Maurice Merleau-Ponty und das Dazwischen
Der Todestag von Maurice Merleau-Ponty jährt sich zum 64. Mal. In einer Zeit, die von begrifflichen Auflösungen ("alternative Fakten") einerseits und dem Wunsch nach begrifflicher und auch physischer Abgrenzungen (identitär, LGBTQ, national etc.) andererseits geprägt ist, scheint sein stilles, verbindendes und tiefgründiges Denken verschütt gegangen zu sein. Jedenfalls hört man nichts über dieses Denken und das zu Unrecht. Merleau-Ponty erinnert uns daran, dass das Leben sich nicht an Grenzen hält, sondern im Dazwischen spielt: zwischen Körper und Geist, zwischen Selbst und Welt, zwischen Eigenem und Fremdem, ja sogar zwischen Abgrenzung und Auflösung. Sein Konzept des "Fleisches der Welt" ist eine philosophisch unkonventionelle Perspektive auf die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, die über klassischen dualistischen Denkmuster hinausgeht und die fundamentale Verbundenheit aller Dinge betont.
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Ausschnitt aus "Artisten" von Paul Klee, 1915 |
Merleau-Ponty (1908 – 1961) wuchs in einer Epoche politischer Spannungen und intellektueller Umbrüche auf. Der Tod seines Vaters im Ersten Weltkrieg prägte seine Kindheit – eine Erfahrung von Verlust und Unsicherheit, die später auch seine Philosophie der offenen Bedeutungen durchdrang.
Er studierte an der École Normale Supérieure in Paris und begegnete Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir (es lässt sich nichts zu einer naheliegenden Begegnungen mit Camus finden). Obwohl Merleau-Ponty oft mit dem französischen Existenzialismus in Verbindung gebracht wird, schlug er seinen eigenständigen Weg ein. Sein Interesse galt weniger der Freiheit des Bewusstseins, wie bei Sartre, sondern vielmehr dem körperlichen Eingebundensein in die Welt.
Merleau-Ponty lehrte an verschiedenen Universitäten, unter anderem in Lyon und an der Sorbonne und engagierte sich auch politisch – zunächst sympathisierend mit marxistischen Ideen, später zunehmend kritisch gegenüber ideologischer Erstarrung. Der tödliche Schlaganfall an seinem Schreibtisch, als er nur 53-jährig an Das Sichtbare und das Unsichtbare arbeitete, beendete sein Ouevre, das stets auf ein unvollendetes Verstehen der Welt hinauslief.
Sich auf die Welt einlassen, sich bestimmen lassen
Maurice Merleau-Pontys Hauptwerk, Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), beginnt mit einer Infragestellung der klassischen philosophischen Dualismen: Körper gegen Geist, Subjekt gegen Objekt. Für ihn sind diese Trennungen künstlich – sie verfehlen die lebendige Erfahrung. Die Wahrnehmung der Welt ist für Merleau-Ponty kein reiner innerer Akt und keine passive Spiegelung äußerer Realität. Stattdessen ist sie eine aktive, verkörperte Bewegung auf die Welt zu. Er schreibt:
"Wahrnehmen heißt, auf etwas in der Welt ausgreifen, sich auf es einstellen, und sich von ihm bestimmen lassen." (Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 61)
Der Gedanke, sich von etwas "bestimmen zu lassen", wirkt heute kontraintuitiv. Moderne Ideale betonen Autonomie und Kontrolle über die Umwelt. Merleau-Ponty jedoch lädt uns ein, diese Haltung zu überdenken: Die Welt begegnet uns nicht als bloßes Rohmaterial zur Gestaltung, sondern als Mitgestalterin unseres Daseins. Wahrnehmen bedeutet daher nicht, die Welt einseitig zu formen, sondern sich ihr zu öffnen, ihre Rückwirkungen zuzulassen – um wirklich in Beziehung zu treten. Wer nur bestimmt, aber sich nicht bestimmen lässt, bleibt in einem einseitigen, letztlich verarmten Weltverhältnis gefangen.
Dabei ist der Körper kein bloßes Objekt unter anderen, sondern unser primäres Zugangsmittel zur Welt. Er "ist unser allgemeines Mittel, uns in der Welt zu haben", so Merleau-Ponty. Hier deutet sich schon sein Verständnis des Dazwischen an: Der Mensch steht nicht außerhalb der Welt, sondern ist selbst Teil ihrer Bewegungen.
Das Fleisch der Welt und das Dazwischen
Ein zentraler Begriff bei Merleau-Ponty ist die "Leiblichkeit" (le corps propre). Unser Körper ist nicht einfach ein Ding unter Dingen – er ist immer in Beziehung, immer schon mitten im Geschehen. Wahrnehmung entsteht also nicht im abgeschlossenen Bewusstsein, sondern im gelebten Leib – dort, wo Innen und Außen sich verschränken.Dieser Gedanke kulminiert später in seinem Fragment gebliebenen Spätwerk Das Sichtbare und das Unsichtbare. Hier spricht er vom "Fleisch der Welt" (la chair du monde) – einer Substanz, die Subjekt und Objekt nicht trennt, sondern verbindet:
„Das Fleisch der Welt ist nicht Substanz im klassischen Sinn, sondern ein Dazwischen: nicht Geist, nicht Materie, sondern die Elementarbeziehung, aus der sie sich erst ergeben.“ (Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, Manuskriptnotiz)
Wir Menschen sind Ausdrucksformen dieses "Fleisches". Unser Leib ist Teil des "Fleisches", das die Welt durchdringt und uns mit ihr verbindet. In diesem Sinne sind wir sowohl aus dem "Fleisch der Welt" hervorgegangen als auch in es eingebettet. Es ist die gemeinsame Textur, die sowohl den wahrnehmenden Leib als auch die wahrgenommene Welt durchdringt, beschreibbar als ein "Element", ähnlich wie Wasser oder Luft, das weder Materie noch Geist ist, sondern etwas Drittes, das die Dualität von Subjekt und Objekt überwindet.
Wollte man das auf das dualistische und hier nun überwundene cartesianische "Ich denke, also bin ich" mappen, so könnte man sagen: "Ich denke, also gehöre ich dazu." Das Dazwischen ist bei Merleau-Ponty keine Leere, sondern der eigentliche Ursprungsort des Sinns. Ähnliches finden wir im Tao te Ching (Kapitel 11), wo es heißt, dass die Nützlichkeit eines Rades nicht von den festen Speichen selbst abhängt, sondern vom leeren Raum zwischen ihnen. Die wertvollsten Dinge sind demnach oft diejenigen, die "leer" oder nicht existent erscheinen, aber für die Funktionalität unerlässlich sind, ein Dazwischen eben, ein unsichtbares Fleisch.
Ambivalenz, Fragment und Offenheit
Merleau-Pontys eigene Lebenserfahrung spiegelt diese Philosophie wider: Das frühe Erleben von Verlust, sein Schwanken zwischen politischem Engagement und der Skepsis, seine intellektuelle Distanz gegenüber philosophischer Systeme und Schubladen – all das entspricht seiner Weigerung, die Welt in starre Gegensätze zu zerlegen.Sein Leben war geprägt von einer tiefen Sensibilität für das Unfertige, das Ambivalente und genau darin sah er auch den Kern der menschlichen Erfahrung. In einer Welt, die oft nach klaren Antworten verlangt, bestand Merleau-Pontys Mut darin, das offene Spiel der Bedeutungen nicht nur zu akzeptieren, sondern philosophisch fruchtbar zu machen.
Merleau-Ponty heute
Heute, da wir nach neuen Begriffen für Beziehungen, Ökologie (siehe z.B. Bruno Latour) und Identität suchen, erscheint Merleau-Pontys Denken aktueller denn je. Er zeigt, dass unsere Wahrnehmung der Welt nicht ein isolierter Akt des Geistes ist, sondern ein tief eingewobenes, leibliches Miteinander – ein fortwährendes Dazwischen, das wir niemals völlig beherrschen, sondern nur bewohnen können.In der ökologischen Debatte etwa ringen wir zunehmend mit der Einsicht, dass Natur nicht ein fremdes Gegenüber ist, das wir beliebig nutzen oder zerstören könnten. Neue Begriffe wie "planetare Grenzen" oder "Mitwelt" zeigen ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass wir als verkörperte Wesen selbst Teil der ökologischen Gewebe sind. Merleau-Pontys Idee des "Fleischs der Welt" könnte uns lehren, Verantwortung nicht nur als moralisches Muss zu verstehen, sondern als Konsequenz unserer wechselseitigen Eingebundenheit.
Auch die Identitätsdebatten unserer Zeit – ob es um Geschlecht, kulturelle Zugehörigkeit oder soziale Anerkennung geht – könnten von Merleau-Pontys Denken profitieren. Statt Identität als starre Eigenschaft zu sehen, lädt er uns ein, sie als bewegliche Beziehung zu verstehen, als ein fortwährendes Werden im Austausch mit anderen. Identitäten sind nie abgeschlossen, sondern entstehen im Raum des Dazwischen.
Die heutigen gesellschaftlichen "Triggerpunkte" (siehe Westheuser, Lux, Mau 2023) – jene oft hoch emotionalen Reizthemen, die Debatten spalten und Polarisierungen vertiefen – zeigen, wie schwer es uns fällt, Differenz als etwas anderes denn als Bedrohung zu erleben. Merleau-Pontys Phänomenologie legt nahe, dass unser Sein selbst immer schon Differenz enthält: Wir sind nicht reine Einheit, sondern leben aus einer inneren Offenheit, einem "unbestimmten Mehr" (Merleau-Ponty) heraus. Der amerikanische Philosoph Ted Toadvine fasst diese Dimension Merleau-Pontys so zusammen:
"Merleau-Pontys Denken über Natur und Leiblichkeit eröffnet eine Ethik des Dazwischen, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Resonanz und Verwobenheit beruht." (Ted Toadvine, Merleau-Ponty's Philosophy of Nature, S. 203)
Vielleicht könnte dieser Gedanke helfen, Auseinandersetzungen nicht als Schlachten um die eine Wahrheit zu führen, sondern als Dialoge im Zwischenraum – als ernsthafte Versuche, einander in unserer Verschiedenheit wahrzunehmen, ohne sofort auf Abgrenzung oder Assimilation zu drängen. So gesehen wäre Merleau-Ponty nicht nur ein Philosoph der Wahrnehmung, sondern auch ein Philosoph des Zusammenlebens – in einer Zeit, die dringend neue Formen der Koexistenz braucht.
Quellen:
- Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), dt. Übersetzung von Rudolf Boehm, Berlin 1966.
- Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964), dt. Übersetzung von Peter Trawny, München 1994.
- Toadvine, Ted: Merleau-Ponty's Philosophy of Nature, Northwestern University Press, 2009.
- Iris Marion Young: Throwing Like a Girl and Other Essays in Feminist Philosophy and Social Theory, Indiana University Press, 1990.
- ChatGPT hat mich bei der Recherche zu diesem Artikel unterstützt.
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