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17. November 2012

Sterben und Tod I

Das Leben vom Ende her gedacht


Es ist nicht das Schlimmste für einen Menschen, festzustellen, dass er gelebt hat und jetzt sterben muss; das Schlimmste ist, festzustellen, dass man nicht gelebt hat und jetzt sterben muss.
Cicely Saunders

Bist du bereit, hinabzusteigen? (Bild von TheCreatureWalks)

Im Leben denken wir kaum an den Tod, schon gar nicht an den eigenen. Wir verdrängen gern den Fakt, dass auch wir sterben müssen. Dabei kann es jedem von uns enorm viel bringen, dass wir bewusst mit dem eigenen Tod umgehen. Zum einen eröffnet sich dadurch schon im Leben eine neue Dimension, nämlich eine hohe Wertschätzung unserer Lebenszeit durch die Erkenntnis, dass diese endlich ist - wiederbelebte Patienten berichten immer wieder von dieser neuen Wertschätzung nach ihrer Nahtoderfahrung. Zum anderen können wir durch entsprechende Vorbereitung am Ende gelassener sterben, wie es Saskia John im Interview Nach der Dunkelheit: Ich lebe heute mehr! ausdrückt. Das Sterben kann seinen Schrecken verlieren, wenn wir uns darauf vorbereiten und wissen oder gar beeinflussen können, was uns erwartet.

Buch zum Thema
Wir sterben, wie wir leben
Palliativmediziner, die die letzten Momente (Stunden, Tage, Wochen, Monate) eines Menschen vor dem Tod begleiten, bestätigen, dass Menschen häufig so sterben, wie sie leben. Bereits im Leben ängstliche Menschen leiden auch auf dem Sterbebett unter Ängsten, in sich ruhende Menschen sehen in der Regel auch dem Tod gelassener ins Auge, Kämpfernaturen wehren sich bis zu letzt gegen den Tod. Die Palliativmedizin hat sich zur Aufgabe gemacht, den Sterbenden, so wie er ist, zu nehmen und beim Sterben zu begleiten und zwar physisch, psycho-sozial (inklusive der Familie) und spirituell. Gian Domenico Borasio, der darüber das Buch Über das Sterben: Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen geschrieben hat, geht es darum, "jedem Menschen die Möglichkeit zu geben, seinen eigenen Tod zu sterben." In einem Gespräch zum Thema Philosophie des Sterbens sagt Borasio, dass Sterbebegleitung darüber hinaus geht, Händchen zu halten, wenn jemand die Augen schließt. Jeder Tod ist individuell und erfordert daher eine ganz eigene Begleitung, in der es angebracht sein kann, teure Apparate-Medizin zu bemühen oder eben jemanden ganz ruhig und bescheiden zu Hause sterben zu lassen. Die Regel ist heute jedoch, dass Menschen in Krankenhäusern oder ähnlichen Institutionen oft viel zu "aufwendig" und damit leidvoll sterben und eben nicht zu Hause ein würdiges Ende im Kreise der Familie finden.

Gut gemeint, schlecht gestorben
Schockierend stellt Borasio dar, wie heute in Krankenhäusern von Ärzten und Schwestern das Sterben zwar gut gemeint, aber fachlich oft völlig falsch begleitet wird. Ein ganz simples Beispiel: Man möchte Sterbenden natürlich ermöglichen, ihre letzten Stunden ohne Angst vor Verdursten und Ersticken zu verbringen. Daher kommen sie zum einen an den Tropf und bekommen zum anderen eine Sauerstoffmaske. Dabei unberücksichtigt bleibt, dass Sterbende gar keinen Durst haben, sondern nur ein Durstgefühl durch einen trockenen Mund. Die Sauerstoffmaske - auch unnötig, denn flache Atmung ist beim Sterben normal - verschlimmert dieses Durstgefühl, denn die Luft strömt durch die Nase rein und sogleich durch den Mund wieder aus und trocknet somit die Schleimhäute aus. Durch die Infusion am Tropf gelangt viel Flüssigkeit in den Körper, die durch die meist versagenden Nieren nicht abgebaut werden kann. Die Flüssigkeit reichert sich dann in den Lungen an, was erst zu den Erstickungsängsten führt. Man sieht, wie diese zwei gut gemeinten, aber unangebrachten Hilfsmittel Tropf und Maske erst zu den Beschwerden führen, die sie eigentlich lindern sollen. Gut, dass die Palliativmedizin auch als Forschungsrichtung eine immer größere Bedeutung einnimmt, sodass man hoffen kann, dass möglichst vielen ein soweit wie möglich beschwerdefreies Sterben ermöglicht wird. Geburt und Tod, so Borasio, laufen in den meisten Fällen am besten ab, wenn nicht von außen eingegriffen wird, denn die Natur hat für diese zwei elementaren Übergänge ihre eigenen erprobten Programme, die übermäßiges Leid in der Regel verhindern.


Gian Domenico Borasio: Über das Sterben: Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen

Wenn das Ego geht, kommt die Liebe
Borasio hat auch beobachtet, dass alle sterbende Menschen eine Verschiebung weg vom Egoismus hin zum Altruismus, zur "Nächstenliebe" durchmachen. Die Sterbenden erleben das als enorme Verbesserung ihrer Lebensqualität, denn die Verbundenheit mit anderen schafft Sinnzusammenhänge, die im Leben selbst durch unsere Ich-Fixierung oft vernachlässigt werden. Offenbar sollte man uns allen wünschen, diese Verbesserung der Lebensqualität bereits viel früher als auf dem Sterbebett zu entdecken. Durch solche frühen und dennoch reifen Erkenntnisse kann man sich nicht nur das eigene Leben und das seiner Mitmenschen grundlegend verbessern, man kann sich auch Reue und Angst beim Sterben ersparen.

Das Leben vom Tod her zu denken, ist eine der grundlegenden Ideen der Philosophie. Von Seneca bis Sartre herrscht Einigkeit, dass sich die Prioritäten klären, wenn man sich die Endlichkeit der eigenen Existenz vergegenwärtigt. Was ist wirklich wichtig im Leben? Worauf werde ich zurückblicken? Was wird wirklich gezählt haben? Ustinov meinte: "Was der Sinn des Lebens ist, weiß keiner genau. Jedenfalls hat es wenig Sinn, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein." Borasio zufolge sind es die Beziehungen zu Familie und Freunden, die Erlebnisse des Lebens, auf die Sterbende zurückblicken. Jedenfalls, so Borasio hat keiner je gesagt: "Ich hätte mehr arbeiten sollen."


Danke fürs Lesen, das war der erste Teil. Lassen Sie mich in den Kommentaren wissen, was sie über den Abschied vom Leben denken. Anfang nächster Woche folgt Sterben und Tod II: Was passiert mit Körper und Geist, wenn wir sterben? Dort werden wir untersuchen, was mit Körper und Geist passiert, während wir vom Leben zum Tod übergehen.

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14 Kommentare:

  1. Paradoxon: Dem Tod begegnen führt zu mehr Lebendig-Sein. Doch i. d. R. sträubt sich in uns alles, dem Tod zu begegnen und wir wehren uns mit aller Kraft dagegen. Dabei könnte er als der Bruder des Lebens bezeichnet werden.

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  2. Ganz genau! Borasio geht ja so weit zu sagen, dass Palliativmediziner die "Hebammen für das Sterben" seien. Er zieht ganz deutliche Parallelen zwischen Geburt und Sterben, ohne jedoch anzudeuten, dass das Sterben eine neue Geburt zu einem nächsten Leben hin sei.

    Übrigens gibt es um der weiteren Begegnung zu helfen hier noch ein interessantes Interview mir Borasio. Sehr empfehlenswert!

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    1. Übrigens gibt es noch ein sehr lesenswertes Buch zum Thema von MIchael de Ridder "wie wollen wir sterben". Es wird höchste Zeit, dass das Thema Tod wieder in die Gesellschaft integriert wird Nicht zuletzt deshalb gibt es immer mehr Menschen, die sich ehrenamtlich in der Hospizbewegung betätigen. In diesem Sinne, danke für das Aufnehmen dieses Themas.

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    2. Danke für den Tipp!
      Ich bin eigentlich ganz optimistisch, dass das Thema wieder stärker ins Leben integriert wird, weil immer mehr aufgeklärte Leute immer älter werden und sich Gedanken übers "humane" Sterben machen. Vielleicht ein Trost bei der ganzen Demographiekatastrophe ;)

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  3. Ich habe mal eine grundsätzliche Frage: Machen sich viele Menschen Gedanken über den Tod? Ich tu es und versuche wirklich jeden Moment so gut es geht zu leben - aber tut das nicht jeder auf irgendeine Art und Weise oder ist es wirklich so, dass die meinsten Menschen davor "flüchten" oder sich gar nicht damit befassen?

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    1. Hallo Katrin, ich denke die meisten Menschen befassen sich nicht mit dem Tod oder setzen sich damit gut auseinander. Ganz im Gegenteil finde ich. Wenn man die Transplantationsinteressen anschaut die schon vor der Würde für ein rechtlich beschütztes Sterben stehen, wieviele an ihrem Leben hängen und nach Organen schreien, da scheint es den einen oder anderen zu geben, der auch das Risiko in Kauf nimmt, sein restliches Leben Medikamente einzunehmen die eventuelle starke Nebenwirkungen haben. Oder aber auch nicht abgeneigt ist, im Ausland sich nach Organen umzusehen. Es ist erschreckend wie die Menschen an ihr Leben krankhaft festzuklammern versuchen- auch mit allen entgegengesetzten Regeln der Natur. Für mich gehört der Tod zum Leben. Der Tod bedeutet: Nur einen Schritt zur Seite. Nicht mehr - aber auch nicht weniger. Wir sollten alle, solange Wir leben, ein ausgefülltes Leben haben. Um wenn man dann gehen muss, auch Abschied nehmen kann mit sich im Reinen ist und den anderen Menschen. Dann glaube ich auch, können wir jederzeit von der Welt gehen. In Ruhe und zufriedenheit.

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  4. Sterben macht keinen Spaß in Gesellschaften wie der deutschen, wo generell erst entrechtet bzw. von Medizinern entmündigt wird, auch von Sozialen Diensten in Krankenhäusern, bevor palliativ geholfen. Wenn man vom Tod aus denkt, fallen zuerst diese massiven Grund- und Menschenrechtsverletzungen auf, die philosophisch wohl irrelevant zu sein scheinen...

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    1. Ich kann nicht beurteilen, ob sterben in irgend einer Gesellschaft Spaß macht, aber philosophisch irrelevant sind Grund- und Menschenrechtsverletzungen nie.

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  5. Es ist ein Alptraum für jeden, zu sterben, oder auch nicht, aber der Alptraum wird nicht minder, wenn man im Bewusstsein stirbt, entmündigt und entrechtet zu sein und als Humankapital für einen unsäglichen Markt zu dienen, wenn man sich schon "über humanes Sterben unterhält".

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    1. Liebe Deutsche Liga für Menschenrechte e. V. - der Link zu Ihrer Seite, den Sie oben angeben, funktioniert leider nicht. Dabei ist er so einfach: www.dlfm.org. Kämpfen Sie weiter, ich stehe voll und ganz inter dem Zweck des Vereins: "die Gewährleistung der Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland und in der übrigen Welt, wie sie in der allgemeinen Erklärung der vereinten Nationen vom 10.12.1948 niedergelegt sind."

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    2. Warum soll Sterben für Jeden ein Alptraum sein? Wenn die Palliativmedizin gut funktioniert und man gut begleitet wird, kann auch das "Sterben" als "Hinübergang" friedlich empfunden werden.

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  6. Lieber Herr Dietrich - schön, dass Sie hinter dem Zweck des Vereins stehen, freut mich, und gerade auch im Rahmen des Betreuungsrechts wenden sich unzählige verzweifelte Menschen an uns, die ihre Menschenrechte beschnitten sehen. Diese Seite DLFM ist m. W. veraltet und seit langem nicht mehr bearbeitet worden. Von daher noch ergänzend einen aktuellen Link zur Liga und dem der Liga angeschlossenem Menschenrechtsbund:

    http://homepage.hamburg.de/menschenrechtsbund/

    "Menschenrechtsbund Singen" - der Link funktioniert tatsächlich nicht, ist aber zu googeln...

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  7. Woran es hier in unseren Breiten grundsätzlich hapert ist eine vernünftige Sterbekultur. Wie lange werden denn Kinder von dieser Thematik ferngehalten? Meistens doch eigentlich bis sie keine mehr sind. Die Großeltern der Eltern sterben meist, wenn sie "noch zu klein" sind und die eigenen wenn sie schon erwachsen sind. In der heutigen Gesellschaft ist Tod derart tabuisiert, dass er genau diese Ängste hervorruft. Das Potential steckt doch gerade in unseren Kindern, die noch frei von jeglicher Wertung sind und damit auch der Schlüssel zu einem fairen und auch angstfreiem Umgang mit diesem Thema.

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  8. Für mich ganz persönlich beginnt erst mit dem irdischen Tod - das richtige Leben. Darauf freue ich mich bereits jetzt schon, was danach kommt ist von wichtigkeit. Dann kann ich endlich sagen: So soll es sein, so kann es bleiben. So habe ich es mir gewünscht. Alles passt perfekt zusammen, weil endlich alles stimmt - Und mein Herz gefallen nimmt :-) Für mich ist das hier auf der Welt alles eine Farce die auf Lügen und Kapitalismus beruht. Man schwimmt einfach mit, weil es am sichersten und bequemsten ist. Man lebt soundso, das ist der Stil unserer Zeit. Ich freue mich auf meinen Tod irgendwann.....

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