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14. Februar 2025

Demokratie, Absurdität und Depression

Und das Leben für sein Teil? War
es vielleicht nur eine infektiöse
Erkrankung der Materie...?

Das geht vorüber!

Das Jahr 2024 war gesellschaftlich gesehen aus meiner Perspektive überraschend (Faschismus ist plötzlich "weird" und "cringe"), tragisch (Der Präsident ist jetzt ein König) bis katastrophal (Warum der Populismus immer siegt). 

 

"Es ist mit der Selbstverständlichkeit der Demokratie in aller Welt eine zweifelhafte Sache geworden." (Thomas Mann 1938)
 

Viele von uns, um Demokratie und Frieden besorgte Menschen, schauen mit Grausen zurück in die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu wird dann Thomas Manns hundertjähriger Roman Der Zauberberg gelesen, aus dem die oben zitierte nihilistische Frage stammt und schon sehen wir die gespenstischen Wiedergänger der Apokalypse, wie sie uns aus den zwei Weltkriegen bekannt sind. Wir merken ja auch, wie die als garantiert gefühlten Rahmenbedingungen wie Demokratie, Sozialstaat, NGOs oder die Garantie auf territoriale Unversehrtheit souveräner Staaten plötzlich bröckeln. Das kann schon Angst machen. Fragen, die sich stellen sind z.B.:

27. Mai 2023

Heitere Miene, stoßweises Ausatmen, abgerissene Laute

Hüten wir uns zu sagen, daß der Tod dem Leben entgegen gesetzt sei. Das Leben ist nur eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art. (Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 109.)

Die Absurdität der Sorge

Ich lachte plötzlich los. Ohne Zeugen und offenbar grundlos lachte ich. Ich saß an der Panke, rauchte, trank mein alkoholfreies Bier und hatte einen kleinen Lachanfall. Enten trieben vorbei und begannen auf meiner Höhe kurz gegen den Strom zu paddeln. Hoffnung auf Brotkrümel. Dann trieben sie weiter abwärts von meinem leisen Lachen begleitet. Der Wind trieb den Rauch hinterdrein.

Die Situation auf der Arbeit ist gerade... sagen wir anstrengend. Seit meiner letzten Corona-Infektion geht es gesundheitlich nur langsam dem denkbaren Optimum entgegen. Wahrscheinlich hatte ich mich nun wieder bei einem Arbeitstreffen mit Corona infiziert. An der Panke sitzend, machte ich mir ernsthaft Sorgen, was das mit meiner Gesundheit tun würde. 

Erst einmal angstfrei Tritt fassen

Und darüber hinaus: Kein Magel an Sorge. Arbeit, Altwerden, Krieg in Europa, aufgeklärte Mitbürger unter idiotischer Desinformation. Der Golfstrom kippt, die Gletscher sind nur noch matschgraue Erinnerung. Überall wird Süden. Oder kommt doch ein nuklearer Winter? Die Kids, die sich die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage nicht gefallen lassen wollen, werden jetzt kriminalisiert und unter Terrorverdacht gestellt. Mein Sohn träumt noch von Pikachu und Karate, von Kaulquappen und einem Andauern des Traumes. 

21. März 2021

Das unglückliche Bewusstsein

Zur Überwindung oder Akzeptanz, ein Mensch zu sein

Philosophie, besonders die deutsche ab der Aufklärung muss sich oft vorwerfen lassen, kaum lesbar zu sein und zunehmend weniger praktische Relevanz für das Leben des Einzelnen zu haben. Auch wenn der erste Teil der Kritik stimmt und Philosophen wie Kant, Schelling oder Hegel heute kaum noch lesbar sind, ist der zweite Vorwurf falsch. Man muss doch nur solche philosophisch zentralen Begriffe wie Hegels "unglückliche Bewusstsein" hören und unweigerlich fragt man sich, ob sich darin nicht Erklärungsmöglichkeiten des eigenen Lebens, das immer auch Leiden ist, verbergen.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel von Gustav Blaeser, Hegelplatz, Berlin-Mitte (Daderot)

12. Dezember 2020

Glücklich durch die Pandemie

Meine Überlebensstrategien in Krisen

Es kann ziemlich niederschmetternd sein, dieses Jahr so zu beenden, wie es anfing: beschränkt in unseren Sozialkontakten, besorgt über uns selbst und unsere Nächsten, behindert in unserem Bewegungsdrang. Hinzu kommen all die idiotischen Zumutungen durch ängestigende Nachrichten, unklare Zufunftsaussichten oder tatsächliche Einkommenseinbrüche. Mich nerven auch verwirrte Mitmenschen, die sich nicht anders zu helfen wissen, als gegen die objektive Realität anzustürmen, indem sie sich weigern Masken zu tragen, indem sie so tun, als seien sie unverwundbar und/oder indem sie ihrer Verwirrtheit mit messianischem Eifer über Verschwörungsgeschrei Ausdruck geben müssen. 

Ab in den Wald ist eine meiner Strategien (Bild von mir, Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE)


Ich verstehe sehr gut, dass man das alles am liebsten gar nicht wahr haben möchte. Und ich denke auch, dass all die Maßnahmen noch lange nach Corona nachwirken werden und dass wir einen Preis dafür zahlen werden. So mache ich mir beispielsweise Sorgen über unseren noch nicht ganz fünfjährigen Sohn, der in einem Alltag auwfächst, der von Infektionsangst geprägt ist. Ich weiß nicht, welche langfristigen Ängste all das tägliche Fiebermessen, die maskierten Gesichter und die vielen Verbote im Umgang miteinander nach sich ziehen werden. Es würde mich nicht wundern, wenn wir als eine langfristige Folge mit zunehmenden Angsterkrankungen unter Erwachsenen und Kindern zu kämpfen haben würden: ständige Angst vor Infektion, Angst vor körperlicher Nähe und Agoraphobien zum Beispiel.

Hier sind ein paar Strategien, die mir und meiner kleinen Familie helfen, durch diese Zeit zu navigieren. Über all dem steht so ein bisschen das populäre royale Mantra in Vorbereitung der Briten auf den zweiten Weltkrieg:

21. Mai 2020

Fortschritt und Enttäuschung

Modernisierung als Entlastung und Verdichtung

"Sie wollten den Fortschritt und 
was sie bekommen haben, 
ist die Komplexität." 
(Peter Sloterdijk)


In diesem Artikel werden wir sehen, wie der falsche Begriff zur falschen Zeit eine ganze Gattung an einen Abgrund von unermesslichen Kosten und tiefer Enttäuschung führt.

 
Fortschritt ist etwas, ohne das wir uns heute gar nicht denken können. Wir verstehen uns als Ergebnis und Urheber des Fortschritts. Er muss überall sein, ansonsten macht unsere Existenz keinen Sinn. Und er weist immer linear von einem defizitären Moment aus der Vergangenheit in einen besseren Moment in der Zukunft. Dabei war bis zur Antike nur eine runde Sache eine gute Sache. Die Welt war gut und alle Entwicklungen liefen als ewige Wiederholungen ab. Das war das große Rad des Lebens. Heute kennen wir das nur noch aus dem Recycling und auch das ist nur nötig, weil wir das Ressourcenproblem (die Erde als ein geschlossenes System) noch nicht gelöst haben. Diesen Rohstoffkreislauf werden wir aber mit Müllkippen auf dem Mond und Rohstoffminen auf anderen Planeten auch bald abschaffen. Woher kommt dieses Denken in geraden Linien, dieses Denken in Bahnen des Fortschritts, das uns unermessliche Schulden und eine tiefe Enttäuschung einbrachten? Peter Sloterdijk macht dafür einen tiefgreifenden Sinneswandel am Beginn der Moderne verantwortlich:

27. Oktober 2019

Impeachment erklärt: Das Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump

Trumps Ende und der Neoliberalismus

Impeachment ist das Amtsenthebungsverfahren, dem Trump sich in Kürze wird stellen müssen. Dieses Verfahren hat noch nie funktioniert (wenn die Amtsenthebung des Präsidenten das Erfolgkriterium ist) und es wird auch diesesmal nicht ohne Weiteres funktionieren, obwohl Trump und sein Staabschef Mulvaney vor Kameras die Vorwürfe glassklar und für jeden nachvollziehbar bestätigt haben: Trump wiederholte vor Kameras, die Aufforderung an die Ukraine (und sogar China), Biden zu untersuchen und Mulvaney sagte vor Kameras, auf die Frage hin, ob Militärhilfen als Druckmittel für persönliche politische Zwecke zurückgehalten wurden: "So etwas machen wir ständig. Gewöhnt euch dran!"

Womens March 2018 von Ted Eytan (CC BY-SA 2.0)

Worum geht es genau?

Ganz schnell erklärt: Trump forderte im Sommer 2019 den gerade eingesetzten ukrainischen Präsidenten auf, eine Untersuchung gegen Joe Biden, Trumps wahrscheinlichen Konkurrenten in der US-Präsidentenwahl 2020, aufzunehmen, um im Gegenzug die versprochenen Militärhilfen und ein Treffen mit Trump zu bekommen. Der Vorwurf gegen Trump ist, er nutze die militärische Abhängigkeit der Ukraine im Widerstand gegen Russland und die Institution seines Amtes, um seine eigene Wiederwahl zu befördern. In den USA ist es untersagt, Wahlkampfhilfe von außerhalb der Staaten einzufordern. Außerdem grenzt der Amtsmissbrauch an Erpressung der relativ kleinen Ukraine, die sich von Russland, dem bisherigen großen weltpolitischen Gegenspieler der USA, bedroht sehen. Das ist ein Amtsmissmbrauch, weil die finanziellen Militärhilfen vom Kongress beschlossen wurden, ein gleichberechtigter und unabhängiger politischer Arm, über den der Präsident keine Verfügungsgewalt hat. Viele weitere Aspekte, zum Beispiel die stümperhafte Einflussnahme auf die Außenpolitik durch Trumps Freunde wie Rudolph Guilliani, werden im Verfahren auch eine Rolle spielen, weil sie gegen die sicherheitspolitischen Interessen der USA verstoßen, den Amtsmissbrauch und die Verschleierung von Gesetzesverstößen zu belegen scheinen.

1. September 2019

Wie wir die schamlose Schockpolitik besiegen

Pow, zack, boom: Rekonstruktion des öffentlichen Interesses

Dass Schocks ein enorm wirksames Mittel für extreme politische Maßnahmen sind, ist nichts neues. Durch die Jahrtausende haben Herrscher und Putschisten sich Krisen, Katastrophen oder auch nur vermeintliche Bedrohungen zunutze gemacht, um Ausnahmezustände zu verhängen, Kriege anzuzetteln oder ganze Bevölkerungsgruppen zu diskriminieren und zu vernichten.

 
"Der Begriff 'Schock-Strategie' beschreibt die oft brutalen Taktiken, die öffentliche Desorientierung nach einem kollektiven Schock – Kriege, Putsche, Terrorattacken, Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen – zu nutzen, um radikale [...] Maßnahmen durchzudrücken..." (Naomi Klein, No Is Not Enough: Defeating the New Shock Politics, S. 2, eigene Übersetzung)

Neu ist vielleicht, dass wir uns jetzt wieder von diesen alten Taktiken vereinnahmen lassen, angetrieben u.a. von einer enormen Verwirrungsmaschine, den sozialen Netzwerken, die als neue Massenmedien den alten Fernseher mit seinem analogen Verblendungspotenzial blass aussehen lassen. Neu ist auch, dass wir es in der Zwischenzeit mit Regierungen zu tun bekommen, die zwar demokratisch gewählt sind und die trotzdem keinen Hehl daraus machen, dass sie mit einer permanenten Schockpolitik die Demokratie in weiten Teilen demontieren. Und die Demontage frisst sich auch ein in Länder wie Deutschland oder Frankreich, die sich nach wie vor als Bollwerk der Domkratie verstehen, einfach weil sie sich willig solchen Formulierungen wie "Flüchtlingskrise" hingeben und damit sich selbst meinen und nicht etwa die Flüchtlinge, die sich in einer tatsächlichen Krisensituation befinden. Die USA sind spätestens seit Donald Trump einen großen Schritt weiter und führen einen internen Kampf auf Leben und Tod der Demokratie:

11. Februar 2018

Fortschrittsmüde? Bitte wach bleiben!

Warum wir das Vertrauen in die Zukunft verlieren

Warum haben die Römer vom ersten Aufbruch nach Norden ca. 400 Jahre gebraucht, bis sie über den Kanal nach Großbritannien übersetzten, während Kolumbus im Jahr 1492 in nicht einmal 10 Wochen einen neuen Kontinent entdeckte? Der Grund ist derselbe, weshalb wir heute in einer Wissenschafts- und Fortschrittsgesellschaft leben: Wir wissen um das Unbekannte da draußen. Wir streben an, es zu finden, zu kartografieren und so zum schon Bekannten hinzuzufügen.

Erst blinde Flecken machen Lust auf Entdeckung (Frederick de Wit, 1662)

13. Januar 2018

Good News, Bad News: Was willst du lesen?

Warum uns der mediale Pessimismus lähmt

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass du lieber schlechte Nachrichten liest. Wir haben uns auch lange schon dran gewöhnt. Außerdem ist es sowieso zu schwer, Optimist zu sein oder Optimisten ernst zu nehmen. Zum einen, weil die kolportierte Realität der Welt um uns herum ein ständiger Ansturm schlechter Nachrichten auf die Hoffnung in uns ist, dass wir ein gutes Leben haben können. Zum anderen, weil es schick ist und als intelligent gilt, wenn man schlechte Laune verbreitet. Optimisten werden von Pessimisten schnell als "naiv" bezeichnet, Pessimisten selbst hingegen, verstehen sich als Realisten. Es gibt für diese Neigung ganz archaische und tiefe psychlogische Gründe.

Beispiel eines Titelbildes (Quelle: Stiftung Deutsches Historisches Museum)

Ich wurde kürzlich in einer Diskussion als naiv bezeichnet, weil ich meinte, dass es neben den ganzen vermeintlich schlechten Menschen einer Berufsgruppe auch viele gute gäbe. Das finde ich absurd, denn der Pessimist kann einfach so pauschalisieren und sagen "alles ist schlecht" und sich damit als Realisten rühmen. Während der Optimist herabgewürdigt wird, wenn er sagt: "Moment mal, nicht alles ist schlecht, manches ist auch gut." Ist das nicht viel realistischer und vor allem wahrscheinlicher? Pessimisten haben Dank der negativity bias, also der menschlichen Tendenz, die Dinge im Zweifel negativ zu sehen, einen Realitätsbonus auf ihrer Seite.

3. November 2017

Den Planeten managen, ansttat ihn nur zu verbrauchen

Chris D. Thomas' Optimismus im Zeitalter des Aussterbens

Das Leben als Mensch auf diesem Planeten ist eine paradoxe Sache: Wir machen es uns sehr angenehm, mehr als angenehm – luxuriös sogar und der Verlauf der Geschichte zeigt uns, dass es uns in unserem Anthropozän immer besser geht. Dennoch beschweren wir uns fortwährend über die Folgen, die diese zunehmenden Verbesserungen mit sich bringen. Die dramatischsten Spuren hinterlassen wir in unserer Umwelt, was uns wiederum nervös macht, weil wir in dieser Umwelt leben und damit die erreichten Verbesserungen wieder aufs Spiel setzen. Insbesondere haben wir die Tendenz, uns nach einer Zeit zurück zu sehnen, der wir gerade entkommen sind. Im Rückspiegel sieht diese Vergangenheit plötzlich paradiesisch aus.

Warum der Eisbär zum Braunbären werden muss... (Foto: Susanne Miller, Lizenz: public domain CC0)

Dieser verklärende Blick in die Vergangenheit hilft uns leider nicht, denn die Zeit kommt aus der Zukunft, wie Armen Avanessian und die Akzelerationisten sagen. Die Eisbären machen sich schon mal auf den Weg in ihre neue Zukunft ohne Eis. Und wir Menschen täten gut daran, unsere gesamte planetarische Zukunft zu gestalten, anstatt an einer Vergangenheit zu hängen, die es entweder niemals gab oder die zumindest nie wiederkommen wird. Daher fasziniert es mich immer wieder, andere Denkansätze über unser Fortbestehen in der Gegenwart und Zukunft zu entdecken, wie eben bei den Akzelerationisten, bei Bruno Latour oder dem Projekt Dark Mountain.

Leben ist das, was passiert und wir sind ein Teil davon

Eine absolut ideologiefreie Betrachtung auf das Thema Natur- und Umweltschutz bietet uns Chris Thomas, Professor für Biologie an der englischen University of York und Autor des Buches Inheritors of the Earth: How Nature Is Thriving in an Age of Extinction (deutsch etwa: Erben der Erde: Wie die Natur im Zeitalter des Aussterbens gedeiht):

"Leben ist einfach das, was passiert. Leider oder zum Glück hat das Leben keinen Sinn oder letzten Zweck. Es entstand, wird eine Weile bestehen und dann wieder verschwinden. Naturschutz ist eher ein Ding der menschlichen Perspektive auf die Gegenwart oder die nahe Zukunft ..." (Chris Thomas im Interview der NAUTILUS, meine Übersetzung)

14. Juni 2017

Du willst dich selbst finden? Erfinde dich!

Warum du dein Selbst nicht tief in dir findest


"Niemand kann dir die Brücke bauen,
auf der gerade du über den Fluss des Lebens
schreiten musst, niemand ausser dir allein." 
(Friedrich Nietzsche)

Robert Pen Warren 1968
In unserer individualisierten Gesellschaft neigen wir dazu, unser "Selbst" in Abgrenzung zu den anderen sehr wichtig zu nehmen, of viel zu wichtig, wie man an politischen Strömungen rund um vermeintlich abgrenzbare Identitäten sehen kann. Gleichzeitig sind wir sehr unsicher darüber, was dieses Selbst sei und wir vermuten, dass es von gesellschaftlicher Einflussnahme und beengenden Institutionen verunreinigt wird. Fragen wie "Wer ist mein wahres Selbst?" oder "Wie kann ich authentisch leben?" treiben uns um und Ratgeber meinen, dass man sich nur selber finden müsste, um das persönliche Glück auf Erden zu finden. Der Poet Robert Penn Warren, politischer Aktivist und Autor von Gedichten, aber auch Büchern wie Democracy and Poetry hat bereits vor 40 Jahren darauf hingewiesen, dass das Selbst nichts ist, zu dem man abseits vom Alltag in einem Kloster finden kann oder in der Meditation:

"In den Worten [sich selbst finden] verbirgt sich die Idee einer bereits existierenden Entität, das Selbst wie eine platonische Idee, in einem mystischen Raum jenseits von Zeit und Wandel. [...] Das ist die essentielle Passivität, das Glück ohne eigenes Zutun. Und es ist ebenso eine absolute Absurdität, denn das 'Selbst' kann niemals gefunden, sondern muss aktiv geschaffen werden, es ist nicht der glückliche Zufall in Passivität, sondern das Produkt Tausender Handlungen, großer wie kleiner, bewusster und unbewusster und eben nicht im Rückzug von der Welt, sondern in ihrem Angesicht, im Guten wie im Schlechten, in der Arbeit und Muße eher als im Nichtstun." (Warren, Democracy and Poetry, S. 88 f., Übersetzung von mir)

30. Juni 2016

Der Staat bin ich!

"Es ist gefährlich Recht zu haben, wenn die Regierung falsch liegt." – Voltaire. Wie siehst du die politische Situation in Europa bzw. die wirtschaftsliberale Politik, das uneingeschränkte Streben nach Shareholder Value, Hyperkapitalismus und die damit zusammenhängenden ethischen Fragen? Ist es Zeit für selbstkritische Besinnung?

Es ist immer Zeit für selbstkritische Besinnung. Und Voltaire hatte sicherlich damals Recht, aber das ist etwas, das wir inzwischen auch mit seiner Hilfe in Europa erreicht haben: Es ist nicht mehr gefährlich, eine andere Meinung zu haben.

Occupy Berlin, Reichstag, Berlin (Corner of a Life CC BY 2.0)

Mir fällt auf, dass wir es uns angewöhnt haben, Meinungsbürger und Wutbürger zu sein, aber wir haben es verlernt, Bürger zu sein. Anstatt der Staat zu sein, grenzen wir uns ab und schimpfen über alles, was die Politik macht. Ein Grund mag sein, dass die Problemlagen so komplex geworden sind, dass wir sie nicht mehr durchschauen und stattdessen meinen, "die da oben" hätten die Kontrolle verloren (oder wahlweise: kontrollieren uns alle). Deine Stichworte Shareholder Value und Hyperkapitalismus stehen ja auch für solche "Angstbegriffe". Frag mal jemanden im Einkaufscenter, was Shareholder Value ist. Außer einer diffusen Meinung, werden die meisten dazu nichts sagen können.

10. April 2016

Hab Mitgefühl mit deinem Körper!

Schmerz ist, wenn dein Leib um dein Leben kämpft

Die alten Griechen sagten, der Körper sei das Grab der Seele. Und ja, am Ende ist es der Körper, der uns stilllegen wird. Wären wir nur Geist, so könnten (oder müssten) wir wohl endlos leben. Wenn unser Geist auf unseren Körper angewiesen ist, dann heißt das aber auch, dass unser Körper nicht nur das Grab, sondern auch der Garten der Seele sein muss.

Das Leben in den Knochen spüren (Bild gemeinfrei)
  
Wenn man vierzig wird, hört man es zunehmend von Freunden und spürt es selbst in den Knochen: Der Körper gibt nach, baut ab, steht einem manchmal mehr im Wege, als dass er Hilfe auf dem Weg ist. Ich habe bereits eine Hüftoperation hinter mir, gute Freunde haben Organschäden oder Gelenkschmerzen. Das sind nicht die Art von Wehwehchen, die wir mit zwanzig hatten und die nach zwei Wochen wieder verschwanden. Der Abbau hat begonnen. Das Gefühl, es gehe nun bergab und die beste Zeit liege hinter uns, kann einen deprimieren.

10. Januar 2016

Was sagen Philosophen zu einer Million Flüchtlinge?

Was der Zuzug von so vielen Flüchtlingen uns abverlangt

Was soll ich tun? Das ist eine Grundfrage der Philosophie, es ist eine moralische Frage: Was ist geboten, was ist in der Situation das Richtige? Diese Frage kommt daher, dass wir in Gruppen leben und unser Sozialverhalten ohne moralische Übereinkünfte (institutionalisiert in zuerst religiösen Geboten und dann staatlichen Gesetzen) nicht denkbar ist. Das moralische Problem wird größer, in einer "globalisierten Welt", wo nicht Stämme, Klans, ja nicht einmal mehr Nationalitäten eine Gruppe von Menschen nach außen gegen andere Gruppen abzugrenzen vermag. In den sozialen Netzwerken las ich, wir müssten endlich aufhören, die Flüchtlingskrise unter moralischen Gesichtspunkten betrachten. Ich glaube, das können wir gar nicht. Weil wir Menschen sind (siehe oben), müssen wir solche Entwicklungen gerade unter moralischen Gesichtspunkten betrachten. Vielleicht ist aber gemeint, dass wir die Entwicklungen nicht nur unter moralischen Gesichtspunkten betrachten können. Und das ist absolut korrekt.

Moralische Appelle wirken nur kurzfristig und unter ganz bestimmten Bedingungen. Was wir für eine positive Vision der derzeitigen Entwicklungen benötigen, sind konkrete Pläne und Umsetzungsstrategien, die ein dauerhaft funktionierendes Zusammenleben möglich erscheinen lassen. Was ist in der Situation das richtige Handeln? ist nicht ausschließlich eine moralische Frage, sondern auch eine des Gestaltens.

2. Januar 2016

Bestandswahrung oder Weiterentwicklung?

Philipp Blom über Alternativen einer europäischen Wilkommenskultur

Was haben der IS, die Pegida, der Front National, Vladimir Putin und christliche Fundamentalisten gemein? Auf den ersten Blick nicht viel und auch untereinander würden sie sich wohl kaum miteinander identifizieren wollen. Der Historiker Philipp Blom analysiert jedoch im Gespräch "Die Flüchtlingsströme markieren eine Zeitenwende" (siehe auch Video der Sternstunde Philosophie weiter unten), dass sie sich alle zurück sehnen nach einer Welt der Völker und der Kollektive mit historischen Gemeinschaften und kulturellen Essenzen, die es zu bewahren gelte.

Solche Zeiten der stabilen völkischen Identitäten wieder herzustellen, ist die gemeinsame Sehnsucht der vermeintlichen Kontrahenten von Islamisten bis Nationalisten. Und wenn man Philipp Blom glaubt, dann wäre auch das Ergebnis einer erfolgreichen rechtspopulistischen und nationalistischen Politik nichts anderes, als der Wunsch ihrer islamistischen Feinde: Ein Untergang Europas, ein Untergang unserer Werte, Freiheiten und Ideen.

22. November 2015

Die eingebildete und die wahre Krise

Von gefährlicher Sprache und falscher Regulierung

In den derzeitigen Medienbeiträgen fällt mir immer wieder auf, wie vielsagend und unzureichend zugleich unser sprachlicher Umgang mit den Herausforderungen unserer Gegenwart ist. Von Anfang an war scheinbar klar, dass es sich um eine Flüchtlingskatastrophe handelt und nicht um eine Herausforderung und Gelegenheit, Menschen in der Not zu helfen, Völker zusammenzubringen und demographische Ungleichmäßigkeiten auszugleichen. Angela Merkel muss man hier überraschend aus der Haftung nehmen, denn sie scheint mindestens anfänglich eine Fürsprecherin der Solidarität und des Optimismus gewesen zu sein. Ansonsten hört man im Zusammenhang mit Flüchtlingen nur von Katastrophe, Versagen und Krise.


Wir alle kennen das Konzept von der selbsterfüllenden Prophezeiung: Was erwarten wir eigentlich von unserer eigenen Fähigkeit, eine Situation zu meistern, wenn wir die Situation schon zur Katastrophe erklären, bevor wir überhaupt angefangen haben, sie aktiv zu beeinflussen? Ich denke, dass es zu einfach ist, immer die Politik für ihr angebliches Versagen zu geißeln. Solche Situationen zu meistern, ist eine riesige Aufgabe. Die Aufgabe jedoch, die Deutschland vor 25 Jahren mit der Wiedervereinigung vor sich hatte, war um vieles komplexer und wirtschaftlich schwieriger, als die Situation, in der wir uns jetzt befinden. Und doch wäre anders als bei der jetzigen Herausforderung niemand auf die Idee gekommen, die historische Chance der Wiedervereinigung als Katastrophe bezeichnet. Die Gefühle vieler westlicher Mitbürger, die sich plötzlich von Ossis überrannt fühlten, waren im Übrigen dieselben wie heute.

9. Oktober 2014

Traurig sein macht glücklich

Das Leben ist okay, selbst wenn alles schief geht (Alain de Botton)


Sei positiv, Kopf hoch, lass dich nicht hängen! An sich glauben, sich permanent weiterentwickeln und bloß keine Rückschläge eingestehen, sondern immer nach vorn schauen und das beste draus machen. Das klingt doch nach uns, oder? Ich jedenfalls denke auch oft so und irgendwie hilft es mir ja auch durch die eine oder andere Krise. Im letzten Winter war ich in Südafrika und habe mir auf dem Flughafen ein Magazin mit dem Titel flow gekauft, um die Zeit zum Abflug zu überbrücken. Dieses Magazin sagt von sich selbst, voll von positiver Psychologie zu sein. Nicht wenig überrascht war ich also, als ich darin ein Interview mit dem Philosophen Alain de Botton fand, in dem er genau das Gegenteil zu dieser "Think Positive" Doktrin sagt: Gib dich deiner Negativität hin, das Leben ist nun mal wie es ist - gewöhnlich. Im Folgenden habe ich einen kurzen Auszug aus diesem in Englisch erschienen Interview übersetzt.

Traurig sein macht glücklich? Das klingt schräg!

Nur wenn du Trauer zulässt, verstehst du, dass sie ein Teil des Lebens ist. Ich mag beispielsweise die pessimistische Seite des Christentums sehr: Das Leben ist nicht perfekt, Menschen sündigen, sie scheitern und sind unvollständig. Inzwischen sind wir aber in einer Gesellschaft angekommen, die vom optimistischen Denken beherrscht wird. Wir sind ganz eingenommen von Jugend, Glück und Schönheit und das macht es uns so schwer, Scheitern, Schmerzen, Krankheit, Alter und Tod zu akzeptieren. All das stößt uns unweigerlich zu, jedoch werden wir im Umgang mit diesen Härten allein gelassen. Wir brauchen also mehr Platz im Leben für Trauer und Melancholie.


Das Leben ist nun mal wie es ist - gewöhnlich (Bild via CC gemeinfrei)

23. August 2014

Wie wird man ein Misanthrop?

Die schönsten Arten, die Menschheit zu verachten

"Ich glaube an die Gleichheit und die
Einigkeit der gesamten Menschheit.
Wir sind alle Scheiße!" 
Bill Hicks

Einer der meistgelesenen Artikel auf Geist und Gegenwart mit über Hundert Kommentaren heißt: Misanthropie - Bin ich ein Menschenhasser? Als ich diesen Artikel im Dezember 2011 schrieb, dachte ich, das wäre ein Minderheitenthema. Es war überhaupt nicht abzusehen, dass er solch ein Erfolg werden würde. Es drängt sich die Frage auf: Warum? Ist es nicht traurig, dass sich so viele Menschen angesprochen fühlen und von sich selbst sagen, sie wären Menschenhasser?

Fuck you! (von Deemonita via CC)


Um das zu beantworten, sollte man sich anhören, was sie zu sagen haben. Viele dieser selbsterklärten Misanthropen haben seit Veröffentlichung diesen Artikel kommentiert. Erstaunlicherweise sind die allermeisten Kommentare unter dem Artikel sehr zivilisiert. Mich bestärkt das in meiner Entscheidung, auf Geist und Gegenwart auch anonyme Kommentare zuzulassen und sie vor Erscheinen nicht zu moderieren. Lediglich vier Kommentare musste ich löschen, weil sie nicht nur latent menschenverachtend (das ist ja bei dem Thema irgendwie erwartbar), sondern konkret bedrohend oder glatt verfassungsfeindlich waren. Wer sind also die Menschen, die sich selbst als Misanthropen, als Verächter der Menschheit betrachten? Und wie wird man zu einem von ihnen?

30. Juli 2014

Folge deiner Angst

Von der Angst über die Wut bis zum Mut

Kennen Sie die Geschichte? Die Schlange starrte auf das Kaninchen. Das Kaninchen starrte auf die Schlange, und dann sagte das Kaninchen: "Buh!" Die Schlange zuckte zusammen und musste über das alberne Kaninchen lachen. Als die Schlange ihre Augen wieder aufmachte, war das Kaninchen weg.

Wie kann das Kaninchen seine Todesangst überwinden? Wo entsteht der Mut? Wie kann jeder von uns Zugang zu dieser Ressource erhalten? Wie können wir Mut und Angst ausbalanzieren? Und warum ist es gut, unseren Ängsten zu folgen? Diese Fragen beantwortet Ihnen heute Nadja Petranovskaja.


Mutiges Häschen (Bild von MaffersToys via Flickr CC)

Die sechs Gespenster der Angst

Wenn hier von "Angst" die Rede ist, sind die normalen menschlichen Ängste gemeint, nicht die verschiedensten Angststörungen und extreme Angstzustände. Viele Wissenschaftler haben sich bereits mit dem Begriff "Angst" auseinander gesetzt. Napoleon Hill, einer der Väter der amerikanischen Selbsthilfe-Szene, hat in seinem Buch Denke (nach) und werde reich die sechs Gespenster der Angst beschrieben, und auch wenn sein Buch sich primär dem Unternehmertum widmet, so sind doch diese sechs Gespenster allgegenwärtig in jeder Stadt dieser Welt. Diese lauten:

  1. Angst vor Armut
  2. Angst vor Kritik
  3. Angst vor Krankheit
  4. Angst vor Liebesverlust
  5. Angst vor dem Alter und
  6. Angst vor dem Sterben

Diese sechs Ängste, so Hill, bestimmen unser Leben. Einen Großteil unseres Tages verbringen wir damit, alles zu tun, um nicht zu sterben. Wir verdienen Geld, um Dach über dem Kopf, Kühlschrank und Essen im Kühlschrank bezahlen zu können. Auch die Angst vor Armut und Krankheit spielen hier mit rein, besonders wenn wir uns um den beruflichen Erfolg und Gesundheit kümmern.

23. April 2014

Der finstere Berg

Eine andere Qualität in der Sorge um die Zukunft

Wir kennen die Phasen der Trauer, die solche Patienten durchmachen, deren Krankheit unausweichlich zum Tode führt: Wut, Leugnen, Feilschen, Depression und schließlich Akzeptanz. In der Phase der Akzeptanz tritt man einen Schritt zurück und überlegt sich, wie man die Zeit, die einem noch bleibt, verbringen möchte und wie man sie mit etwas Würde durchstehen kann. Ich stelle mir diese Fragen inzwischen auch öfter...

Dieser Text erschien im Philosophischen Magazin agora42

 

Trauer um die Schönheit der Natur

Die Menschheit, so könnte man meinen, ist in einer ähnlichen Situation wie ein Todkranker: Uns wird zunehmend klar, dass unsere Existenz als Gattung auf diesem Planeten zu einem Ende kommt. Wir sind sieben Milliarden Menschen, die der Planet nicht mehr erträgt und wir werden noch mindestens zwei Milliarden mehr werden. Die Erde wird zunehmend wärmer, ohne dass wir unseren Kohlendioxidausstoß reduzieren können. Die Eismasse der Arktis schrumpft zusehends. Das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten beschleunigt sich trotz WWF und Greenpaece.

Unsere erste Reaktion, als wir mit dem Waldsterben, Tschernobyl und dem Waleschlachten konfrontiert wurden, war Wut. Ich denke, dass wir völlig zu Recht wütend waren und dass es vielleicht sogar das aufrichtigste Gefühl war, dass wir haben konnten. Wir protestierten, gründeten militante Öko-Gruppen oder trugen Kröten über die Landstraße. Damit hoben wir die ökologischen Probleme zum ersten Mal auf die politische Agenda. Was hat es genutzt? Bis heute gibt es auch Gruppen, die die sich vor unseren Augen weiterhin abspielende ökologische Katastrophe leugnen. Viel größer aber ist die Gruppe der Leute, die begonnen haben, zu feilschen: Man könnte das Fortschrittsoptimismus nennen. Ich selbst neige zu diesem Glauben, dass wir durch technischen Fortschritt wie Solarzellen und Windkraft den ökologischen Raubbau kompensieren können. Mittlerweile kommen mir Zweifel: Nicht, weil es prinzipiell unmöglich wäre, sondern weil die Schäden so massiv sind, dass jedes politisch vertretbare Gegensteuern lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein bedeutet.

Die letzten Phasen der Trauer

Im englischen Oxford hat sich vor einigen Jahren eine Bewegung mit dem Namen The Dark Mountain Project formiert. Ganz bewusst sind sie zu den letzten Trauerphasen von Todkranken übergegangen: zur Depression und letztlich zur Akzeptanz. Die Gruppe besteht aus einer Reihe von Schriftstellern, Künstlern und Denkern, die aufgehört haben, die Geschichten zu glauben, die sich unsere Gesellschaften heute selbst erzählen. Die gängigste Geschichte geht etwa so, dass der Menschheit als exponiertem Sonderfall der Natur die Aufgabe zufiele, die gesamte Natur und alles Leben zu steuern und dass die ökologischen und ökonomischen Katastrophen unserer Tage lediglich technische Ausfälle seien, die wir nur zu beheben hätten. The Dark Mountain Project meint nun, dass neue und weniger heilsversprechende Geschichten für die finsteren Tage vor uns von Nöten seien.

Dieses Projekt sieht sich als kreative Plattform, auf der wir ohne Selbsttäuschung akzeptieren lernen können, was die Zukunft für uns bereit hält. "Wir sehen, dass die Welt in ein Zeitalter des ökologischen Zusammenbruchs eintritt [...] und wir möchten diese Realität annehmen und spiegeln, anstatt sie zu leugnen." Man könne nicht mehr so tun, als wären die Schäden rückgängig zu machen, als könne man diese Welt noch retten. Das sagt der ehemalige Aktivist der Anti-Globalisierungsbewegung und Gründer des Projekts Paul Kingsnorth.

Liest man das Manifest der Bewegung mit dem Titel Uncivilization von 2009, dann wird allerdings auch klar, dass die damals gerade eingetretene globale Finanzkrise den Pessimismus der Autoren kräftig befeuert hat. Überall asymetrische Kriege, die man nicht gewinnen konnte, anhaltende Naturzerstörung und plötzlich war auch noch die eigene Immobilie wertlos. Wo soll da noch Optimismus herkommen! Nicht mal mehr von den Grünen und ihren Öko-Supermärkten? Nein: “Eine ehemals radikale Infragestellung der Zivilisationsmaschine wurde in eine weitere Möglichkeit zum Shoppen verwandelt” (Uncivilization). Pessimismus ist ein anderes Wort für den Abfall vom Glauben an den Fortschrittsmythos. Im Manifest heißt es: “Alles wird gut. Nein, wir glauben nicht, dass alles wieder gut wird. Wir sind uns nicht einmal sicher, ob wir auf der Grundlage der heutigen Definition von Fortschritt überhaupt wollen, dass es wieder gut wird.”

Vor The Dark Mountain

Akzeptanz statt Aktionismus

Wie kann man denn als vernünftiger Mensch an diesem Punkt die Hände in den Schoß legen und sich in sein Schicksal ergeben? Das ist ja beinahe verbrecherisch. Kingsnorth sagt, dass sein Projekt den Menschen die Möglichkeit gäbe, falsche Hoffnungen zu begraben. Nur noch hoffen zu können, sei ein verzweifelter Akt derer, die keine Macht haben, wirklich etwas zu ändern.

Anstatt zu versuchen, die Erde zu retten, sollten die Menschen lieber darüber reden, was überhaupt noch machbar ist. Kingsnorth wünscht sich eine neue Ehrlichkeit: Ökologischer Aktivismus täusche seine Anhänger zum Beispiel mit der falschen Hoffnung, den Klimawandel stoppen zu können. Dabei sei klar, dass er nicht gestoppt werden könne und dass solche falschen Hoffnungen nur zu noch mehr Enttäuschung und Verzweiflung führten. Für die Anhänger von Dark Mountain gibt es immerhin eine Möglichkeit, sich die Wahrheit einzugestehen und die damit einhergehenden Gefühle von Furcht und Trauer zuzulassen. Erst mit dem Eingeständnis des Ausmaßes der Zerstörung durch uns und um uns herum können wir anfangen, neue Wege zu sehen:

"Was passiert, wenn du die kommenden Veränderungen akzeptierst? Dinge, die du schätzt, werden verschwinden, es werden Sachen passieren, die dich unglücklich machen. Du wirst nicht erreichen können, was du erreichen wolltest und du musst damit leben. Weiterhin wirst du Schönheit sehen, es wird weiterhin Dinge geben, die dir einen Sinn vermitteln und du kannst immer noch irgend etwas tun, um die Welt ein bisschen weniger schlecht zu machen." (Paul Kingsnorth in der New York Times)

Kingsnorth findet die Idee, dass man die katastrophalen Folgen der Klimaerwärmung aufschieben kann, nicht nur falsch, sondern widerwärtig. Es zeige die ganze Verzerrung der Beziehung zwischen Menschen und der natürlichen Umwelt. Sogar die Umweltschützer hätten damit die Idee aufgegeben, dass Natur auch einen Wert in und für sich hat, der über ihren Nutzen für uns hinausgeht. Wenn wir dieses Ideal vergessen, um unseren Arsch zu retten, wenn wir überall Windräder hinstellen und Solarfelder anlegen, dann gehen wir nichts anderes als einen faustischen Pakt ein: Wir verkaufen unsere Seele, die Schönheit der Natur, um ein paar Jahre länger zu leben.

Nun gut, man könnte auch sagen, dass im Grunde die ganze Existenz des Menschen ohnehin in diesem Teufelspakt besteht. Wir kennen ja Frankensteins Monster. In der Philosophie findet man dafür den Begriff der Entfremdung: Die Prozesse, die wir initiieren, um alles besser zu machen, entfremden sich uns und ihrem Zweck und wenden sich letztlich gegen uns. Das ist alles höchst sinnlos und erscheint unveränderlich. Das Trotzdem, die Tat, so würde Albert Camus vielleicht sagen, ist gleichzeitig Auflehnung gegen das Absurde und Eingeständnis der Sinnlosigkeit dessen, was über diese Tat selbst hinausgeht. In dieser Tradition steht auch The Dark Mountain Project: Statt verzweifelt zu versuchen, die gottlose Schöpfung zu verstehen und zu retten, reibt man sich am Untergang und macht ihn zur Folie des eigenen Schaffens. Dieses Schaffen ist dabei ganz vielfältig, beispielsweise gibt es neben zahlreichen Publikationen auch Uncivilisation Festivals, wo versucht wird, die Akzeptanz ästhetisch über Musik, Malerei, Aufführungen, Debatten und das Erzählen von Geschichten zu stärken. Das ist kein dekadenter Tanz im Angesicht des Untergangs, sondern eine bewusste und nüchterne Konfrontation mit der Unausweichlichkeit des Endes der Welt, wie wir sie kennen.

Die Radikalität des Gedankens finde ich mutig und attraktiv. Wir haben von unseren Ärzten erfahren, dass wir nur noch einige Monate zu leben haben und können dieses Leben erst dann führen, wenn wir aufhören wütend gegen unser Schicksal anzurennen oder mit Hilfe von Chemotherapie und Lungenmaschine um jede Minute zu feilschen. Wenn wir unser Los akzeptieren, können wir noch einmal die Augen aufmachen, die Schönheit des Lebens sehen und bewusst genießen. Wir können uns darauf konzentrieren, das Beste daraus zu machen.

In vielerlei Hinsichten starren wir immer wieder ohne viel Hoffnung ins Nichts, sei es das eigene unfassbar begrenzte Leben, furchtbare Kriege oder die unaufhaltsam scheinende Naturvernichtung. Und vielleicht ist es das, was wir lernen müssen: Absurde Hoffnungen fahren lassen, damit wir zu Sinnen kommen und uns den sich stellenden Herausforderungen zuzuwenden können. Das eigene und einzige Leben als Auflehnung gegen die endlos reproduzierte Sinnlosigkeit und seine traurigen Umstände.

Und irgendwo ganz hinten im Kopf haben wir doch noch diesen unbesiegbaren kleinen und allzu menschlichen Schimmer Hoffnung: Vielleicht haben sich die Ärzte ja doch geirrt und wir leben länger als die prognostizierte Zeit? Vielleicht doch lieber mit dem Rauchen aufhören und dem Schicksal ein paar Monate mehr abtrotzen? Oder, wie es im 8. Prinzip des Manifests von The Dark Mountain Project heißt: "Das Ende der Welt wie wir sie kennen, ist nicht das Ende der Welt. Wir werden eine Hoffnung jenseits der Hoffnung finden: den Pfad, der uns zu jener unbekannten Welt führt, die vor uns liegt."

Dieser Text wurde im März 2015 im Philosophischen Wirtschaftsmagazin agora42 veröffentlicht.



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