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17. Juli 2016

Die Zeit kommt aus der Zukunft

Gespräche zum Akzelerationismus und zum Augenblick

"Wer es rundweg ablehnt zu spekulieren, 
liefert sich dem Gegebenen aus. Der spekulative
Realismus entdeckt neue Möglichkeiten, indem
er eine neue Zeit denkt." (Armen Avanessian)

Ein gutes philosophisches Gespräch zeichnet sich dadurch aus, dass der Zuhörer hin und her gerissen ist und nicht weiß, wem er Recht geben soll. Solch ein Gespräch findet sich im aktuellen Philosophie Magazin zwischen dem "Resonanztheoretiker" Hartmut Rosa und dem "Akzelerationisten" Armen Avanessian. Schon die beiden Begriffe Resonanz und Akzeleration (Beschleunigung) scheinen miteinader in Feindschaft zu stehen: Der erste Begriff zielt auf ein "orphisches" Weltverhältnis des "Hörens und Antwortens" ab (und was könnte daran falsch sein?!) und der andere Begriff zielt auf die "prometheische" Machbarkeit durch Technik und eine Verfügbarkeit über die Zukunft. Schließt sich das gegenseitig aus? Meine Oma hätte gesagt: Alles zu seiner Zeit!

Armen Avanessian und Svenja Flaßpöhler im Gespräch (Foto: Gilbert Dietrich)

Apropos Zeit: Wo kommt die Zeit her? Läuft sie aus der Vergangenheit durch uns in die Zukunft? Diese Frage stellte Avanessian heute beim Sonntags-Talk der School of Life in Berlin und beantwortete sie gleich: Die Zeit komme aus der Zukunft auf uns zu und fließe in die Vergangenheit ab. Wenn wir zurück in die Geschichte blicken, dann können wir sehen, wie sich die alte Zeit dort sammle. Was aber heißt das für unser Handeln? Vor allem, dass wir es an der Zukunft ausrichten müssen, denn die Vergangenheit kann uns kaum die Antworten geben, die den heutigen Anforderungen ans Morgen genügen. Und das ist der Grund, warum Avanessian den Trend so stark angeht, den er Achtsamkeitsfanatismus nennt. Während wir meditieren oder Achtsamkeit üben, wird über uns weiter verfügt, sagt Avanessian auf dem Podium. Oder im Philosophie Magazin:

"Wer sich nur mit sich selbst und seiner Gegenwart beschäftigt, muss das Morgen nicht sehen. Das ist regressive Zukunftsverweigerung. Es liegt an uns die Richtung zu ändern." (Philosophie Magazin, Nr. 5 / 2016, S. 65)

Avanessian hat hier ein ganz klar politisches Konzept und wirft den zeitgeistigen Vertretern der Achtsamkeit vor, sich in private Idyllen zu flüchten und, wenn auch meditativ, die Augen vor den Herausforderungen zu verschließen. Wo kommt diese Fluchtbewegung auf breiter Front her? Dem Berliner Publikum erklärt Avanessian, dass wir uns angewöhnt hätten, die Moderne als technisierten kapitalistischen Fortschritt zu begreifen, der sich stets beschleunigt. Wenn man also etwas dagegen tun wollte, dann was? Entschleunigen natürlich und ent-technologisieren! Selbst wenn die Gleichung Kapitalismus = technologische Beschleunigung stimmen sollte (was Avanessian bezweifelt), so folgt daraus noch lange nicht, dass man dem Problem durch Entschleunigung begegnen könnte. Schon gar nicht, wenn wir uns private Langsamkeitsinseln in einer sich beschleunigenden Welt schaffen. Dann doch lieber den Schwung nutzen und die Welle reiten, "ahead of the curve", wie man in der Wirtschaft sagt, und den Kapitalismus von vorn überraschen.

Wie immer, wenn man Visionen entwickelt, kommt die nervige Arbeit erst in der konkreten Taktik, die sich daraus ableitet. Das ist das, was man die Mühen der Ebene nennt. Wie könnte so etwas konkret aussehen, fragte ich Avanessian während der Podiumsdiskussion? Denn eine reine Affirmation der Technik, ein sich Hingeben an die Beschleunigung, kann ja allein keinen gesellschaftlichen Fortschritt bewirken. Er verwies erst einmal darauf, dass wir ja durchaus bereits soziale Medien wie Facebook und Twitter oder das Internet überhaupt für "die richtigen" Dinge nutzten, zum Beispiel für philosophische Gespräche, politische Diskussionen oder auch für Zusammenarbeiten, das Publizieren und für Verabredungen, um sich in der physischen Welt zu begegnen. Im Gespräch mit Hartmut Rosa stellt er auch die Frage:

"Warum setzen wir zum Beispiel, obwohl die Digitalisierung uns immer mehr Arbeit abnimmt, nach wie vor auf Vollzeitbeschäftigung und längere Arbeitszeiten? Warum nutzen wir die Automatisierung nicht für ein besseres Leben aller Bevölkerungsschichten und richten ein allgemeines Grundeinkommen ein?" (Philosophie Magazin, Nr. 5 / 2016, S. 65)

Die Antwort darauf ist natürlich klar: Weil diese Techniken im Rahmen einer hoch spekulativen kapitalistischen Kreditvergabe entwickelt wurden und die Investoren, die damit große finanzielle Risiken eingingen, ihr Geld und zwar durch stetig steigende Börsenkurse multipliziert wiedersehen wollen. Und genau in diese Richtung muss sich eine neue linke Theorie und letztlich Praxis begeben: Sie muss die Technologien verstehen und wie sie finanziert werden und daraus lernen, wie solche komplexen Entwicklungen in Richtung Allgemeinwohl gesteuert werden können.

Hier nähert sich Avanessian dem an, was Rosa anstrebt: Eine Welt, in der wir nicht in Stressschleifen der Arbeit und des Schaffens von privatem Mehrwert gefangen sind, sondern wo wir kreativ an einem gesellschaftlichen Mehrwert arbeiten können. Nur wie der Weg dahin aussehen kann, da gehen die Meinungen der beiden weit auseinander. Rosa wirft Avanessian vor, er perpetuiere das Problem in dem er auf die Fortschrittsfantasien eines beschleunigten Kapitalismus setze und keine Vision davon entwickle, was es heißt, ein gutes, gelungenes Leben zu führen. Avanessian wirft Rosa seinerseits vor, er hänge rückwärtsgewandten romantischen Ideen der Eigentlichkeit des Lebens an (obwohl wir doch sowieso eine technisierte Lebensform seien) und hoffe auf eine Entschleunigung, die es ohnehin nicht geben könne. Richtig konkret können beide nicht werden.

Auf dem Podium gab sich Avanessian freilich selbst als "ein Mensch" zu erkennen, der seine Resonanzräume braucht, der seine Momente der Entschleunigung genießt und auch den einen oder anderen Augenblick als Dauer* schätzt. Aber all dass sei eben privat und keine "verallgemeinerbare Praxis" mit politischem Veränderungspotenzial. Solch ein Potenzial komme vielmehr aus dem Blick in die Zukunft, aus dem Annehmen der Herausforderungen mit den technischen Mitteln und kommunikativen Plattformen, die wir uns bereits erarbeitet haben und mit denen, die es noch zu erschaffen gilt. Diese Techniken und Plattformen sind zu wertvoll, als dass wir sie für immer den Geheimdiensten, dem E-Commerce und den kommerziellen Interessen von Facebook und Google überlassen könnten. Und wenn wir diese Player nicht von vorn überraschen (#AheadOfTheCurve), dann wird unsere Zukunft weiter von ihren kommerziellen Interessen her entworfen, egal wie achtsam und zen wir sind.


*Svenja Flaßpöhler kommt das Verdienst zu, während der Podiumsdiskussion verständlich gemacht zu haben, dass man ohnehin keinen Augenblick erleben kann, sondern immer nur Dauer. Auf Edmund Husserl zurückgreifend stellte sie den Vergleich zur Musik her, in der wir auch nicht einzelne Töne hören, sondern Melodien, also Töne in denen die vergangenen Töne noch nach- und die nächsten bereits anklingen.

Zum Thema passend:

3 Kommentare:

  1. "in der wir auch nicht einzelne Töne hören, sondern Melodien, also Töne in denen die vergangenen Töne noch nach- und die nächsten bereits anklingen."
    Das hat mit einem internen Raster zu tun, welche Tonfolgen man als zusammen, als Einheit erlebt.
    http://www.deutschlandfunk.de/wie-wir-zeit-erleben-im-strom-des-augenblicks.740.de.html?dram:article_id=341280

    Gerhard

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    1. Danke für den Hinweis auf diesen Artikel! Die Dauer eines Augenblicks ist also ca. 3 Sekunden.

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  2. Ohne den Achtsamkeits-Leuten allzu sehr das Wort reden zu wollen - das Ziel, auf jeden Fall bei echtem Zen, ist, im Hier und Jetzt zu leben, ohne Ballast aus der Vergangenheit, so sehr, dass nicht nur die Vergangenheit, sondern auch das illusionäre Selbst abfällt. Die Fitness für die Zukunft würde, durchaus koangleich, in Frage gestellt werden mit: "Wer muss fit sein für die Zukunft?"

    Achtsamkeit hat, wenn man die Klischees außen vor lässt, wenig mit Eskapismus zu tun.
    Alan Watts hat ein grundsätzliches Problem des modernen Menschen einmal als "driving a car with the rear-vision mirror" bezeichnet - eine Obsession mit der Vergangenheit, die durch geschicktes mentales Einflechten in den Bewusstseins-Strom so viel Wirkmacht erhält, dass sie das Jetzt immer beeinflusst.

    Man kann es auch noch einleuchtender formulieren, nur werden das viele Menschen ohne Zuhilfenahme von Psychedelika kaum als real - und veränderbar - erleben: Die - im Wortsinne - Indifferenz in Raum und Zeit ist ein Fehler, vom Grad der Behinderung anzusiedeln irgendwo zwischen Stützrädern und Substanzdroge. Perspektivwechsel, Leute reden, der Wind weht - und trotzdem ist irgendetwas noch da, was vor fünf Sekunden bereits seine Berechtigung verloren hat ...

    Wer es hinbekommt, Indifferenz, das Unveränderte in Raum und Zeit, aufzugeben, hat die Zukunft nicht zu fürchten - für den steten Wandel gibt es keine Entschleunigung.

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