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1. Oktober 2017

Von der Würde im Alltag

Das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt 

Ein Artikel von Thomas Marti

Für jeden Menschen ist es wichtig, dass er selber Entscheidungen treffen kann. Abhängigkeit von anderen Menschen fühlt sich unangenehm an. Menschen haben grundsätzlich das Bestreben, solche Situationen zu vermeiden, oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Unabhängigkeit und Selbstständigkeit ist ein hohes Gut. Wenn der Schweizer Philosoph Peter Bieri in seinem Buch Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (Amazon-Link) von Würde spricht, so meint er Würde als einen Lebensentwurf. Er beschreibt Würde als ein "Muster des Denkens, Erlebens und Tuns" (Ebd., S. 10), als "innerer Kompass unseres Lebens" (Ebd., S. 15). Bieri unterscheidet drei Dimensionen von Würde: Erstens geht es um die Art und Weise, wie andere mich behandeln, zweitens geht es um die Frage, wie ich andere behandle und drittens steht mein Selbstbild, und damit die Frage, wie ich mich selbst behandle, im Vordergrund.

Wichtig für diesen Zusammenhang ist auch Bieris Argumentation, wie und unter welchen Bedingungen Würde verloren gehen kann. Werden Menschen als Subjekte missachtet, so entsteht ein Gefühl von Demütigung. Bieri beschreibt Demütigung als eine Erfahrung von Ohnmacht. Ohnmacht ist dann gegeben, wenn eine bestimmte Macht fehlt: die Macht einen für das eigene Leben entscheidenden Wunsch zu erfüllen. Um noch einmal Peter Bieri zu zitieren; "Demütigung ist demonstrierte Ohnmacht" (Ebd., S. 13). Auch Willkür als das bewusste Auslassen von Handlungsoptionen, fällt damit unter Ohnmacht, die mit Demütigung verbunden ist. In dieser Situation ist die Würde stark in Gefahr oder geht verloren.

Was passiert, wenn die Würde verloren geht?

Radikalisierung von Handlungen 

In der kürzlich von der UNDP veröffentlichten Studie Journey to Extremism in Africa (PDF-Link), die sich mit der Radikalisierung von jungen Afrikanern beschäftigt hat, kamen die Autoren und Autorinnen zu Schluss, dass es nicht primär religiöse Gründe sind, die Jugendliche in die Arme von Terrorgruppen treibt. Gründe dagegen sind Erfahrungen von Ohnmacht und Willkür; bei vielen bereits in der Kindheit. Chancenlosigkeit und im eigenen sozialen Umfeld erfahrener Machtmissbrauch werden als mächtige Antriebskräfte genannt, damit sich Jugendliche extremistischen Organisationen mit religiösem Fundament anschliessen. Wen wunderts, sind doch die erlebten Situationen Gründe, die mit dem Verlust der eigenen Würde einhergehen. Der Verlust der Würde (oder der mögliche Verlust) steht meiner Meinung demnach in einem engen Zusammenhang mit der Gefahr, dass dadurch der Sinn des eigenen Lebens grundlegend infrage gestellt wird. Kein Mensch kann den Verlust der eigenen Würde einfach so hinnehmen. Bis zu einem gewissen Grad kann man bei der Bedrohung von Würde sich in der "inneren Zitadelle" (Ebd., S. 27) verstecken und so scheinbar alle Angriffe auf die Würde aussen abprallen lassen. Kommen aber, wie im Beispiel der afrikanischen Jugendlichen, Chancenlosigkeit, Machtmissbrauch und Willkür zusammen, so drohen alle Schutzdämme zu brechen und die Würde geht verloren. Das dadurch erzeugte Verstummen aller sinnstiftenden Weltbeziehungen führt dazu, dass normative Werte keinen Einfluss mehr auf Alltagshandeln haben und alles erlaubt scheint, was dem betroffenen Menschen in irgendeiner Form Erleichterung und Genugtuung bringt. Das Tor zu extremen Handlungen ist dadurch weit geöffnet und das Werben entsprechender Gruppen findet fruchtbaren Boden. Diese extreme Form der Entfremdung ist die Spitze des Eisberges.

Radikalisierung von Gedanken

Was passiert aber, wenn Menschen in industrialisierten und modernen Gesellschaften Erfahrungen des Verlustes oder der Gefährdung der Würde machen? Wenn Kinder in Familien und Schüler in der Schule Demütigung erfahren, wenn Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz Ohnmacht und Demütigung erfahren? Meine These ist, dass diese Menschen nicht so radikalisiert werden, dass sie jegliche Brücken zum Alltagsleben abbrechen, aber dass eine gedankliche Radikalisierung stattfindet. Eine gedankliche Radikalisierung ist demnach gegeben, wenn auftauchende und mitunter komplexe Fragen konsequent mit einfachen Antworten gelöst werden. Wenn der Jugendliche auf alle Versuche Politik in irgendeiner Art und Weise schmackhaft zu machen mit der Aussage reagiert, dass "die da oben ja sowieso machen was sie wollen" und dieses Thema sowieso überhaupt nicht interessant sei.

Bildung und Würde 

Für einen jungen Menschen kann die Ohnmacht darin bestehen, den gewünschten Beruf nicht erlernen zu können. Jeder Jugendliche hat einen Berufswunsch. Wenn er ihn nicht erfüllen kann, ist er gezwungen, sich einen Beruf der nächst unteren Prioritätsstufe auszusuchen. "Besser diesen Beruf, als gar keinen." Das alleine muss noch keine Demütigung sein. Die Ohnmacht ist dem Lernenden einfach zugestossen. Wenn der Lernende in der Schule schlechtere Leistungen bringt, als erwartet oder als andere, kann dies als eine Ohnmachtssituation beschrieben werden. Eine Demütigung in dieser Situation hat mit anderen Menschen zu tun. Demütigung tritt dann eine, wenn gezielt eine Ohnmachtssituation herbeigeführt wird. Noch stärker wird die Demütigung, wenn derjenige, der gezielt eine Ohnmacht herbeiführt, diese Situation auch noch geniesst und auskostet.

Jeder Schüler und jeder Lernende hat eine Würde. Kein Lernender möchte vom Willen und der Macht anderer Menschen abhängig sein. Jede Lehrperson hat die Möglichkeit Lernende in diesem Sinne abhängig zu machen. Sei es bei der Durchsetzung von Regeln oder der Bewertung von Leistungen. Sei es beim Eingehen auf Fragen und Wünsche oder der Reaktion auf Störungen. Wenn die Schule zur Entfremdungszone wird, sind aber nicht nur die Lernenden betroffen, auch die Lehrenden kennen Situationen, in denen die Würde in Gefahr ist. Jeder Lehrer kennt Momente der Ohnmacht. Der Grat ist schmal und schnell ist die Grenze überschritten und der Lehrer hat den Eindruck, dass ein Schüler oder eine Schülerin die demütigende Situation auch noch geniesst. Viele Situationen im Unterricht lassen beim Lernenden und Lehrenden den Eindruck entstehen, es geschehe etwas mit seiner Würde.

Arbeit und Würde 

Nicht anders sieht es im Arbeitsalltag aus. Der HR-Barometer der Universität Zürich und der ETH Zürich zeigte 2016 deutlich, dass zynisches Verhalten zunimmt. Zwei von drei Befragten sagten, dass sie gegenüber ihren Vorgesetzten ab und zu zynische Bemerkungen manchen würden. Jüngst ist im Tages-Anzeiger aus Zürich ein Artikel erschienen, in dem auf eine Loyalitätskrise zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber hingewiesen wird. Das HR-Barometer zeigte, dass jeder vierte Beschäftigte davon ausgeht, dass gewisse Versprechen seitens des Unternehmens gebrochen wurden und jeder Dritte sieht die Beziehungen innerhalb des Unternehmens als nicht "vollumfänglich zufriedenstellend" an. Unternehmen bilden ihre Mitarbeiter immer weniger aus, mit dem Argument, dass diese sowieso bei einem besseren Angebot sofort die Stelle wechseln. Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben scheinbar kein Vertrauen mehr zueinander. Auswahl im Sinne von kriterienbasierter Selektion, scheint viel billiger, schneller und effizienter zu sein, als dass man Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen weiterentwickelt.

Ich sehe Zynismus am Arbeitsplatz als eine gedankliche Radikalisierung an; man hat ja sowieso keine Hoffnung mehr, dass sich irgendetwas zum Guten ändern wird. Auch fehlende Loyalität deutet auf einfache Antworten zu lebensweltlichen Fragen hin: Man macht sich nicht mehr die Mühe, ein Vertrauensverhältnis herzustellen und gemeinsam eine Basis zu finden. Lieber gerade eine neue Stelle. Für mich ist das auch eine gedankliche Radikalisierung. Wenn man davon ausgeht, dass Menschen mit aller Macht versuchen, demütigenden Situationen aus dem Weg zu gehen, so deutet für mich sowohl die Zynismuszunahme wie auch die Loyalitätskrise darauf hin, dass viele Menschen in der täglichen Arbeitswelt demütigende Erfahrungen machen, bis hin zur Gefahr des Verlustes der eigenen Würde.

Keine Zeit für Würde

Wenn man seinen eigenen Lebensweg betrachtet, so hat man in vielen Alltagssituationen in der Schule, bei der Arbeit und im Zusammenleben das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Sei es das Gefühl, dass einem die Hände gebunden sind oder das Gefühl, dass man in einer Situation steckt, in der jede Argumentation sinn- und zwecklos ist. Vielleicht deuten diese Gefühle darauf hin, dass etwas mit unserer Würde passiert, dass wir nicht mehr Selbstzweck sind, sondern nur noch Mittel zum Zweck. Würde hat im streng getakteten Alltagsverlauf weder Priorität noch Platz; denn Würde als "Muster des Denkens, Erlebens und Tuns" braucht Zeit und Muße.



Thomas Marti hat Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaft in Zürich studiert. Er lebt und arbeitet in Davos. Sein Projekt Zeitbildung bietet zeitsoziologische Betrachtungen der Moderne für Unternehmen, Institutionen und Schulen und setzt sich mit Fragen nach einem guten und gelingenden Leben aller Menschen auseinander. Unter www.zeitbildung.ch kann man dazu mehr erfahren und Thomas Marti kontaktieren.

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5 Kommentare:

  1. Jedes Lebewesen hat seine eigene Würde, nicht nur der Mensch. Vor 10.000 Jahren im Rahmen der Agrarisierung hat der Mensch Tieren und Pflanzen zum ersten Mal die Würde geraubt, indem der das Nutztier und die Nutzpflanze erfunden hat.

    Im Rahmen der Industrialisierung der Landwirtschaft vor ca. 50 Jahren hat der Mensch Tiere und Pflanzen weiter entwürdigt. Was viele Menschen an der Massentierhaltung stört, ist doch weniger, dass die Tiere "nicht artgerecht" leben, das tun Hunde, Katzen und andere Kulturfolger auch nicht, sondern die Verdinglichung des Tiers, die mit "Würde" überhaupt nichts mehr zu tun hat. Hühner, Schweine, Rinder werden zu einem Teil einer Maschinerie, wo sie überhaupt nichts mehr anderes als pure Ohnmacht verkörpern. Dieser Umgang mit anderen Lebewesen erscheint den meisten Menschen sogar normal. Man hat sich dran gewöhnt oder denkt nicht drüber nach.

    Zeitgleich mit der Unterwerfung von Pflanzen und Tieren, entstanden Klassengesellschaften und Sklaven. Wie wir mit anderen Lebensformen umgehen, schlägt auf den Menschen zurück. Auch viele Menschen empfinden sich heute als Teil einer seelenlosen Maschinerie, der sie mehr oder weniger hilflos ausgesetzt sind. Der Verlust von Würde berührt tiefergehende Fragen nach unserem Menschsein, als im Artikel vorgeschlagen.

    Ich denke, der Mensch bekommt seine volle Würde nur zurück, wenn er seinerseits Pflanzen und Tiere ihre Würde zurückgibt. Bloß kann ich mir nicht vorstellen, wie das bei der fortschreitenden Technisierung und 7,5 Milliarden Menschen sowie unserer geistigen Befindlichkeit gehen soll.

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    1. Besten Dank für Ihren Kommentar. Technisierung ist wenn man die Umsetzung von Digitalisierung Technokraten überlässt. Ich bin der Meinung, dass Digitalisierung einer der Umsetzung vorgelagerten Interpretation bedarf. Ich gebe Ihnen recht, dass dies nicht ganz einfach ist. Trotzdem sollten wir uns auf allen Ebenen dafür einsetzten!

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    2. Technisierung ist die Nutzung von immer mehr Fremdenergie (fossile Brennstoffe, Atom-, Wind-, Wasserkraft) mittels ständig wachsenden Einsatzes von technischen Hilfsmitteln (Maschinen).

      Technisierung ist nicht die Umsetzung von Digitalisierung, ebensowenig wie die Erfindung der Schrift die Ursache für die Agrarisierung war. Die Schrift wurde erfunden, weil die Agrarisierung ein neues Kommunikationsmittel notwendig machte. Ebenso erzwingt die fortschreitende Technisierung nun die Digitalisierung. Die digitale Revolution folgte auf die industrielle, nicht umgekehrt. Die Digitalisierung ist nichts anderes als das Kommunikationsmittel, mit dem die Vertechnisierung der Welt sprachlich gefasst wird.

      Wenn die Technik den Menschen beherrscht statt - wie wir gerne glauben, der Mensch die Technik -, wenn die Maschinen also den Takt vorgeben, ist die Folge für den Menschen der streng getaktete Alltagsverlauf, in dem weder Würde noch die Muße, über Gott und die Welt nachzudenken, angemessen Raum hat.
      Wenn Technik (oder technisches Denken) die Beziehungen (zu anderen Menschen, Lebewesen oder Umwelt) gestaltet, entsteht kein Resonanzraum wie in lebendigen Beziehungen. Würde braucht diesen Resonanzraum. Entwürdigung kann man als "Zerstörung des Resonanzraums" definieren.

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    3. Danke für Ihr Feedback. Ich stimme mit ihnen überein, dass sich die Resonanztheorie von Hartmut Rosa sehr gut eignet, um sich dem Begriff der Würde zu nähern. Die Präferierung des Kurzfristigen und Schnellen birgt meiner Meinung eine mögliche Gefahr für die Würde in sich; eben weil sich Resonanzräume oft in Entfremdungszonen oder Echoräume umwandeln. Rosa unterscheidet zwischen nicht institutionalisierbaren, unverfügbaren Resonanzerfahrungen und stabilen Resonanzachsen, die Grundlage für Resonanzerfahrungen sind. Der Verlust von stabilen Resonanzachsen kann zu Situationen von Ohnmacht führen. Eine solche Situation wird nach Peter Bieri aber erst dann zu einer Demütigung, wenn derjenige, der die Resonanzachsen kappt, dies mit demonstrativer Genugtuung tut.
      Sich für die Würde einzusetzen kann auch heissen, sich für globale Resonanzräume stark machen. Resonanz beruht nach Rosa auf Widerspruch und zweiseitiger Antwortbeziehung. Wenn wir es schaffen, das Thema Digitalisierung unter den würdevollen und transformativen Bedingungen eines Resonanzraumes zu thematisieren, sehe ich gute Chance, dass wir Digitalisierung gewinnbringend in unsere Gesellschaft integrieren können.

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  2. Man muss oder sollte Probleme unserer Zeit an treffenden Begriffen aufziehen. Würde ist ein solcher Begriff. Es scheint, als trampele man auf ihm vermehrt herum, ohne es sich das gewahr zu sein.
    Danke für die Benennung.

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