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2. September 2017

Zeit, Schönheit und Leben

Ein Artikel von Thomas Marti

Unser Alltag ist voll von Zeitphänomenen, die unser Leben mehr oder minder beeinflussen: Langeweile, Öffnungszeiten, Jet-Lag, Rentenalter, Stress, Weihnachten, der Termin beim Zahnarzt usw. Unendlich viele Zeiten, alle mit ihren eigenen Rhythmen, Symbolen und Konnotationen durchdringen unser Leben. Wir können sogar gleichzeitig in verschiedenen Zeiten sein: Ich kann z.B. innerhalb von drei Minuten, in denen ich nach dem Bus rennen muss, der um 8 Uhr 12 fährt und den ich kriegen muss, um pünktlich zu erscheinen spüren, wie mein Pulsschlag immer schneller zu klopfen anfängt, mir die Passanten etwas verwundert nachsehen und mir einige Ideen für das gemeinsame Nachtessen heute Abend durch den Kopf jagen. Zeit ist ein explizit soziales Phänomen: Zeit wird sozial konstruiert, kommuniziert und wie nur in einem sozialen Kontext relevant. Jede Zeitlichkeit und jegliche zeitliche Ordnung und Struktur sind Konstruktionen von Beobachtern und nicht das Wesen von Objekten und damit schliesslich soziale Zeit.

Tägliche soziale Zeiterlebnisse: gehen, stehen, fahren.

Schönheit hat Öffnungszeiten

Zeitstrukturen bestimmen unseren Alltag grundlegend, wie Hartmut Rosa in vielen Publikationen zeigt. Um Wachstum, Effizienzsteigerungen und Innovation auf einem hohen Level halten zu können, brauchen wir eine Zeitstruktur und -kultur, die das Schnelle und Kurzfristige priorisieren. Ich muss noch schnell einkaufen, ich muss noch produktiver und innovativer sein, ich muss noch schnell dies und das erledigen, ich muss noch schnell die Kinder in die Tagesstätte bringen, ich muss noch schnell ein paar E-Mails schreiben. Im modernen Alltag müssen viele System synchronisiert werden. Die Zeitstruktur gibt dabei den Takt vor und lässt keinen Platz für Nebensächlichkeiten. Nur wer seinen Lebensalltag einer rigiden zeitlichen Ordnung unterwirft, schafft es die Synchronisation aufrecht zu erhalten. Treffen Entitäten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten aufeinander, so gewinnt das schnellere System; ist der Geschwindigkeitsunterschied zu gross, kommt es zu gravierenden Krisen.

Wir leben und arbeiten in einem Meer aus Mehr. Schönheit und Resonanz sind dabei auf Inseln gruppiert und zeitlich nur beschränkt zugänglich. Schönheit hat Öffnungszeiten: das Museum ist geöffnet von 10-12 und von 14-16 Uhr, die Ausstellung hat währen zwei Wochen geöffnet. Die Schönheit der Natur ist nur in der Ferienzeit oder arbeitsfreien Zeit zugänglich. Die Diskussion über Schönheit ist gänzlich privatisiert. Die Moderne zeichnet sich durch einen ethischen offenen Horizont aus; Schönheit liegt im Auge des Betrachters.

Die Erfahrung von Schönheit ist eine Resonanzerfahrung. Wenn wir etwas als schön erleben, lösen sich die Grenzen zwischen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit auf. Schönheit ist quasi ein Aha-Erlebnis. Wer abends sagen kann, dass er einen sehr schönen Tag erlebt hat, wird feststellen, dass an diesem Tag die zeitliche Dimension in den Hintergrund getreten ist und ersetzt worden ist durch eine spezifische Art von Beziehung: Jemand oder etwas hat zu mir gesprochen und hat mich berührt. Aha-Erlebnisse kann man nicht im Voraus planen. Ich kann zwar meine nächste Wanderung so vorbereiten, dass sie, laut Wanderführer, ein einzigartiges Erlebnis wird. Ob sich dann aber der Eindruck von Schönheit und Resonanz einstellen wird, ist fraglich.

Zeit ist so lebenswichtig wie Wasser

Ich bin der Meinung, dass Schönheit nicht beliebig ist. Es muss eine Diskussion darüber geben, was Schönheit ist. Eine Diskussion über Schönheit braucht aber Zeit und Musse. In unserem normalen und zeitlich straff strukturierten Arbeits- und Lebensalltag bleiben daher Fragen und Erfahrungen rund um Schönheit chancenlos. Schönheit ist das, was man in Workshops, Meetings und Innovationsabteilungen innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens als schön definiert und dann mit grossem Marketingaufwand verkauft. Diese institutionalisierte Schönheit ist schnell, messbar und diskussionslos. Wer schön ist und Schönes besitzt, kriegt bessere Jobs, mehr Lohn und gilt als intelligent.

Zeit ist wie Wasser lebenswichtig für Menschen. Wie die Menge an Wasser ist auch die Menge an Zeit begrenzt. Zeit kann verdichtet werden; gespart werden kann sie aber nicht. Und Zeit ist nicht substituierbar. Haben wir keine Zeit mehr, so haben wir auch keine Schönheit. Überlassen wir die Legitimierung von Alltagshandeln zeitlichen Normen, führt dies zu einer Externalisierung der Frage, was schön ist. Schönheit wird zur kommerziellen Ästhetisierung und damit beliebig. Wer in einen straff geplanten Tagesablauf eingebunden ist, wird kaum Erfahrungen von Schönheit machen, oder haben Sie einen stressigen Tag, an dem Sie von Termin zu Termin gerannt sind als schön empfunden?

Die britische Ökonomin Kate Raworth fordert in ihrem Buch Doughnut Economics: Seven Ways to Think Like a 21st-Century Economist eine Ökonomie, die distributiv und regenerativ by design ist ("Safe and just space for humanity"). In diesem Sinne plädiere ich für eine distributive und regenerative Gesellschaft, auch im zeitlichen Sinne, die das Gedeihen aller Menschen im Fokus hat und in der Erfahrungen von Schönheit und Resonanz für alle Menschen möglich sind. Oder mit einem Zitat der Philosophin Angelika Krebs ausgedrückt:

"Um in der Welt wohnen zu können, braucht der Mensch sowohl schöne Natur als auch schöne Architektur, sowohl Schönheit in dem, was von sich aus ist, entsteht, wächst und vergeht, als auch in dem, was er selbst macht, herstellt, baut." (Angelika Krebs, Verdichtung oder Schönheit)



Thomas Marti hat Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaft in Zürich studiert. Er lebt und arbeitet in Davos. Sein Projekt Zeitbildung bietet zeitsoziologische Betrachtungen der Moderne für Unternehmen, Institutionen und Schulen und setzt sich mit Fragen nach einem guten und gelingenden Leben aller Menschen auseinander. Unter www.zeitbildung.ch kann man dazu mehr erfahren und Thomas Marti kontaktieren.

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6 Kommentare:

  1. Vor 2 Jahren bin ich von einer streetart-Ausstellung in einer stillgelegten Zeche in Frankfurt vorbeigefahren, um eine Richter-Ausstellung in der schirn mitzunehmen. Was ich vorfand, waren eine Masse an Besuchern, da es an diesem Tage kostenlos war. Es tollten kids kreuz und quer durch die Säle. SO keine Chance, den Bildern Zeit zu geben, zu mir zu sprechen.
    Schönheit braucht Zeit.

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  2. "...ist der Geschwindigkeitsunterschied zu gross, kommt es zu gravierenden Krisen."

    In den 90gern haben wir alle E-Mail kennen gelernt: Klick auf "Senden" - und ZACK, ist die Nachricht auch schon beim Empfänger (von technik-bedingten Verzögerungen sehe ich jetzt mal ab).
    Damals konnte sich niemand vorstellen, was diese Beschleunigung der Kommunikationswege für Verwerfungen quer durch Wirtschaft und Gesellschaft bedeuten würde! Und gerade hörte ich bei "Hart aber fair" den Vorwurf, DE liege bei der Netzgeschwindigkeit nur auf Platz 25 liege, hinter Rumänien und Bulgarien - und dass SO die wirtshaftliche Zukunft des Landes verspielt werde!

    "Schönheit" für die es Muße braucht, ist kein Wirtschaftsfaktor, also offenbar irrelevant.

    Bzw. wird sogar als schädlich angesehen, wenn man bedenkt, wie jene auf Trab gehalten und diskriminiert werden, die potenziell Zeit hätten: die Arbeitslosen, in Ansätzen auch schon die Rentner, die immer öfter arbeiten müssen, weil die Rente nicht reicht.

    Schönheit erlebe ich im Garten. Einerseits ist es schade, dass ich ihn nicht vom Haus aus betreten kann, andrerseits ein Segen! Wenn ich mich losreisse vom Homebüro und erstmal 20 Minuten radeln muss, dann bin ich raus aus der Getriebenheit der inneren ToDo-Liste, wenn ich dort ankomme. Einfach wunderbar!



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    1. Danke für deine Schilderungen, Claudia! Ich bin mitschuldig (und wir beide waren ja in der vor diesem Hintergrund etwas widersprüchlich anmutenden Mailingliste Netzliteratur) an dieser Technik-Euphorie. Fasziniert davon wollte ich lange nicht die dunklen Seiten dieser Macht sehen. Ich will diese Technologien auch jetzt nicht missen, aber wenigstens zu einem umfänglicheren Verständnis kommen.

      Radeln ist auch für mich ein Abstandnehmen von Todo-Listen.

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  3. Besten Dank für Ihr Interesse an meinem Artikel. Ich möchte an dieser Stelle noch eine kurze Ergänzung anbringen. Wenn Schönheit in Museen oder Zoos zentralisiert wird, ist das ein kleiner Ausschnitt aus einer grösseren Sicht. Wir alle kennen die Augenblicke, in denen Vergangenheit und Zukunft zum Jetzt verschmelzen. Es sind dies wunderbare Augenblicke. Wir erfahren sie, wenn wirrem Garten die Blumen pflegen, wenn wir am Abend oder in der Mittagspause Joggen oder Radfahren gehen, wenn wir Achtsamkeit praktizieren, wenn wir meditieren, wenn wir im Fitnessstudio unseren Körper spüren. Alle diese Erfahrungen haben meiner Meinung nach die Tendenz zu Inselerfahrungen zu werden. Inseln, die einem in einem grossen Meer aus Mehr, Wettbewerb und Konkurrenz schwimmen. Inseln, die aber auch von den Wellen und der Strömung hin und her getrieben werden. Steht ein wichtiges Meeting an, entfällt Joggen über Mittag. Es sind dies aber auch Inseln, die wir aufsuchen, um nachher wieder fit zu sein, um im Alltag die Arbeit gut oder noch besser zu machen. Meine Vorstellung von einem guten und gelingenden Leben beruht auf einer gespiegelten Inselvariante. Inseln des Wettbewerbes und der Konkurrenz sollten in einem Meer aus Resonanz und Miteinander verankert sein. Es ginge dann auch nicht darum Arbeit gut zu machen, sondern um die Frage, was gute Arbeit überhaupt ist.

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    1. Das ist eine wichtige Ergänzung, die mir auch noch einmal die Stoßrichtung des Ganzen sehr klar macht. Danke dafür und außerdem: Es ist auch wirklich schön formuliert.

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