11. Januar 2012

Was wir bereuen, wenn wir sterben

Meine Uroma Hertha

Man kann das Leben nicht aufschieben

Wenn es darum geht, Änderungen bei sich selbst voranzubringen, hilft es oft, sich radikale Fragen zu stellen. Zum Beispiel: "Was möchte ich auf dem Sterbebett über mein Leben sagen können?" Viel radikaler weil real, sind die wirklichen Dinge, die Leute auf dem Sterbebett sagen. Meine Uroma zum Beispiel war ihr Leben lang bekennende Kommunistin, ob in der Nazizeit, anschließend in der DDR oder zum Ende wieder im vereinten Deutschland. Als sie dann im Sterben lag, erzählte sie uns, dass Gott zu ihr gesprochen hätte und das alles in Ordnung wäre. Das war für alle sehr überraschend und für die meisten war es auch nicht einfach, damit umzugehen. Ich habe sie ermuntert, mir mehr darüber zu erzählen, weil ich das Gefühl hatte, dass es etwas positives für sie war. Viel besser jedenfalls, als wenn sie angefangen hätte, ihr Leben zu bereuen oder den Momenten nachzutrauern, die sie nicht erleben konnte.

An diese letzte Episode mit meiner Uroma wurde ich erinnert, als ich auf den Artikel einer Palliativ-Krankenschwester aufmerksam wurde, die von den fünf meist gehörten Dingen berichtet, die Menschen auf dem Sterbebett bereuen. Leider kann man die Validität des Artikels nicht einfach nachprüfen, da er laut Herausgeber per E-Mail eingegangen ist (Update am 7. 2. 2012: der Artikel scheint auf Bronnie Ware und ihren Blog zurückzugehen). Nach dem Lesen finde ich aber, dass ich die fünf Punkte hier übersetzen sollte. Ob die Rahmenhandlung erfunden ist oder nicht, spielt eigentlich keine große Rolle, solange die Geschichte zum Nachdenken über uns selbst, unser Verhalten und unsere Entscheidungen anregt.

Die Krankenschwester sagt, dass Menschen extrem über sich hinauswachsen, wenn sie mit dem eigenen Tod konfrontiert sind. Eine breite Palette von Gefühlen, die zuvor oft verschüttet waren, werde dann zugänglich. Natürlich gäbe es das Leugnen des Unausweichlichen, die Angst davor, Wut und Reue. In jedem Fall stand am Ende jedoch die Akzeptanz, oft gemischt mit der Trauer um die verpassten Dinge des Lebens:

1. Ich hätte mein eigenes Leben führen sollen, anstatt ein Leben, das andere von mir erwarten.
Am häufigsten bereuten die Menschen, dass sie nicht den Mut gehabt hatten, ihr Leben nach den eigenen Wünschen und Träumen auszurichten. Erst als es zu spät war und sie wussten, dass sie nun wirklich sterben würden, wurde ihnen klar, dass sie ihre eigenen Träume vernachlässigt hatten. Gesundheit bringt eine enorme Freiheit, die vielen erst auffällt, wenn sie verloren ist.

2. Hätte ich doch nur nicht so viel gearbeitet!
Jeder männliche Patient bereute am Ende, zu viel gearbeitet zu haben, anstatt mehr Zeit mit ihren Kindern und Partnern zu verbringen. Ein einfacheres Leben und bewusste Entscheidungen, hätten die Balance zwischen Einkommen und Lebensqualität oft wohl erreichen und die späte Reue vermeiden können. (Mir ist hier klar, dass die Patienten, wenn sie diese Wahl gehabt hatten, eher eine Luxus-Klientel darstellten. Nichts desto trotz haben heute immer mehr von uns diese Wahl - siehe Minimalismus - und wir sollten uns dessen bewusst sein.)

3. Hätte ich doch nur den Mut gehabt, mein Gefühle auszudrücken
Durch übertriebenes Harmoniestreben hatten viele am Ende ihres Lebens das Gefühl, ihr Potenzial nicht ausgereizt zu haben. Hinzu kommen gesundheitliche Probleme, die aus aufgestauter Bitterkeit und Hass resultieren können. Offen und ehrlich zu seinen Gefühlen selbst dann zu stehen, wenn sie unangenehm für andere sein können, öffnet Räume für ehrliche und gesunde Beziehungen zu anderen und sich selbst.

4. Ich hätte mit meinen Freunden Kontakt halten sollen
Jeder Sterbende vermisst seine Freunde, selbst wenn sie sich zuvor in unterschiedliche Richtungen auseinander entwickelt hatten. Es bleibt das Gefühl, den Freunden nicht die Zeit und Aufmerksamkeit zugemessen zu haben, die sie verdient hätten. Die Dinge, die uns jetzt im Alltag davon abhalten, mit unseren Freunden zu sein, spielen am Ende des Lebens keine Rolle mehr. Liebe, Freunde und Beziehungen - das ist alles, was am Ende noch zählt.

5. Hätte ich mir doch gestattet, glücklicher und froher zu sein
Erstaunlich häufig kam das vor. Viele Menschen hatten bis zum Ende nicht realisiert, dass lachen, froh und glücklich sein viel mit eigener Entscheidung zu tun hat. Wir können wählen, froh und glücklich zu sein. Wir fressen uns gerne fest in Verhaltensweisen und Regeln, die wir an irgend einem Punkt lieber nicht mehr ändern möchten. Dann geben wir vor, glücklich zu sein, anstatt etwas Dummheit, Freude und Lachen in unser Leben zu lassen. Auf dem Sterbebett ist es egal, was andere von uns dachten, als wir Blödsinn gemacht hatten. 


Das Unausweichliche: Leugnen, Angst, Wut, Reue, Akzeptanz?

Ich bin kein Freund davon, sein Leben so zu leben, als sei jeder Tag der letzte. Das macht keinen Sinn. Ich will mein Leben in Erwartung von noch mehr Lebenstagen führen und dazu gehört natürlich beides - der erlebte Moment, aber auch die Zukunft. Sicher kann man einiges an Reue vermeiden, wenn man bewusster lebt und das Hier und Jetzt im Leben zulässt. Aber vielleicht ist etwas Reue am Ende auch normal, egal wie intensiv man gelebt hat. Oder Reue ist eine Einstellungsfrage. Wir sind es gewohnt, in Kategorien des Verlusts und Versäumens zu denken. Das ist vielleicht schon während des Lebens etwas, das man sozusagen fürs Sterbebett trainieren kann: Die Angst ablegen, dass man immer was verpasst. Meine Uroma jedenfalls schien frei von Reue. Statt dessen hatte sie im letzten Moment ihr gesamtes ideologisches Konzept über den Haufen geworfen und ein anderes angenommen, dass ihr für diesen Moment passender schien. Na und? Chapeau, Uroma!

11 Kommentare:

  1. Großartig. Danke für diesen Artikel.

    Und ich bin froh, zu sehen, dass ich mein Leben schon fast vollständig auf diese wichtigen Punkte hin ausgerichtet habe.

    AntwortenLöschen
  2. Diese Punkte wird jeder Mensch - Soziopathen ausgenommen - so bestätigen können. Vorausgesetzt, er nimmt sich die Zeit zum Nachdenken !

    AntwortenLöschen
  3. Die Vermögenssteuer ins Jenseits beträgt 100 % !
    http://ed.iiQii.de/gallery/Die-iiQii-Philosophie/RolfDobelli_dobelli_com

    und für die 'Unterlasser':
    http://ed.iiQii.de/gallery/Die-iiQii-Philosophie/AndrewCarnegie_wikimedia_org

    AntwortenLöschen
  4. Die Vermögenssteuer ins Jenseits beträgt 100 % !
    http://ed.iiQii.de/gallery/Die-iiQii-Philosophie/RolfDobelli_dobelli_com

    und für die 'Unterlasser':
    http://ed.iiQii.de/gallery/Die-iiQii-Philosophie/AndrewCarnegie_wikimedia_org

    AntwortenLöschen
  5. Danke für die Gedanken. Zum Thema Lebenskonzeption hier ein grandioser Buchtipp: http://www.amazon.de/Zeiten-abnehmenden-Lichts-Roman-Familie/dp/3498057863/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1326447114&sr=8-1
    Liebe Grüße von der Ostsee!

    AntwortenLöschen
  6. Enrico - danke für den Tipp zu Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts: Roman einer Familie! Ich kenne den Autor noch gar nicht. Wenn du magst, schick mir gerne eine kurze Rezension, die können wir hier veröffentlichen, gerade wenn sie von einem Fachmann kommt ;)

    AntwortenLöschen
  7. Interessant geschrieben. Ich denke, dass es einzig wichtig ist, hinter dem zu stehen was man tut und sich nicht selbst zu belügen. Dann kann man auch auf dem Sterbebett realistisch zurückblicken und abhacken, dass man zumindest sein Bestes getan hat.

    AntwortenLöschen
  8. Hey danke für den Artikel, es bringt auch das auf den Punkt, was ich versuche in meinem Blog weiterzugeben. Zum Stichwort Hier und Jetzt möchte ich noch diesen Beitrag weitergeben: http://www.lebeblog.de/tv/das-hier-und-jetzt/

    Ich werd jetzt öfters vorbeischauen!

    AntwortenLöschen
  9. Ich werde diese Punkte leider nicht bereuen.Ich bereue,
    1.daß ich es nie geschafft habe,nach den Erwartungen anderer zu leben.
    2.Hätte ich nur nie so viel Gefühl gehabt und gezeigt.
    3. Ich war zu anhänglich und habe die meiste Zeit in meine Freunde investiert.
    4.wäre ich nur so,wie alle Menschen.

    AntwortenLöschen
  10. Wir alle haben Angst vorm Sterben, wir können uns nicht vorstellen, wie es sein wird. Wir können nicht kontrollieren wie es endet und das macht Angst. Wichtig ist darüber zu sprechen, was die Familie erwartet, wie und wo man begraben wird usw. Das hilft ein bisschen mit diesem Thema umzugehen. Was ich bereuen werde kann ich jetzt noch nicht sagen wenn es so weit ist, denn ich bereue jetzt schon so manches. Ich hoffe nur auf einen lieben Menschen, der mich begleiten will. Das wäre mein größter Wunsch.

    AntwortenLöschen
  11. Einmal andere Gedanken über den Tod:
    Epikur empfiehlt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Tod für uns ein Nichts ist. "Beruht doch alles Gute und Üble nur auf Empfindung, der Tod aber ist Aufhebung der Empfindung. Darum macht die Erkenntnis, das der Tod ein Nichts ist, uns das vergängliche Leben erst köstlich. Dieses Wissen hebt natürlich die zeitliche Grenze unseres Daseins nicht auf, aber es nimmt uns das Verlangen, unsterblich zu sein, denn wer eingesehen hat, dass AM nICHTLEBEN nichts Schreckliches ist,den kann auch am Leben nichts schrecken.
    So ist also der Tod,das schrecklichste aller Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr."
    Ich persönlich finde, je mehr man mit dem Tod vertraut wird, sei es als Sterbebegleiter oder Angehöriger, hat man eine andere Sicht auf das Sterben. Die Frage, wie ist der Tod, kann uns Lebenden niemand beantworten.

    AntwortenLöschen

Top 5 der meist gelesenen Artikel dieser Woche