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12. Dezember 2021

Über Misanthropie: Hass und Verachtung reflektiert

Ein Gespräch über enttäuschte und missglückte Menschenliebe

Im Sommer sprach der Journalist Rolf Cantzen mit mir über Negativität, Misanthropie und verwandte Variationen des menschlichen Erlebens. Das Ziel war Cantzens Radio Feature Über Misanthropie: Missglückte Menschenliebe, das schließlich am 5. Dezember im Deutschlandfunk ausgestrahlt wurde.


Im Folgenden kann man das Zweiergespräch als Transkript lesen. Allerdings lege ich jedem ernsthaft ans Herz, sich das gesamte Feature anzuhören, es lohnt sich und ist überraschend komisch.

Warum sollten wir uns überhaupt mit Misanthropie auseinandersetzen?

Generell faszinieren mich negative Geistesbewegungen, also Weltflucht, Menschenflucht, Ermitage, Askese. Ich finde es spannend, wenn der Geist gegen seinen Körper zum Tode strebt. Dieser Konflikt der dem Körper mitgegebenen Selbsterhaltung um jeden Preis auf der einen Seite und dem Drang nach der eigenen geistigen Auslöschung auf der anderen Seite verlangt nach Aufklärung, finde ich.

Und ja, misanthropische Anwandlungen habe ich selbst auch. Wer selbst keinerlei misanthropische Anwandlungen hätte, den hielte ich gar nicht für voll zurechnungsfähig in unserer dicht gedrängten Welt. Und wer wirklich und konsequent die Menschheit hasst, vor dem muss man sich und alle anderen in Acht nehmen.

Was gefällt den Menschen an der Misanthropie?

Die Nachfrage nach Negativität ist riesig. Wenn man sich ansieht, nach welchen Texten Menschen im Internet suchen, dann geht es oft um Depression, Hass auf sich selbst und andere oder Ängste aller Arten. Wenn ich die vielen Kommentare zu diesen Artikeln richtig verstehe, geht es den meisten dabei um Selbsthilfe und darum, verstanden zu werden. Manche wollen Gleichgesinnte finden oder haben einfach einen Drang, ihre Konflikte zu artikulieren. Oft liest man dann so ein Aufatmen, dass es anderen auch so ginge und dass man in seinem Konflikt nicht allein sei. Dann gibt es noch die Irren, die einfach ihre Vernichtungsphantasien verbreiten wollen. Deren Kommentare mit konkreten Drohungen muss ich aber löschen.

Ist es nicht nötig, sich über die Begriffe zu verständigen? Was ist Misanthropie, was Menschenhass? Was ist Menschen-Hass in Abgrenzung von der Menschen-Verachtung? In Ihrem Artikel ist auch von Menschenekel die Rede. Menschenflucht, Kontaktvermeidung sind auch Aspekte …

Die begriffliche Differenzierung ist natürlich sehr wichtig, wenn man sich diesen Phänomenen psychologisch und philosophisch nähern möchte. Geht es Lesern nur darum, nicht allein zu sein oder ihrem Mitteilungsbedürfnis nachzugeben, dann sind sie sehr gern bereit, alles ineinander verschwimmen zu lassen. Und da sehe ich ja gerade meine Aufgabe als Hobbyphilosoph: Differenzen herausstellen, Feinheiten klären, verborgene Hintergründe betrachten – in der Hoffnung, dass Leser dann reflektieren.

Nehmen wir den Ekel auf der einen Seite: Ein eigentlich viszerales Gefühl, dass nur kurz durch Sartre philosophisch-literarisch als gesteigertes Entfremdungsgefühl salonfähig wurde. Man ekelt sich vor Menschen nicht aus intellektuellen Gründen, sondern weil sie schmatzen, Fäkalien produzieren, riechen und letztlich verwesen. Das ist durchaus ein Thema bei einigen meiner Leser, aber ich vermute, dass dem eher psychologische Gründe aus dem Komplex rund um Zwanghaftigkeiten zugrunde liegen.

Und dann gilt es zu unterscheiden: der konkrete Menschen-Hass (die U-Bahn-Nähe) und Hass auf die Menschheit.

Genau: der Hass auf andere konkrete Menschen kommt eher aus der täglichen Reibung, weil sich alle gegenseitig auf den Füßen stehen und weil man das erdulden muss, obwohl es objektiv betrachtet eine Zumutung ist, zu deren Erduldung wir einfach nicht gemacht sind. Letztlich geht es hier um Einschränkung von Autonomie, eines der stärksten menschlichen Bedürfnisse in westlichen Kulturen. Den Hass auf die Menschheit hingegen, kann ich auch spüren, wenn ich allein im Kloster oder Wald bin und mir vorstelle, was diese Menschheit dort unweit von mir gerade alles anstellt.

Gibt es verschiedene Misanthropie-Typen?

Ich weiß nicht, das ist alles keine exakte Wissenschaft oder Bestimmungslehre, aber es gibt offenbar jeweils andere Motive für solche breite Negativität wie zum Beispiel Tierschutz, Snobismus, tugendhafte Überzeugungen. Ich denke, dass der wahre Misanthrop ein enttäuschter Humanist sein muss.

Liegt nicht auch viel Koketterie in der Misanthropie? 

Ich meine eher, dass es Naivität ist und die ist ja der Koketterie entgegengesetzt. Koketterie sehe ich eher bei den Verächtern der Menschen, so wie sie angeblich sind: Ungebildet, grob, stillos. Da mag man sich manchmal selbst als misanthropisch abgrenzen, um sich hervorzutun oder anderen zu gefallen. Diesen Verächtern fehlt dann aber das naiv-ernsthafte, die Enttäuschung der wirklichen Misanthropie.

Das zentrale Motiv für die Misanthropie sind die Menschheitsverbrechen, die Dummheit, die Zerstörung der natürlichen und sozialen Umwelt … Was überzeugt Sie am meisten?

So wie ich Misanthropie verstehe, sind es nicht diese konkreten Verfehlungen und Verbrechen, sondern das ihnen zugrunde liegende Fehlen von Tugenden und Prinzipien der Menschlichkeit.

Die "Dummheit der Massen" ist so ein Beispiel, an dem man ein Mangel an Streben, an Vertikalspannung (ein treffender Begriff Sloterdijks) festmachen kann: In meinen misanthropischen Anwandlungen frage ich mich, wie Menschen ihren eigenen Intellekt dermaßen dadurch beleidigen können, dass sie Dinge nicht zu Ende denken, dass sie krude Informationen für die Wahrheit halten, dass sie unredlich argumentieren, sich selbst und andere belügen oder – noch schlimmer und immer stärker um sich greifend – dass sie einfach Dinge behaupten, von denen sie selbst und ihre Adressaten wissen, dass sie nicht stimmen (sie nennen das alternative Fakten). Die von Ihnen genannten Verbrechen sind Derivate dieser Dummheit und so für den Misanthropen bereits eingepreist.


Das Motto "Wir sind alle Scheiße" über dem Artikel ist ja bereits sehr provokant. Wie viel Koketterie, wie viel Provokation steckt in dem Zitat – oder ist es tiefe Verachtung?

Nein, das ist ein Bonmot des Comedians Bill Hicks, auf das Sie da anspielen. Seinem Satz voraus geht ja die Behauptung, dass wir alle gleich und einig seien. Ich fand mich nicht zuletzt aufgrund meiner frühen DDR-Sozialisation darin wieder, in der Einigkeit und Gleichheit eine große Rolle spielten. Und auch aus lebensphilosophischer Sicht kann man argumentieren, dass da einiges dran sei: richtig einig und gleich sind wir letztlich im Exkrement und nach dem Krematorium. Negativität gegenüber dem Leben insgesamt und dem bewussten Leben insbesondere kann nicht einfach als Koketterie abgetan werden, wenn man sich die lange gnostische Tradition und unsere Liebe zur Betäubung anschaut. Es ist auch ein ängstliches bis mutiges Freundschafthalten mit dem Nichts, denn letztlich müssen wir alle dahin zurück. Immer nur wegrennen verstärkt die Angst.

Die gnostischen Spekulationen: Diese Welt kann nur ein boshafter oder – bestenfalls – ein völlig unfähiger Demiurg geschaffen haben. Das ist doch fast ein tröstlicher Gedanke? Die Menschen können nicht anders, sind Opfer …

Ja, Opfer sein ist enorm entlastend. Aber die gnostische Erzählung geht ja weiter: Weil es so unerträglich ist, dieses im Missgriff geschaffene Fleisch zu sein, ist es besser, gar nicht zu sein und sich in Askese dem Nichts zu nähern. Das ist fast schon wieder modern, denn da tröstet nicht einmal eine paradiesische Nachwelt. Es gibt nichts zu hoffen außer dem Nichts. In die von Ihnen angedeutete Richtung geht auch eine meiner Hypothesen, nach der in unserer Moderne die gnostische Weltflucht in Phänomenen wie Kloster-Retreat, Vegetarismus, Minimalismus, Hygge, Meditation und so weiter, eine in den postkapitalistischen Individualismus gut integrierte Wiederkehr erfährt. So sehr das individuell verständlich ist, so unnütz ist das aufs Ganze gesehen. Zur Besserung bräuchten wir eher eine neue Kommunion als diese gutgemeinte Vereinzelung im Verzicht.

Wieviel Selbsthass steckt in der Misanthropie – und wieviel Lebens-Unfähigkeit?

Also wenn wir dann mal doch alles in einen Topf schmeißen, die wirklichen Misanthropen zusammen mit den Hassenden und Verächtern, dann je nach Typ oder Motiv eine Menge Selbsthass. Lebensunfähigkeit sehe ich darin jedoch nicht, denn Negativität ist ja für einige gerade ein Antrieb in ihrem Leben. Die Blindheit des Lebens als Spezies ist überaus verzeihend gegenüber den unproduktiven oder gar destruktiven Verschrobenheiten des Individuums. Man kann noch so sehr die Menschheit hassen – Völlerei und Fortpflanzung gehen immer.

Oder Resignation: Leben ist Leiden, Mit-Leiden mit den armen Leidensgenossen ist die folgerichtige Reaktion, Misanthropie ist nichts als eine Ablenkung, ein Wahn (Schopenhauer).

Das ist ein Missverständnis Schopenhauers, denke ich. Misanthropen sind keine Nihilisten. Wahre Misanthropen sind voller Mitleid, da kommt ihre Enttäuschung über die Menschheit her. Die wahren Misanthropen sind eher motiviert durch ihre Verzweiflung an der Menschheit und nicht durch Hass.

Die geschichtsphilosophische Hoffnung auf eine verbesserte Menschheit – nach der Revolution oder nach der Aufklärung ist gleichgültig – ist inzwischen auch sanft entschlafen. Der Umschlag in Menschenhass wäre dann Ressentiment …

Ein interessanter Gedanke, den man untersuchen müsste. Ich benutze häufig den Begriff "Enttäuschung", der als Zielbild mehr innere Klarheit, Bewusstsein bei den betroffenen Subjekten voraussetzt als der Begriff "Ressentiment". Es wäre aber sehr plausibel anzunehmen, dass auch lang gehegte und nicht in Erfüllung gehende Menschheitsträume einiges an unbewussten negativen Potenzialen aktivieren. Vielleicht hört Misanthropie eben dort auf und geht in Hass und Verachtung über, wo sich das Unbewusste in Ressentiment übersetzt.

Ist es nötig, von Zeit zu Zeit mal die menschenhassende Sau herauszulassen? Wenn ja, warum? Um sich Distanz zu schaffen?

Ich nehme an, das ist individuell unterschiedlich. Jedes Stachelschwein hat sein eigenes Distanzgefühl, so scheint es. Mir reicht es oft, einfach weg zu gehen und meine Stacheln am Körper glatt angelegt zu lassen. Nicht immer ist das möglich und Stress entsteht. Aber wir wissen ja auch, dass es viele "gewaltlose" Wege gibt, Stress und dessen Korrelate abzubauen. Richtig gut funktionieren Sport und Heavy Metal Konzerte bei mir. Andere schwören auf Meditation und Achtsamkeit, da fehlt mir persönlich das aktive Abbauen von Stresshormonen.


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