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9. Juli 2025

Moral für ein neues Mittelalter

Alasdair MacIntyres moralische Orientierung in unübersichtlichen Zeiten

Die Botschaft des kürzlich verstorbenen Philosophen Alasdair MacIntyre hat für viele eine besondere Resonanz – insbesondere für jene, die nach Orientierung inmitten des kulturellen Lärms der Gegenwart suchen.  

Ein Artikel von Christopher Akers

Alasdair MacIntyr, London, March 24, 1992 (Levan Ramishvili, Public Domain)

In dem postapokalyptischem Roman Lobgesang auf Leibowitz (A Canticle for Leibowitz, 1959) von Walter M. Miller Jr. wird das restliche, noch vorhandene Wissen der Menschheit nach einem verheerenden Atomkrieg ein weiteres Mal verwüstet. Bücher, wissenschaftliche Geräte, Gelehrte und Schriftkundige – all das wird von wütenden Mobs vernichtet. Jahrhunderte später sind die wenigen erhaltenen Relikte einer vergangenen Zivilisation aus ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang gerissen, und die Naturwissenschaften liegen im Chaos.

Persönliche Gefühle anstatt Moral

Für MacIntyre, den einflussreichen Moralphilosophen des späten 20. Jahrhunderts, der am 21. Mai 2025 im Alter von 96 Jahren starb, war das eine treffende Metapher. In seinem Hauptwerk Der Verlust der Tugend (After Virtue) argumentierte er, dass die Moral unserer westlichen Gesellschaften eine ähnliche Katastrophe erlebt habe. Zwar sprechen wir weiterhin von "Gut" und "Böse" und handeln, als gäbe es objektive moralische Wahrheiten – doch nach dem Bruch mit der klassischen und religiösen Tradition der Aufklärung fehlt uns heute der gemeinsame Bezugsrahmen für diese Begriffe. Zurück bleibt eine Moralphilosophie, die vor allem auf persönlichen Gefühlen beruht – haltlos im Ozean des Pluralismus und Individualismus, an den Resten einst tragender Traditionen festklammernd.

MacIntyres Antwort auf dieses moralische Vakuum unterschied sich deutlich von anderen Kritikern der Moderne wie etwa Michel Foucault. Statt die bestehenden Ordnung vollständig zu dekonstruieren, wandte er sich gegen abstrakte Theorien und knüpfte neu an Aristoteles und die Tugendethik an. In dieser Tradition ist menschliches Gedeihen mit dem Telos des Menschen als vernunftbegabtem Wesen verbunden – und zwar nicht im luftleeren Raum, sondern im konkreten Handeln und im Rahmen gesellschaftlicher Praktiken. MacIntyres Denken belebte die Tugendethik neu, auch wenn er selbst sich nie als ihr Vertreter verstand.

Während sich die akademische Philosophie zunehmend in sprachlichen Spitzfindigkeiten und kulturkritischer Dekonstruktion verlor, stellte MacIntyre existenzielle Fragen: Nietzsche oder Aristoteles? Liberaler Individualismus und Nihilismus – oder ein Ausweg in eine moralisch verankerte Gemeinschaft?

Geboren 1929 in Glasgow als Sohn gälischsprachiger Eltern, studierte MacIntyre Klassische Philologie in London und schloss sein Masterstudium in Manchester ab. Einen Doktortitel hatte er nicht und äußerte einmal augenzwinkernd: "Ich würde nicht behaupten, dass ein Doktortitel den Geist verformt – aber man muss sich dann besonders bemühen, gebildet zu bleiben." 

Nach akademischen Stationen in Manchester, Leeds, Oxford, Princeton und Essex zog MacIntyre in die USA, wo er unter anderem an der Brandeis University, der Boston University, Vanderbilt und Duke lehrte, bevor er sich an der renommierten katholischen University of Notre Dame niederließ. Sein erstes Buch erschien 1953 (Marxism: An Interpretation), sein letztes 2016 (Ethics in the Conflicts of Modernity). Dazwischen veröffentlichte er einige der einflussreichsten moralphilosophischen Werke des Jahrhunderts: After Virtue (1981), Whose Justice? Which Rationality? (1988), Three Rival Versions of Moral Enquiry (1990) und Dependent Rational Animals (1999).

MacIntyre war Zeit seines Lebens ein Suchender – sowohl intellektuell als auch religiös. Früh politisch aktiv im kommunistischen und sozialistischen Milieu, stand er im Austausch mit linken Denkern wie E. P. Thompson. Religionsphilosophisch durchlief er Stationen als Anglikaner, Presbyterianer und Atheist – keine dieser Bekenntnisse bot ihm letztlich dauerhafte Antworten. Seine geistige Reise führte ihn schließlich vom revolutionären Marxismus und der analytischen Philosophie über eine Synthese von Aristoteles und Thomas von Aquin in die katholische Kirche.

Sein Bekenntnis zu einer "fundamentaleren Ordnung" war Ausdruck der Wichtigkeit seiner späten katholischen Wendung, wie man auch an seiner Auffassung sehen kann, dass Thomas von Aquin als Aristoteliker konsequenter sei, als Aristoteles selbst.

Heutiger Konservativismus und Liberalismus zerstören Moral 

Gleichzeitig blieb er ein scharfer Kritiker des Kapitalismus – beeinflusst von Marx’ Analyse, aber ohne dessen revolutionäres Pathos. Er lehnte sowohl den liberalen Individualismus als auch den heutigen Konservatismus ab, den er als bloßes Spiegelbild liberaler Ideologie betrachtete. Beide zerstörten, so MacIntyre, die Voraussetzungen moralischer Gemeinschaft: der Liberalismus durch seinen Relativismus, der Konservatismus durch seine Verherrlichung des freien Marktes.

Er beklagte, dass moderne liberale Gesellschaften "verpflichtet sind, in ihrem öffentlichen Diskurs jede verbindliche Vorstellung vom menschlich Guten auszuklammern – geschweige denn ihr Gemeinwesen darauf zu gründen." Auch dem Nationalismus stand er skeptisch gegenüber. In einem seiner bissigeren Bonmots meint er, für den modernen bürokratischen Nationalstaat zu sterben sei genauso absurd, wie "die Aufforderung, für die Telefongesellschaft zu sterben".

Seine fundamentale Kritik an der Moralphilosophie der Aufklärung und seine Ablehnung liberaler Konzepte stießen auf kontroverse Reaktionen – wenig überraschend bei einem Denker, der sein Werk selbst als den Versuch beschrieb, "der dominanten sozialen, ökonomischen und politischen Ordnung der hochentwickelten Moderne so klug, mutig, gerecht und maßvoll wie möglich zu widerstehen". 

Nach jeder Tugend

After Virtue bleibt MacIntyres bekanntestes und wirkungsmächtigstes Buch. Seine zentrale These: Das moralische Projekt der Aufklärung – von Humes Betonung des Gefühls über Kants kategorischen Imperativ bis hin zu Benthams Utilitarismus – ist gescheitert. Es konnte keine neue rationale Begründung der Moral liefern und kappte zugleich die Verbindungen zu den vorangegangenen Traditionen.

Zurück blieb eine Moraldebatte, die sich in bloßen Gefühlsäußerungen erschöpft. In einer Welt, in der es keine gemeinsamen Maßstäbe zur Bewertung konkurrierender Überzeugungen mehr gibt, gewinnt subjektiver Moralismus die Oberhand. Die aufgeladene Tonlage vieler Debatten heute sowie die häufig gehörte Überzeugung, "das ist eben meine Wahrheit" illustrieren diesen Zerfall normativer Verständigung. Es bleibt eine unscharfe Form von Utilitarismus ohne Fundament.

Ein wesentlicher Gedanke MacIntyres lautet: Philosophien entstehen aus ihren je eigenen kulturellen Traditionen – mitsamt deren Vorannahmen und Begrenzungen. Nicht nur deswegen war MacIntyres Denken keine rückwärtsgewandte Romantik des Mittelalters. Er trat ein für Toleranz, Meinungsfreiheit und die Erkenntnis, dass auch unvollkommene moderne Philosophen zu moralisch wertvollen Ergebnissen beitragen können. So lobte er etwa das Nützlichkeitsdenken des 19. Jahrhunderts, das zu wichtigen sozialen Fortschritten wie der Gesundheitsreform durch Edwin Chadwick oder der Frauenemanzipation durch John Stuart Mill führte.

Gemeinschaft der Zivilität und Moral

Sein Aristotelismus war lebensnah. Er setzte nicht auf Eliten oder intellektuelle Avantgarden, sondern auf die "einfachen Menschen" – jene, die Familien gründen, Schulen erhalten, lokale politische Gemeinschaften mittragen. Sie, so glaubte er, würden die Idee der Teleologie, also der sinnhaften Ausrichtung des menschlichen Lebens, wiederentdecken. Sie könnten anknüpfen an eine Tradition, die den Menschen nicht nur als das sieht, was er zufällig ist, sondern als das, was er sein könnte, wenn er seine wesentliche Natur verwirklichte – ergänzt, aber nicht verfälscht durch christliche und andere religiöse Strömungen.

MacIntyre hatte den Finger am Puls der Zeit. Seine Argumente wirken heute fast prophetisch – insbesondere angesichts der aktuellen postliberalen Diskurse, der Suche nach spiritueller Orientierung und des schwindenden Vertrauens in einen gemeinsamen moralischen Konsens. Sein Einfluss lässt sich in der Arbeit namhafter liberalismuskritischer Denker wie Charles Taylor, Rod Dreher und Patrick Deneen erkennen, ebenso bei britischen Philosophen wie John Gray, John Milbank oder dem früheren Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams. Sie alle schreiben auf den Schultern MacIntyres.

Der Schlusssatz aus After Virtue klingt wie ein Vermächtnis für unsere Zeit: 

"Was nun zählt, ist der Aufbau lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen Zivilität sowie intellektuelles und moralisches Leben durch das neue dunkle Zeitalter hindurch erhalten bleiben können, das bereits über uns hereingebrochen ist. Und wenn es der Tradition der Tugenden gelungen ist, das letzte dunkle Zeitalter zu überstehen, dann haben wir durchaus Grund zur Hoffnung."

Welche neuen Gemeinschaften aus diesem moralischen Dunkel hervorgehen werden, bleibt offen. Doch MacIntyres Einfluss und seine Relevanz wachsen weiter – fast ein halbes Jahrhundert nach seiner Diagnose. Möge er in Frieden ruhen.



Quellenvermerk: Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag, der ursprünglich auf Engelsberg Ideas erschienen ist. Mit freundlicher Genehmigung von Gilbert Dietrich ins Deutsche übertragen und sprachlich angepasst für Geist und Gegenwart.  

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