14. Dezember 2019

Das Leben durch luzide Träume verändern

Der Traum in der Philosophie und seine Nutzbarmachung

Die Philosophen haben sich bis zum kometenhaften Aufstieg der Psychologie seit dem 19. Jahrhundert gern einmal mit dem Träumen auseinandergesetzt. Besonders viel wurde dem Träumen bis zur Romantik nie zugetraut. Für Platon war der Traum lediglich der Ausdruck der vernunftlosen Seelenanteile, aus dem wir uns keinerlei Erkenntnis erhoffen konnten. Aristoteles nahm immerhin die Abhängigkeiten des Traumes von Sinneseindrücken zur Kenntnis, die während des Träumens unabhängig von der Realität bewegt werden konnten. Armseligerweise ist die größte Bedeutung des Traumes für die moderne abendländische Philosophie in Descartes' methodischem Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Bewusstseinsinhalte zu sehen. Die Romantik dann endlich begreift das Träumen als ergänzende und dem Denken mindestens ebenbürtige Bewusstseinstätigkeit mit sogar transzendentaler Potenz zum Göttlichen. 

Franz Marc: Liegender Hund im Schnee (gemeinfrei)

Mit der Psychologie verschwindet der Traum aus der Philosophie und wird letztlich nur noch funktional besprochen: Wie kommt es zum Träumen und was nutzt uns das? Diese funktionalen Fragen passen in unser modernes Zeitalter der individuellen Selbstoptimierung und so verwundert es nicht, dass die Phänomene des Traumes nach ihrem Nutzen befragt und auf seine durch uns aktiv kontrollierbaren Anteile hin gewertschätzt wird. Dem Klarträumen kommt dabei in Freud'scher Tratition die Bedeutung zu, die Verwandlung von unbewussten und nicht kontrollierbaren in bewusste und steuerbare Geistesinhalte auf die Spitze zu treiben. Wie das funktioniert, beschreibt Sebastian Jacobitz von schlafenguru.de in den folgenden Absätzen ...

7. Dezember 2019

Die Philosophie des Marquis de Sade

Eine pornografische Aufklärung

Was kann uns die philosophische Pornographie des Marquis de Sade heute über Vernunft, Aufklärung, Moral und den Reiz der inzwischen immer verfügbaren und mitunter ziemlich sadistischen Pornographie sagen?

Foto von Jim Champion (CC BY-SA 2.0)

Im Artikel Egoistische Wollust und darüber hinaus hatte ich auf einen Aspekt der Pornographie hingewiesen, der symptomatisch für ein allgmein großes Risiko unserer aufgeklärten Moderne steht: die Objektivierbarkeit des anderen und damit der Abriss gemeinschaftlicher Werte wie die Menschenwürde, Mitgefühl und Gleichbehandlung. Das Problem entsteht nicht durch die mediale Darstellung von solchen Szenen, in denen andere Menschen objektiviert werden (z.B. eine Frau oder ein Mann in einer SM-Szene), denn das haben wir in Theatern, Filmen und anderen Inszenierungen auch. Das Problem entseht, wenn Konsumenten auf breiter gesellschaftlicher Ebene das Verständnis dafür verlieren, dass es sich um eine Inszenierung handelt und sie das Dargestellte stattdessen für ein Ab- oder Zielbild der Normalität halten.

16. November 2019

Egoistische Wollust und darüber hinaus

Gedanken zu Pornographie und Gesellschaft

Das Wort Pornographie kommt aus dem griechischen und beschrieb ursprünglich alle Aufzeichnungen (gráphein) über Prostituierte (pórnē). Die Archäologie legt uns nahe, dass Pornografie ein Begleiter der gesamten Menschheitsgeschichte ist. Und wie auch nicht? Wie könnte denn das stärkste menschliche Verlangen nicht seinen Ausdruck in Schrift und Bildern finden?

Anmerkung: In diesem Artikel geht es nur um erwachsenen und – sowohl unter rechtlichen als auch gesundheitlichen Aspekten betrachtet – unproblematischen Pornokonsum.

Ausschnitt aus einem persischen Gemäde (Wellcome Collection CC BY 4.0)

Danke für die Pornographie!

Gattungsgeschichtlich gab es immer Menschen, die keinen Anteil an aktiver Sexualität mit anderen hatten. So wie im Tierreich unter Säugetieren steht zu vermuten, dass v.a. ein nicht zu vernachlässigender Teil der männlichen Bevölkerung – unfreiwillig – kaum Sex im Leben hat. Von Seeelefanten ist bekannt, dass nur rund 20% der Männchen 100% der Weibchen schwängern, dass also 80% keinen Sex haben. Wie ist das bei Menschen? Naja – kulturell jeweils sehr unterschiedlich: Während heute in Japan rund 25% der über 30-jährigen Männer noch keinen Sex hatten, sind es in den USA nur ca. 5%. In Deutschland muss es ähnlich sein wie in den USA, denn in der Studie Jugendsexualität (PDF-Link) findet man die Zahl von sechs Prozent aller 25-jährigen Männer, die noch nie Sex im Sinne von Geschlechtsverkehr hatten. Die Zahlen derer, die zwar Sex hatten, aber nach eigenem Befinden viel zu wenig oder derer, die später im Leben nie wieder in den Genuss kommen, dürfte noch viel größer sein.

27. Oktober 2019

Impeachment erklärt: Das Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump

Trumps Ende und der Neoliberalismus

Impeachment ist das Amtsenthebungsverfahren, dem Trump sich in Kürze wird stellen müssen. Dieses Verfahren hat noch nie funktioniert (wenn die Amtsenthebung des Präsidenten das Erfolgkriterium ist) und es wird auch diesesmal nicht ohne Weiteres funktionieren, obwohl Trump und sein Staabschef Mulvaney vor Kameras die Vorwürfe glassklar und für jeden nachvollziehbar bestätigt haben: Trump wiederholte vor Kameras, die Aufforderung an die Ukraine (und sogar China), Biden zu untersuchen und Mulvaney sagte vor Kameras, auf die Frage hin, ob Militärhilfen als Druckmittel für persönliche politische Zwecke zurückgehalten wurden: "So etwas machen wir ständig. Gewöhnt euch dran!"

Womens March 2018 von Ted Eytan (CC BY-SA 2.0)

Worum geht es genau?

Ganz schnell erklärt: Trump forderte im Sommer 2019 den gerade eingesetzten ukrainischen Präsidenten auf, eine Untersuchung gegen Joe Biden, Trumps wahrscheinlichen Konkurrenten in der US-Präsidentenwahl 2020, aufzunehmen, um im Gegenzug die versprochenen Militärhilfen und ein Treffen mit Trump zu bekommen. Der Vorwurf gegen Trump ist, er nutze die militärische Abhängigkeit der Ukraine im Widerstand gegen Russland und die Institution seines Amtes, um seine eigene Wiederwahl zu befördern. In den USA ist es untersagt, Wahlkampfhilfe von außerhalb der Staaten einzufordern. Außerdem grenzt der Amtsmissbrauch an Erpressung der relativ kleinen Ukraine, die sich von Russland, dem bisherigen großen weltpolitischen Gegenspieler der USA, bedroht sehen. Das ist ein Amtsmissmbrauch, weil die finanziellen Militärhilfen vom Kongress beschlossen wurden, ein gleichberechtigter und unabhängiger politischer Arm, über den der Präsident keine Verfügungsgewalt hat. Viele weitere Aspekte, zum Beispiel die stümperhafte Einflussnahme auf die Außenpolitik durch Trumps Freunde wie Rudolph Guilliani, werden im Verfahren auch eine Rolle spielen, weil sie gegen die sicherheitspolitischen Interessen der USA verstoßen, den Amtsmissbrauch und die Verschleierung von Gesetzesverstößen zu belegen scheinen.

1. September 2019

Wie wir die schamlose Schockpolitik besiegen

Pow, zack, boom: Rekonstruktion des öffentlichen Interesses

Dass Schocks ein enorm wirksames Mittel für extreme politische Maßnahmen sind, ist nichts neues. Durch die Jahrtausende haben Herrscher und Putschisten sich Krisen, Katastrophen oder auch nur vermeintliche Bedrohungen zunutze gemacht, um Ausnahmezustände zu verhängen, Kriege anzuzetteln oder ganze Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren und zu vernichten.

"Der Begriff 'Schock-Strategie' beschreibt die oft brutalen Taktiken, die öffentliche Desorientierung nach einem kollektiven Schock – Kriege, Putsche, Terrorattacken, Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen – zu nutzen, um radikale [...] Maßnahmen durchzudrücken..." (Naomi Klein, No Is Not Enough: Defeating the New Shock Politics, S. 2, eigene Übersetzung)

Neu ist vielleicht, dass wir uns jetzt wieder von diesen alten Taktiken vereinnahmen lassen, angetrieben u.a. von einer enormen Verwirrungsmaschine, den sozialen Netzwerken, die als neue Massenmedien den alten Fernseher mit seinem analogen Verblendungspotenzial blass aussehen lassen. Neu ist auch, dass wir es in der Zwischenzeit mit Regierungen zu tun bekommen, die zwar demokratisch gewählt sind und die trotzdem keinen Hehl daraus machen, dass sie mit einer permanenten Schockpolitik die Demokratie in weiten Teilen demontieren. Und die Demontage frisst sich auch ein in Länder wie Deutschland oder Frankreich, die sich nach wie vor als Bollwerk der Domkratie verstehen, einfach weil sie sich willig solchen Formulierungen wie "Flüchtlingskrise" hingeben und damit sich selbst meinen und nicht etwa die Flüchtlinge, die sich in einer tatsächlichen Krisensituation befinden. Die USA sind spätestens seit Donald Trump einen großen Schritt weiter und führen einen internen Kampf auf Leben und Tod der Demokratie:

27. Juli 2019

Nur ein Sternekoch kann diese Welt noch retten

Der Mensch – das kochende Tier

... biologisch betrachtet beginnt das Leben mit dem Wasser, kulturell jedoch mit dem Feuer. (Nikolai Wojtko, Die Philosophie des Kochens, S. 22)

Mit dem Übergang von Rohkost zu Kochkunst, steigt der Mensch aus der Nahrungskette aus und wird damit zum Kulturwesen. Der Verdauungsapparat verkleinert und das Hirn vergrößert sich, wir gewinnen Zeit, uns um anderes zu kümmern und können auch deswegen anfangen zu Sprechen, weil sich die Kauwerkzeuge verkleinern und Hals-Nase-Mund damit neue Funktionen aufnehmen können. Außerdem sollten wir zu schätzen wissen, dass wir nun selbst nicht mehr als Nahrung von größeren Tieren verfolgt werden und wir auf dem Weg zur Arbeit nicht versuchen müssen, irgend einem kleineren Tier das Genick durchzubeißen oder in der U-Bahn Wurzeln und Rinden knabbern. Der Ausstieg aus der Nahrungskette ist ein "massives Upgrade" (Louis CK), das außer dem Menschen bisher keinem Tier zuteil wurde.

Auf der anderen Seite, scheint unsere moderne Ernährung ganz neue barbarische Folgen zu haben: von gequälten Nutztieren bis hin zu vergifteten Böden, gerodeten Wäldern und dem resultierenden Massensterben in der wilden Flora und Fauna. Wir alle wissen das und machen uns in unseren Filterblasen darüber wohl auch zunehmend Sorgen, wenn man die Trends rund um regional, nachhaltig und vegetarisch betrachtet. Skepsis ist natürlich angebracht, ob diese Wohlstandssorgen wirklich globale Entwicklungen positiv beeinflussen können. Denn die Mehrheit der bald neun Milliarden Menschen auf diesem Planeten muss sehen, wie sie satt wird und wird daher nicht den Luxus haben, ihre Wahl der Nahrung unter ethischen Gesichtspunkten zu hinterfragen.

1. Juli 2019

„We are nature defending itself“

Auf dem Weg zu einem neuen Naturverhältnis

Dieser Text von Christoph Sanders und Martin Krobath erschien zuerst in der Ausgabe 2/2019 des philosophischen Wirtschaftsmagazins Agora42.

Die Kamera wackelt und zoomt näher an eine erschöpfte junge Frau im Wald. Eine Stimme bittet sie: "Magst du erzählen, was gerade passiert ist?" Winter, so steht ihr Name unter dem Videoclip, ist offensichtlich gerade von Polizisten aus ihrem Baumhaus im Hambacher Forst geräumt worden. In voller Kampfmontur, die Frau an Körpergröße weit überragend, stehen zwei Polizisten neben ihr. Sehr bewegt und mit großer Bestimmtheit erklärt sie in die Kamera, warum sie sich gegen die Rodung des Waldes einsetzt:

Aktivistin Winter UP22 berichtet von Räumung im Hambacher Wald (Quelle: Politische Bildung)

In diesem Statement wird klar, dass Winter nicht wegen abstrakter Messungen zum Klimawandel einen Baum besetzt hat, sondern dass es ihr vielmehr um die Frage geht, wer wir als Mensch sein wollen und wie wir uns zur Welt und zur Natur in Beziehung setzen. Damit wird ein Aspekt sichtbar, der bislang in der Diskussion um Klima und Natur wenig präsent ist: Wie wir mit Natur umgehen, hat direkt etwas mit uns selbst zu tun, mit unserem Bild von der Welt und unserem zwischenmenschlichen Umgang.

9. Juni 2019

Das große Andere

Shoshana Zuboff: Es will uns lediglich automatisieren!

Wie Jonathan Franzen in "Purity" (auf Deutsch: "Unschuld") warnt die Sozialpsychologin und Philosophin Shoshana Zuboff vor einem technischen Totalitarismus, der uns längst schon konsumiere. Orwell habe – so wie wir alle – in die falsche Richtung geschaut, als er in 1984 vor einem neuen Totalitarismus in Form eines Big Brothers warnte. Der Totalitarismus, vor dem wir Westler uns fürchteten, ist der altbekannte Staatsterror mit Überwachen und Strafen, so wie wir das vielleicht von Nord Korea annehmen und in China sehen können. Zuboff meint in ihrem neuen Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, dass die auf den Staatsterror fokussierte Angst eine offene Flanke gegenüber einer ganz neuen Bedrohung gelassen habe, der wir nun beinahe ungeschützt ausgeliefert sind: dem Überwachungskapitalismus, wie sie das nennt.

30. Mai 2019

Kulturpsychologie – Interview mit Steven Heine

Von Marianna Pogosyan und ihren Studenten

Wie sehr beeinflussen die Gene unser Verhalten? Ist die menschliche Natur gut oder schlecht? Was eint alle Menschen auf der Welt? Meine gute Freundin und ehemalige Studien-Kollegin Dr. Marianna Pogosyan hat mit ihren Studentinnen und Studenten den renomierten kanadischen Psychologen Steven J. Heine von der University of British Columbia zu seinen Erkenntnissen aus der Kulturpsychologie befragt. Ihr Text und das Interview erschienen zuerst in Englisch auf Psychology Today und wurden für Geist und Gegenwart ins Deutsche übersetzt.

Wir sind eine eigenartige Familie, wir Menschen. Bei all der bemerkenswerten Sorgfalt und Empathie, die wir unseren Mitmenschen entgegenbringen, können wir auch sehr gut erkennen, was uns voneinander unterscheidet. Bei jeder Begegnung von Menschengruppen kommt es zu einer schnellen mentalen Einschätzung der jeweiligen Unterschiede – von unserem Geschmack bis zu unseren Werten. Dieses Talent nimmt olympische Ausmaße an, wenn wir unsere Gruppen verlassen und kulturelle Grenzen überschreiten. Interkulturelle Unterschiede scheinen uns zwar auf den ersten Blick erkennbar, aber Forscher der Kulturpsychologie haben lange die kulturellen Eigenarten untersucht, die in die tiefsten Strukturen unseres Lebens eingedrungen sind – die Art und Weise, wie wir denken, die Art und Weise, wie wir uns fühlen, wie wir uns selbst wahrnehmen und wie wir unsere Beziehungen leben. Unsere Kulturen – vielfältig und großartig – prägen unsere Wahrnehmung der Welt, und offenbaren das Wunder, ein Mensch zu sein. Dazu nun die folgenden 10 Fragen an Dr. Steven Heine, einen der führenden Kulturpsychologen.

21. April 2019

Gedanken über Gefühle

Gegen eine Politik der Emotionen

Gefühle tauchen immer auf, wenn 
Manipulation ins Spiel kommt. Sie
sind der Werkstoff der Täuschung 
und die Grundlage der Diktaturen.
Wolf Lotter, brand eins, April 2019

Über Gefühle, die öffentlich zur Schau gestellt werden, müsse man kritisch urteilen, sagt Wolf Lotter in der aktuellen brand eins und spricht mir aus dem Herzen (wenn diese Gefühlsmetapher erlaubt ist). Es wird Zeit, dass wir in unserer Erregungsgesellschaft einmal tief durchatmen und dieses ganze Gerede von Authentizität, Empathie und EQ hinterfragen. Und dabei ist gar nicht gemeint, Gefühle abzulehnen, sondern sich über die Gefühle Gedanken zu machen.


Die Konjunktur der Gefühle im öffentlichen Raum und in der Politik ist vielleicht eine Reaktion auf die lange betonte Nüchternheit unserer auf Wissenschaft und Wirtschaft beruhenden technologischen Gesellschaften bzw. auf die Entfremdungserfahrungen und den erlebten Sinnverlust, die sie mit sich bringen. Es war sicherlich auch eine lange schon notwendige Korrektur, dem IQ einen EQ zur Seite zu stellen. Damit war aber nie gemeint, dass man deswegen auf Intelligenz zugunsten der Emotion verzichten solle. Oder ist es nun so, dass angesichts der uns versprochenen oder angedrohten Künstlichen Intelligenz Zeitgenossen meinen, sich auf die reine Emotion zurückziehen zu müssen, weil uns die Maschinen dahin noch nicht zu folgen vermögen?

19. März 2019

Reich ist, wer viel ... hat

Eine kleine Umwertung unserer Werte

Nietzsche betonte schon im 19. Jahrhundert, dass Werte immer auf Herrschaftsstrukturen ausgerichtet und damit relativ, perspektivisch und zeitlich sind. Reich und glücklich sein, vielleicht auch noch schön … das sind heute die höchsten Werte vieler Menschen in so vielen Gesellschaften. Philosophisch gehören diese Eigenschaften in die Kategorien von Ästhetik und Ethik des Lebens. Was "schön sein" bedeutet, ist jeweils sehr von den gesellschaftlichen Übereinkünften, von Überlieferungen, Moden und Trends abhängig. "Glücklich sein" ist so individuell, dass eine einheitliche psychologische und philosophische Praxis dazu nicht möglich ist. Umstände, die den einen Menschen glücklich machen, können einen anderen unglücklich machen oder keinen Einfluss auf dessen Glückserleben haben.

"Reich sein" aber, scheint uns eine objektive Kategorie zu sein, man kann das an Zahlen ablesen: Was auch immer das Zahlungsmittel in einer Gesellschaft ist, man ist reich, wenn man viel davon hat. Egal ob es Gold ist, ob es Muscheln sind oder Gewürze – wenn es als Zahlungsmittel taugt, weil alle sich über die Stabilität des Werts dieses Mittels einig sind, dann ist derjenige reich, der viel davon hat. Bei uns sind diese Mittel lange schon im Geld abstrahiert. Geld ist in dieser Hinsicht nahezu magisch, denn wir können mit Geld alle anderen Mittel und noch vieles mehr erwerben. Kein Wunder also, dass bei uns derjenige als reich gilt, der viel Geld hat.

Luft, Raum, Familie, Zeit: Von dem viel haben, das einem wichtig ist... (Gilbert Dietrich, CC BY-SA 2.0)

19. Januar 2019

Von der Angst zur Furcht und zurück zur Angst

Die Freiheit liegt im Aushalten des Ungewissen

"Angst ist Angst, weil sie mir absolut
gewiss erscheinen lässt, das nichts
absolut beständig und gewiss ist."
(Frank Ruda, Agora42)

Das Leben, die Zukunft, die Freiheit, die Liebe, das Zusammensein – ja alles, das Mut erfordert, ist nicht ohne Angst zu haben. Angst resultiert aus der Unsicherheit, die all diese fundamentalen Zustände des bewussten menschlichen Lebens begleitet. Ich selbst habe das als junger Erwachsener auf eine sehr unangenehme Weise erkennen dürfen, als mich eine manifeste Angststörung zu einem selbstbestimmten Leben befreite (siehe Schizoid - die Angst vor dem Ich-Verlust). Spätestens im Zusammenleben, also in der Gesellschaft, wird die Angst von einem privat-psychologischen zu einem gemeinschaftlichen, zu einem politschen Thema, das im engen Zusammenhang mit dem Fortbestand unserer Demokratie steht.

Mauern gegen Angst: Grenze USA/Mexiko (ProtoplasmaKid / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0)

12. Januar 2019

Wer keine Angst hat, hat auch keine Zukunft

Angst als Erkenntnisthema – Interview mit Heinz Bude


Heinz Bude wurde durch sein 2014 erschienenes Buch Gesellschaft der Angst in der Öffentlichket bekannt, in dem er am "Leitfaden des Erfahrungsbegriffs der Angst [...] eine Gesellschaft der verstörenden Ungewissheit, der runtergeschluckten Wut und der stillen Verbitterung" beschreibt (Perlentaucher). Da drängt sich eine Perspektive auf, unsere heutige populistische Gesellschaft und ihre Ursachen zu erkennen. 1954 in Wuppertal geboren, studierte er Soziologie, Psychologie und Philosophie an der Universität Tübingen und an der FU Berlin. Von 1992 bis 2014 war er am Hamburger Institut für Sozialforschung tätig und übernahm dort 1997 die Leitung des Bereichs "Die Gesellschaft der Bundesrepublik". Seit 2000 ist er Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Bude gehört zu den Initiatoren der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union, die Ende November 2016 veröffentlicht wurde. 

Das hier veröffentlichte Interview erschien zuerst in der Ausgabe 4/2017 des philosophischen Wirtschaftsmagazins Agora42.


Heinz Bude auf der Leipziger Buchmesse 2018 (Heike Huslage-Koch, CC BY-SA 4.0)

Was ist das Charakteristische dieser Angst, die die Gesellschaft durchzieht?

Für mich ist der Angstbegriff mit der Phase des Abschieds von einer Periode verbunden, die in den letzten 30 bis 40 Jahren die westliche Gesellschaft beherrscht hat und die manche Leute Neoliberalismus nennen. Diese Periode hatte eine zentrale Botschaft: Eine gute Gesellschaft ist eine Gesellschaft starker Einzelner, das heißt von Leuten, die nicht auf andere angewiesen sind, die für sich selbst sorgen und sich durchsetzen können. Aber daran, dass starke Einzelne eine gute Gesellschaft ergeben, glaubt keiner mehr. Es herrscht über Partei- und Milieugrenzen hinweg meiner Wahrnehmung nach die Auffassung, dass diese Idee einer guten Gesellschaft mit hohen Kosten für den Einzelnen verbunden ist. Denn es ist erstens ungeheuer aufwendig, andauernd stark sein zu müssen, und zweitens ist für viele dieses gute Leben von vornherein unerreichbar. Und diese Kosten sind für unsere Gesellschaft nicht mehr tragbar.

Außerdem kann man nicht bestreiten, dass immer dann Angst im Spiel ist, wenn es um die Abhängigkeiten der Banken im globalen Finanzsystem, um die Folgen der Digitalisierung für die Arbeitsmärkte und das Gefüge der internationalen Machtbalance geht.

Angst ist für mich also nicht nur ein Affekt, sondern in Begriffen der Angst wird deutlich, was Menschen wichtig ist und wovon sie sich bedroht fühlen. Mit "Gesellschaft der Angst" wollte ich also nicht etwa eine Politik der Klage unterstützen, sondern aufzeigen, inwiefern der Begriff der Angst helfen kann, unsere Situation zu verstehen. Angst ist ein Erkenntnisthema geworden. Das ist meine Idee.

Top 5 der meist gelesenen Artikel dieser Woche