wie wir es gern glauben. Zum Beispiel Elektroautos: Wie ist das mit den Batterien? Wie werden die produziert, wie lange halten die, aus welchen Stoffen sind die und was passiert, wenn die alle entsorgt werden müssen? Oder all die Tablets und Smartphones, die sozusagen einmal jährlich durchgewechselt werden. Sind die nicht aus Schwermetallen und anderen problematischen Rohstoffen, für die Minenarbeiter in Entwicklungsländern sich selbst und ihre Umwelten vergiften?

Verführung ist kein Zwang, sondern lässt uns die Wahl

Jemand, der diese Dinge zusammen denkt, ist der Soziologe Harald Welzer, Autor von Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit: "Wer Digitalisierung, Klimawandel, Finanzmarktkrise, Krieg und wachsende soziale Ungerechtigkeit getrennt betrachtet oder gar lösen will, ist unpolitisch," zitiert ihn die TAZ. Das sind in der Tat die großen Themen, die wir als Menschheit angehen müssen. Statt dessen aber stellen wir uns immer wieder ganz ängstlich Fragen wie: "Entzieht die Digitalisierung einem selbstbestimmten Leben die Grundlagen?" (Philosophie Magazin April/Mai 2016, S. 26ff.) Das vermeintliche Ende der Autonomie ist ein intellektuelles Modethema geworden. Irgendwie ist es natürlich relevant, aber dann ist es auch wieder sehr kleinlich und in seiner Ich-Schau ein äußerst westliches Problem. Und auch Welzer sorgt sich um uns als denkende und freie Menschen, wenn er wie Jonathan Franzen im Internet starke Parallelen zu totalitären Systemen sieht:

"...denn totalitäre Systeme sind gerade in ihrer Frühphase besonders an einem Faktor interessiert: daran, was die Menschen denken. Dafür müssen sie Daten erheben, Netzwerke aufbauen, belauschen, abhören, müssen sie Menschen brechen. Heute nicht mehr. Heute wird alles frei Haus geliefert. Man muss die Daten nur noch ernten. Das ist ein fundamentaler Unterschied!" (Philosophie Magazin April/Mai 2016, S. 29)

Dem kann ich nur zustimmen, es ist ein fundamentaler Unterschied, der eben doch auf uns als freie und autonome Wesen verweist. Wir werden nicht gezwungen, sondern verführt. Verführung ist zwar auch heimtückisch, aber es lässt das Moment der Wahl zu, den totalitäre Zwänge, das Belauschen und gar das Brechen von Menschen nicht zulassen. Es fragt sich also, wie deutlich die Parallelen zwischen totalitären Systemen und dem Internet wirklich sind. Ich bezweifle, dass es starke Parallelen sind, aber es sind starke Bilder, mit denen man sich profilieren kann und seiner "Gegenwehr" gegen die Moderne Nachdruck verleihen kann. Ich bin mir gar nicht sicher, dass all das Gerede von der Ende der Autonomie auf eine wirkliche Angst dieser Intellektuellen zurückgeht. Ich vermute vielmehr, dass es ein Mode-Thema ist, mit dem man zur Zeit in die Medien kommt. 
 
Wir haben, wie ich schon im Interview mit dem Hohe Luft Magazin andeutete, viel größere Themen, als unsere Nabelschau im Angesicht des Internets. Meine Prognose ist, dass wir uns mit dem Verlust unserer Datenhoheit, mit all der Werbung, dem Kommerz, den Shitstorms und allen sonstigen vermeintlichen Bedrohungen aus dem Internet arrangieren werden. Denn wir haben mit der Klimaerwärmung, den Kriegen und Völkerwanderungen und den in immer kürzeren Abständen drohenden Wirtschaftskrisen viel größere Probleme als diese Probleme, die uns das Internet beschert. Und Leute wie Welzer wissen das, wie man an dem Zitat aus der TAZ oben sieht.

Entlastung und der Preis dafür

Aber schauen wir dennoch auf die Verführung, vor der unsere Intellektuellen so eindringlich warnen: Warum lassen wir uns dazu verführen, all die Services zu nutzen, die dann unsere Daten nutzen und uns angeblich unserer Autonomie berauben?

"Im Kern geht es wohl um ein Optimierungsangebot: Wir machen dein Leben besser! Und zwar im Sinne der Bequemlichkeit: Wir machen dein Leben dadurch besser, dass wir es bequemer machen, dadurch, dass wir dich unzuständig machen." (ebd. S. 28)

Natürlich ist das nicht immer die beste Motivation und jeder sollte sich informieren, welchen Services er lieber keine Daten gibt, auch wenn sie einem das Leben bequemer machen. Wenn man aber mal vom Ideologischen hier abstrahiert und sich nur die Strukturen ansieht, dann stellt man fest, dass es sich bei der Nutzung solcher Technologien um Formen der Entlastung handelt. Was heißt das?

Entlastung ist eine anthropologische Kategorie, mit der man beschreiben kann, wie Menschen über die Jahrmillionen (Entlastung fängt früh an) ihrer Genese hinweg Kapazitäten zu ihrer Höherentwicklung frei machen konnten. Das fängt biologisch damit an, dass das Gehirn von der Mehrzahl der Reize, die auf es einströmen, entlastet wird. Erst dadurch sind wir zu höheren mentalen Operationen in der Lage. Wer durch Reize überlastet ist, wird kaum freie Kapazitäten haben, um sein Gehirn schöpferisch zu nutzen. Ein kulturelles Beispiel wäre die viel spätere Entlastung durch Tabus, Normen und dann Gesetze. Sie ermöglichen uns ein Handeln, ohne dass wir uns immer wieder von neuem fragen müssen, ob das jetzt richtig oder moralisch ist, was wir tun. Ein technologisches Beispiel - und beinahe alle Technologie kann als Entlastung begriffen werden - wäre ein Navigationsgerät, das uns davon entlastet, angestrengt die Landmarken (Bäume, Häuser, Straßennamen) zu lesen und gegen unsere mentale Karte abzugleichen. Wir haben durch diese technologische Entlastung freie Kapazitäten: Wir können statt dessen konzentrierter fahren, mit unserem Partner entspannt reden oder einem Audiobook zuhören und mussten auch keine mentale Energie darauf verwenden, die Gegend zuvor in unserem Gehirn zu repräsentieren.

Die menschliche Geschichte ist eine Geschichte der Entlastung und damit des Fortschritts. Natürlich bezahlen wir für alles einen Preis, man könnte ihn "Entfremdung" nennen. Entfremdung und Entlastung sind zwei Seiten einer Medaille. Bei einem Kartendienst entfremden wir uns auf mehrere Weisen, z.B. indem wir Daten von uns preisgeben oder auch indem wir keine intime Beziehung zu den Orten mehr aufbauen, die statt im Gehirn nun in Google Maps kartographiert sind. Es ist aber nicht gesagt, dass dieser Preis zu hoch ist. Vielleicht ist er zu hoch, vielleicht ist er genau richtig oder vielleicht ist es sogar ein guter Deal? Zum Beispiel stelle ich fest, dass auch meine Beziehung zu meiner Frau im Auto eine bessere ist, seitdem wir nicht mehr selbst Karten lesen müssen. Wir streiten uns weniger und haben statt dessen gute Gespräche. Das ist so ein Punkt, an dem ich sage, dass sich der Autonomieverlust, der hier von Welzer, Franzen und Byung-Chul Han immer wieder ins Feld geführt wird, für mich lohnt. Welzer selbst bringt die Attraktivität der Selbstentlastung ebenfalls ins Gespräch:

"Es ist wahnsinnig attraktiv, andere oder anderes für sich denken zu lassen, denn jede Form der eigenständigen Orientierung bedeutet Aufwand. Sie kostet etwas, nicht zuletzt Zeit. Das ist ja auch eine der populären Schriften Kants, nicht wahr: 'Was heißt: sich im Denken zu orientieren?' Nun, es heißt, Mühen auf sich zu nehmen, Widerstände zu überwinden." (ebd. S. 30)

Welzer und Kollegen übersehen, so denke ich, dass Entlastung eben nicht nur Faulheit ist, sondern ein Prinzip von Organismen im Umgang mit ihrer Umwelt. Insbesondere Menschen werden nicht aufhören, sich durch Technik entlasten zu wollen. Jedoch bringt Welzer, der auch Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand geschrieben hat, hier zurecht etwas in Balance: Auch wenn wir immer mit der Entlastung gehen, so müssen wir die Momente identifizieren, wo der Preis für die Entlastung zu hoch ist, wo die Entfremdung überhand nimmt und wir unsere Autonomie freiwillig und total aufgeben. Wenn wir diese Momente erkennen, müssen wir inne halten und evaluieren, ob der Gewinn nicht den Aufwand und die Belastung wert ist. Die politische Wahl ist für die meisten so ein Punkt, wo sie nicht entlastet werden wollen. Sie geben ihre Stimme selbst ab, anstatt die Entscheidung an andere zu delegieren.

Ich bin wie Welzer dafür, dass wir ganz allgemein diesen Aufwand des Selbst-Denkens in Kauf nehmen und die damit einhergehenden Anstrengungen auf uns nehmen. Denn der Gewinn ist, dass wir unser Leben selbst führen und nicht den Interessen anderer unterwerfen. Wenn wir zu faul zum Denken werden, dann werden andere für uns entscheiden und unser Leben in ihre Hände nehmen. Dann haben wir unsere Autonomie abgegeben. Da wir das nun geklärt hätten, können wir uns bitte den wirklichen Problemen unserer Gegenwart zuwenden?



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5 Kommentare:

  1. Flotter Artikel,
    aber "Vielleicht ist er zu hoch, vielleicht ist er genau richtig oder vielleicht ist es sogar ein guter Deal?" Nein, es ist kein guter Deal! Und es ist auch kein harmloes Thema!
    Für mich ist allerdings nicht die Autonomie der Angelpunkt, sondern die Beziehung zw. Leben und Technik.
    Wir entlasten uns mit Technik und zwar in einem Maße, die weit über ein Werkzeugverständnis hinausgeht.
    Das ist eine Entfremdung, die mehr in Frage stellt als das uns heilige Ich.
    Viele Grüße
    Ingo

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    1. Danke für den Kommentar. Es wäre interessant, wenn du deine Aussagen mit etwas Begründung unterfüttern könntest. Z.B. sagst du, es ist kein "guter Deal", erklärst aber nicht, warum du das so siehst.

      Du sagst auch: "Das ist eine Entfremdung, die mehr in Frage stellt als das uns heilige Ich." OK, das wäre jetzt wirklich genau der interessante Punkt. Erklär bitte, sag mehr dazu, ansonsten stehen wir so klug da, wie zuvor.

      Viele Grüße!

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  2. Glücklich ist, wer Programmierer ist. Oder Informatik studiert hat. Als nicht solcher muss ich abwägen. Das ist das Komplexe an der Internettechnik, dass nach meinem aktuellen Kenntnisstand abwäge. Bin ich schlecht informiert, habe mich verführen lassen. Ich muss wissen, wo meine Grenzen sind. Wenn die App installiert ist, weiß ich es danach. Manche sind mir nützlich, manche brauche ich nicht. Und jeder bewertet sie unterschiedlich. Was mir Probleme macht, das ist die Vielfalt der Apps.

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  3. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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    1. Ist sicher gut gemeint, Klaus, aber ich lösche das mit dem Link mal, denn ich denke, das ist Spam.

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