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5. Oktober 2023

Sterben lernen – #1: Akzeptanz, anstatt Hybris

"Philosophieren heißt sterben lernen", meinte Platon. Ein starker Satz, den wir uns in der Lektion 2 genauer ansehen müssen, denn er flüstert in unsere heutige Ohren einen modernen, existenzialistischen Sinn, der ursprünglich nicht gemeint war. Aber erst einmal: Einfach so dahin leben und irgendwann tot sein? Oder lieber sukkzessive weiser werden und versuchen mit dem Nicht-Sein vor und nach uns, einem erfüllten Sein näher zu kommen? Mir gibt die Endlichkeit viel Freiheit: Was zählen all die kleine Sorgen im Angesicht der Ewigkeit? Und sie motiviert mich, das Beste aus dem zu machen, das mir gegeben wurde (christlich gesagt) oder zu dem ich gezwungen wurde (existenzialistisch gesagt). 

Manche Bäume werden über 500 Jahre alt, und gerade die so genannte Krönung der Schöpfung muss mit 80 abtreten? (Friederike Mayröcker)

Das Sterben akzeptieren lernen

Aus jetziger Perspektive zeigt der Satz "Philosophieren heißt sterben lernen" ohne Zweifel in die heute verständliche, nämlich existenzialistische Richtung. Denn wie sollen wir damit umgehen, dass wir ohne je eine Wahl gehabt zu haben, an dem Tag anfangen zu sterben, an dem wir geboren werden? In der Moderne ist das durchaus als eine Demütigung, eine Kränkung verstanden worden, an der sich viele Menschen auch ohne ein Akzeptieren-Wollen abarbeiten. Beispielsweise antwortete Friederike Mayröcker, eine der bedeutendsten zeitgenössischen Lyrikerin im deutschen Sprachraum, noch im Alter von 94 Jahren auf die Frage, ob es keine Aussicht auf Versöhnung zwischen ihr und dem Tod gäbe:

"Nein, nein. Der Tod ist ekelhaft. Er ist ein Eklat, ein Skandalon, eine Frivolität, eine Schmach, eine Verdammung und eine Herabsetzung des menschlichen Lebens. Und der große Stachel des Todes ist, dass man nicht weiß, wohin es geht." (Ein Skandal, dieser Tod)

Mayröcker wurde 96 Jahre alt. Das ganze Leben geht vom ersten Tag an zielstrebig auf sein Gegenteil hin. Und tot sein, ist offenbar für alle Menschen ein abschreckender Gedanke, an den sie sich erst einmal gewöhnen müssen, den zu akzeptieren sie lernen können. Ich sehe das an meinem siebenjährigen Kind, das keineswegs akzeptiert, dass irgendwer oder gar es selbst eines Tages stürbe. Noch abschreckender, als der Gedanke, tot zu sein, ist einigen der Gedanke, eines Tages sterben zu müssen. Wir haben also ein Leben lang Zeit, das Sterben – und somit das Akzeptieren des eigenen Todes – zu lernen.

"Beim Tod hört das Können auf, das Müssen kommt zum Zuge. Und in dem Wort »Müssen« steckt die ungeheure Schwerkraft der unbesiegbaren Naturgesetze, wie sie von den Alten erfahren wurde." (Sloterdijk, Ausgewählte Übertreibungen, S. 400)

Schon das Müssen ansich wäre ein guter Grund, den Umgang mit dem Sterben zu lernen. Welchen anderen vernünftigen Umgang kann man sich vorstellen, als den des Akzeptierens? Das Tot-Sein ist dann damit bereits inkludiert, denn wenn ich das Sterben akzeptiere, dann habe ich bereits eine gewisse implizierte Nicht-Existenz (offen für Spekulationen) in seiner Folge abgenickt.

Dieses Lernen ist keineswegs theoretisch, wie es uns erst einmal vorkomen muss, wenn Philosophen sprechen. Die Anschauung gehört ja mit zur Philosophie und die ist sinnlich. Ich merke zum Beispiel, wie ich das Sterben lerne, während ich meinen Vater auf seinem letzten Lebensabschnitt begleite. Diese letzten Jahre haben im Fall meines Vaters einen deutlichen Charakter des Sterben-Müssens. Dabei ist es durchaus eine Frage des eigenen Geschmacks, aber nicht des eigenen Könnens, ob man lieber mit 70 "vom Bus überfahren" werden möchte und sich somit den unvermeidlichen körperlichen und geistigen Abbau in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten ersparen möchte oder ob man auch diese Abbauphase mitnehmen will. Nur den wenigsten Menschen ist es vergönnt, wie etwa Hans-Georg Gadamer oder Ernst Jünger im Alter von 102 gedanklich fit und plötzlich abzuleben.

Akzeptanzideen

Das Sterben-Müssen zu akzeptieren, hat die gesamte Menschheit immer wieder geübt. Freilich mit der ironischen Konsequenz, dass wir modernen, westlichen Menschen inzwischen so weit weg sind von einer Akzeptanz, dass wir panisch und von Start-ups unterstützt nach allen möglichen Strohalmen greifen – von Nahrungsergänzungsmitteln und künstlicher Hormonzufuhr, über die Kryonik bis hin zum Upload des Bewusstseins in die Cloud.

Palingenese

Eine populäre und sehr alte Übungen im Sterben akzeptieren ist die Palingenese, ein zyklisches Verständnis vom Werden und Vergehen als kosmologisches Gesetz in der Antike. Bei Platon war es auch die Seelenwanderung, auf die wir noch in Lektion 2 eingehen werden. Im anschließenden christlichen Verständnis kann es sowohl die Erneuerung der gesamten Schöpfung am Ende aller Zeiten, als auch die Wiedergeburt des "inneren Menschen" durch die Taufe sein. Und bei Nietzsche ist die Palingenese die ewige Wiederkehr des Gleichen (eigentlich: Wiederkunft). Man könnte das alles (außer Nietzsche) zusammenfassen mit: Wir finden Trost in dem Gedanken, dass wir eingebettet sind in ein großes Kommen und Gehen, aus dem wir nie komplett verschwinden.

"Die Seelen sind so sterblich wie die Leiber.
Aber der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, – der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft." (Nietzsche, Zarathustra)

Die Entropie als grundlegendes physikalisches Prinzip, das der Idee der ewigen Wiederkunft argumentative Schwierigkeiten machen dürfte, hatte sich zu Nietzsches Zeiten noch nicht durchgesetzt. Das mag aber auch egal sein, falls Nietzsche diese ewige Wiederkunft lediglich moralisch meinte und nicht an sie als kosmologisches Prinzip glaubte. Jorge Luis Borges wies darauf hin, dass das Werk letztlich auch einfach Literatur ist und das Gesprochene nicht mit den Überzeugungen des Autors übereinstimmen muss.

Entropie

Palingenese als zyklisches Konzept kann also bei der Akzeptanz unseres unausweichlichen Endes helfen. Ein wissenschaftliches und antizyklisches Konzept der Erhaltung der Energien, die uns ausmachen, finden wir in der Entropie: Der Übergang von organisierter Energie der Existenz zu einem chaotischen Sein, einem Auseinandertreiben der Energien. Anstatt dass wir leben, ist es statistisch viel wahrscheinlicher, dass die in uns organisierte Energie desorganisiert verteilt ist. Es bedarf viel Aufwand und Energiezufuhr, um die Energien so organisiert zu halten, dass sie über einige Jahrzehnte einen stabilen Menschen manifestieren. Kosmologisch gesehen lässt die Entropie gar keine Hoffnung zu, weil sie der Fluchtpunkt allen Seins ist und letztlich jegliche Energie im Universum in Chaos übergeht. Dennoch sorgt Entropie auf lokaler Ebene dafür, dass unsere Energien in andere Lebewesen übergehen, erst mal in Bakterien, Maden, Fliegen, Pflanzen oder – im Kanibalismus – sogar anderen Menschen zugute kommen (nicht sicher, welchen Trost das birgt). Wir gehen also nicht verloren, sondern bleiben auch hier ein Teil des ganz großen "Rad des Seins", das sich nur imer weiter abnutzt.

Nachleben

Einige Intellektuelle und Künstler, aber sicher auch Politiker, Magnaten und andere, sich selbst wichtig findende Menschen, haben nicht selten den Horror, dass nichts von ihnen übrig bliebe, wenn sie eines Tages stürben. Also arbeiten sie an einem Werk, an einem Nachlass, an etwas, dass sie überdauern wird. Das kann zwanghafte Züge annehmen, so dass mit der Kraft der Verzweiflung am Nachleben gearbeitet wird, gegebenenfalls auf Kosten des eigentlichen Lebens. Das ist doch gar nicht nötig, würde vielleicht der französiche Philosoph Vladimir Jankélévitch sagen:

"Wer gelebt hat, fällt niemals mehr in die vorgeburtliche Nichtheit zurück: das Irreversible, das seine Auferstehung verhindert, verhindert auch sein Zunichtewerden. ... Während das Leben vergänglich ist, ist die Tatsache, ein vergängliches Leben gelebt zu haben, ewig." (Vladimir Jankélévitch: Der Tod)

Und so gibt es neben Palingenese, der Entropie oder dem Lebenswerk sicher noch viele andere Ideen, die uns einer Akzeptanz des Unausweichlichen näher bringen.

Akzeptanz, anstatt Hybris

Am Ende dieser Lektion will ich – ganz philosophisch – das Untersuchungsobjekt noch einmal von der anderen Seite betrachten: Könnten wir es denn überhaupt akzeptieren, ewig leben zu müssen? Wenn ja, wäre das Nietzsche zufolge die höchste denkbare Lebenbejahung. Rein praktisch gesprochen wäre das doch aber eine absurde Zumutung, die mindestens genauso viele Menschen vor ein Akzeptanzproblem stellen dürfte wie der Tod. Ist es also gar nicht der Tod, den wir akzeptieren lernen sollten, sondern die Machtlosigkeit, die Unfreiheit, das Müssen ansich? 

Mit dieser Frage kommen wir den antiken Griechen schon wieder etwas näher, denn nur eines war vor den antiken Göttern unverzeilich: die Hybris, die Überschätzung – die Anmaßung, einem Gott gleich zu kommen. Der Upload des Bewusstseins in die Cloud ist auf jeden Fall ein Hybris-Unternehmen, das die Götter zu verhindern wissen werden.

Können wir den Tod akzeptieren lernen? Es gibt massenweise – in der Vergangenheit jedenfalls – Beispiele dafür wie z.B. Sokrates. Sterben lernen, sich auf den Tod vorbereiten, können wir dennoch nicht wirklich. Vladiir Jankélévitch sagt völlig zurecht:

"... der umsichtige Mensch mag sich noch so gut »vorbereiten«, ohne im ürgigen genau zu wissen, worauf er sich vorbereiten soll, der Tod findet uns, wenn er kommt – und er kommt immer zum ersten Mal – stets hilflos. Der vorsichtige Mensch wird immer überrascht, muß sein Ende hinpfuschen und irgendwie krepieren ..." (Vladimir Jankélévitch: Der Tod)

Demnach könne man das Sterben gar nicht lernen, ja sich nicht einmal vorbereiten. Der Tod komme immer zu früh und wenn es absehbar ist, dass er bevorsteht, entstehe eine Dringlichkeit, die sinnverwirrend sei, uns in einen Taumel stürze. Ich hingegen glaube, dass wir alle auch zu Lebzeiten ähnliche Erlebnisse haben, die uns in so einen Taumel stürzen und vielleicht doch eine Art Übung ermöglichen. Als Kind waren es die ungeliebten Klassenarbeiten oder Diktate, die manch grausamer Lehrer unangekündigt, überraschend ausrief. Das war so ein kleiner Tod, es half nichts – man musste gewissermaßen über seinen Schatten springen und sich der Sache hingeben. Im Erwachsenenalter waren es bevorstehende Operationen, die zwar nie ganz ungeplant kamen. Dennoch hat es mich immer überrascht, wenn plötzlich das medizinische Team kam und mich aus dem Zimmer in einen Fahrstuhl und dann in den Vorraum irgendeines OP-Saals im Keller schob. Nicht umsonst gibt es eine Beruhigungstablette, bevor es mit der Anästhesie losgeht.

Kann man diesen Sprung, dieses sich Hingeben nicht üben, kann man sich darauf nicht vorbereiten? Der Tod ist keine Klassenarbeit und keine Anästhesie, aber es gibt Parallelen des Loslassens, auch wenn man meistens davon ausgeht, dass man auf der anderen Seite des Tunnels wieder rauskommt. Dass der Tod immer zum ersten Mal kommt, dass wir darauf hilflos reagieren, überrascht sind und die Situation hinpfuschen müssen, ist also nichts Besonderes. Besonders ist aber die Totalität des Ganzen, die Letztendlichkeit. Aber was weiß ich schon? Nichts, denn ich habe den Tod noch nicht am eigenen Leib erfahren.


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