Geist und Gegenwart

Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

11. März 2023

Die unglaubliche Geschichte der Wahrheit bei Fox News

Verliert der Populismus den Kampf gegen Wahrheit und Fakten?

 

"Zu oft wird gesagt, dass es keine absolute Wahrheit gibt, sondern nur Meinungen und private Urteile; dass jeder von uns in seiner Weltanschauung durch seine eigenen Besonderheiten, seinen eigenen Geschmack und seine Voreingenommenheit bedingt ist; dass es kein äußeres Reich der Wahrheit gibt, zu dem wir durch Geduld und Disziplin endlich Zugang erlangen können, sondern nur die Wahrheit für mich, für dich, für jeden einzelnen Menschen. Durch diese Geistesgewohnheit wird eines der Hauptziele menschlicher Bemühungen geleugnet, und die höchste Tugend der Offenheit, der furchtlosen Anerkennung dessen, was ist, verschwindet aus unserer moralischen Vision." (Bertrand Russell: Mysticism and Logic and other Essays, 1910)

 

Zwei plus zwei gleich fünf (oder so)

Philosophie ist politisch, denn Philosophie, wenn sie redlich, integer, ehrlich betrieben wird, ist immer auf der Seite der Wahrheit: Es geht der Philosophie unterm Strich schlicht darum festzustellen, was man mit Sicherheit sagen kann und was man ausschließen muss. Damit meine ich erst eimal nicht moralische Fragen, sondern die Erkenntnis darüber, was ist. Der Philosoph Leibniz meinte im 18. Jahrhundert, dass wir mit der Philosophie in einen Zustand kommen, in dem man Meinungsverschiedenheiten gar nicht mehr diskutieren muss, sondern man würde sich wie zwei Buchhalter nebeneinander setzen und die Wahrheit ausrechnen. Er behielt grundsätzlich Recht, selbst wenn sich die Hoffnung in der Fülle der Meinungsverschiedenheiten, der politischen zumal, nicht erfüllen wird. Die großen damaligen Streitpunkte sind inzwischen (v.a. durch Georg Cantor im 19. Jh.) mathematisch beigelegt – die Unendlichkeit und das Fortbestehen von Raum und Zeit und der Bewegung in ihnen. Die Frage jedoch, ob fünf Äpfel mehr oder weniger Früchte sind als sechs Birnen war bereits vor Leibniz' Zeit gut zu klären und steht jetzt wieder zur Diskussion:

Als Trumps Beraterin Kellyanne Conway im US-Amerikanischen Nachrichtensender MSNBC die von Donald Trump behauptete Unwahrheit, zu seiner Amsteinführung seien mehr Menschen gekommen als zu irgend einer Amtseinführung je zuvor, als "alternative Fakten" rechtfertigte, wurde sofort klar, wessen Geistes Kind diese Regierung sein würde: Opportunistischer Umgang mit den Fakten, schamloses Lügen und grenzenloses Vertrauen darin, dass 50% der Bevölkerung kein Problem damit haben würde, ganz offensichtlich angelogen zu werden oder klar widerlegbare Unwahrheiten zu behaupten. Die Lüge, so schien es, wurde wieder ein anerkanntes Werkzeug zum Erreichen von politischen Zielen in den westlichen Demokratien.

Amtseinführung Trumps 2017 (links) und Obamas 2009 (rechts), Quelle: Reuters (Ausschnitt)


Natürlich ist es egal, bei wessen Amtseinführung mehr Leute im Publikum waren, darum geht es nicht. Es geht um die Binsenweisheit, dass Demokratien nur funktionieren, wenn man sich unter politischen Gegnern auf Fakten einigen kann. Fakten sind wie Schiedsrichter in der Argumentation gegen das andere Lager. Was Conway hier mit einem Schlagwort ("alternative facts") zu manifestieren schien, war nichts anderes als die Abschaffung des Schiedsrichters. Stellen wir uns einen Boxkampf ohne Schiedsrichter vor: Gewinnen wird der, der die unfairsten Methoden anwendet: beleidigen, beißen, treten. So ähnlich ist es im politischen Kampf: Wenn Fakten als Schiedsrichter ausfallen, kann die vernünftige und vielleicht sogar stärkere Seite gar nicht mehr gewinnen, denn das Land der politischen Phantasien, der Spekulationen und Verschwörungstheorien ist endlos weit, während das Gebiet der verlässlichen Fakten überschaubar ist. Wenn man gefährliche Behauptungen, Angstmacherei und Verleumdungen nicht mehr mit Fakten entkräften kann, steht der Manipulation der Bürger nichts mehr im Weg.

All das kennen wir von George Orwells "Doppeldenk" als die Methode, dem Regime in 1984 jegliche verbrecherische Handlung zu ermöglichen und heute das eine und morgen sein Gegenteil zu vertreten. Chuck Todd, der MSNBC-Journalist, der Conway interviewte und offenbar Orwell genügend kannte, sagte: "Sehen Sie, alternative Fakten sind keine Fakten. Das sind Unwahrheiten.“ Angeblich stiegen die Verkäufe von George Orwells Roman um das 95-fache innerhalb von vier Tagen nach dem Interview. Na immerhin, könnte man denken, sind die Menschen doch nicht bereit, sich so einfach für dumm verkaufen zu lassen.

Der Kampf gegen Wahrheit und Fakten ist für Demokratieverächter, Autokraten und Despoten lebensnotwendig. Die Abschaffung freier Medien steht deshalb ganz oben auf der Agenda der Gleichschaltung aller Institutionen (Rechtssprechung, Gesetzgebung, Exekutive) bei Autokraten (siehe Russland, Ungarn, Türkei oder der gerade gescheiterte Versuch in Georgien). Die autokratischen Versuche der Republikaner in den USA waren und sind zum Teil immer noch massiv, aber irgendwie lässt sich dieses Land nicht ganz so leicht autokratisch umkrempeln. Vielleicht hat Orwell seinen Anteil daran.

Was nun folgt, ist eine fast unglaubliche und optimistische Geschichte der Durchsetzung von Wahrheit, der Demaskierung von Lügen und des frivolen, schamlosen Doppeldenks des rechtsgerichteten Populismus...

18. Februar 2023

Waffen und Moral

Wie wären Panzer und Haubitzen philosophisch zu bewerten?

Eine Zeitenwende ethisch betrachtet

Von einem langen europäischen Frieden verwöhnt, haben wir es uns angewöhnt, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete für verwerflich zu halten, oder ganz kurz gesagt – Waffen überhaupt. Da ist immer auch ein bisschen Kapitalismuskritik dabei und die ist nicht unberechtigt, denn es ist schwer erträglich, dass es Leute gibt, die mit dem Tod eine Menge Profit machen. Ich denke also, dass man es ganz absolut gesehen erst einmal rechtfertigen kann, Waffen generell abzulehnen. Denn gäbe es gar keine Waffen, dann wäre die Welt vermutlich ein besserer Ort. Vor dieser Logik ist jede zusätlich produzierte oder gelieferte Waffe eine mehr, die uns weiter weg von unserem Sehnsuchtsort einer besseren Welt bringt.

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C-17 Globemaster, Ungarn (gemeinfrei, U.S. National Archives)

Nun leben wir in einer Welt, in der absolute Standpunkte, wie beispielsweise gesinnungspazifistische Standpunkte, nicht leicht zu vertreten sind, denn die Wechselwirkungen, in die alles in dieser inzwischen sehr verdichteten Menschenwelt verwoben ist, zeigen jedem Standpunkt Konsequenzen auf, die der den Standpunkt einnehmende nicht wünschen oder manchmal nicht einmal akzeptieren kann. Bleiben wir bei unserem gesinnungspazifistischen Beispiel: In einer Welt, in der "die anderen" Waffen haben und einsetzen, drohen ganz offensichtliche unwünschbare Konsequenzen, wenn man selbst auf seiner friedlichen Insel radikal pazifistisch ist und sich nicht darauf vorbereitet, sich im Ernstfall verteidigen zu können.

15. Januar 2023

Die Letzte Generation steht dem Bürger im Weg

Unsere Kids haben Angst vor dem Untergang ihrer Welt

"Einige Autofahrer schleppten Aktivisten von der Straße, bevor die Polizei anrückte. Die Demonstrierenden setzten sich daraufhin schnell wieder auf die Fahrbahn. Ein Mann sprach [...] die Aktivisten direkt an – sie müssten daran denken, dass die Leute einfach zur Arbeit kommen wollen. Dazu sagten die Demo-Teilnehmer, man müsse aber auch an die jungen Menschen denken, die bei der aktuellen Klimapolitik keine Zukunft hätten." (Berliner Zeitung)

Sie kleben sich auf der Stadtautobahn fest, sie behindern Flugverkehr und Kohlebagger, beschmieren sich mit Öl, besetzen Häuser – und sie verstoßen mit all dem gegen das Gesetz. Ein Angriff auf den Staat, ein Angriff auf uns alle! Bei FAZ, Welt und Cicero fliegt dem Bürger vom spitzen Kopf der Hut. Wieder einmal Weltende, aber diesmal anders. Die Hutschnur platzt schließlich, als dann auch noch Kunstwerke beschmutzt und versaut werden. Da fordern dann Journalisten und Staatsrechtler endlich ein härteres Vorgehen gegen Klimaaktivisten. 

Ölwahn – Aktion der Letzten Generation in Berlin (CC BY 2.0)

19. November 2022

Hat die Demokratie der USA doch eine Zukunft?

Zukunftsszenarien einer durch reaktionären Populismus erschütterten Gesellschaft

In unregelmäßigen Abständen betrachte ich seit der Präsidentschaft Donald Trumps die Entwicklungen in den USA. Nicht nur, weil meine Biographie mit diesem Land verbunden ist, sondern vor allem, weil wir hier live miterleben können, wie eine gesetzte Demokratie durch eine schwere Krise geht. Ausgang unbekannt. Die psychologischen, juristischen und weltanschaulichen Aspekte dabei sind faszinierend für mich. 

Alle Artikel zur Demokratie in den USA auf einen Blick >>

Nun gab es wieder atemberaubende Entwicklungen, die eine demokratische Zukunft doch wieder wahrscheinlicher machen, wenn auch nur unter haarsträubenden Umständen für das Zweiparteiensystem USA. Bevor wir dazu kommen, kurz ein Rückblick.

From "Hope" to "Nope". Was inspiriert Wähler? Negativität scheinbar nicht (CC0 Public Domain)
 

Was bisher geschah

2017 gewinnt Donald Trump die Präsidentschaftswahlen, obwohl seine Gegnerin Hillary Clinton 2,1% mehr Wählerstimmen bekommen hat. Das ist aufgrund des Wahlsystems in den USA nicht ungewöhnlich. Auch Al Gore musste sich G.W. Bush geschlagen geben, obwohl Gore mehr absolute Wählerstimmen hatte.

Das Desaster, das dann in Form einer Präsidentschaft Donald J. Trumps folgte, kennen wir alle: Kuscheln mit Putin und Kim Jong-un, Keilen gegen die eigenen Verbündeten, Erpressungsversuch gegenüber Selenski und der Ukraine, daraufhin Impeachment (#1), Corona Chaos, Abwahl und seit dem das Leugnen, dass er die Wahl verloren habe, inklusive Aufwieglung seiner Anhänger zur Erstürmung des Kapitols und daraus resultierend das Impeachment #2. 

Jetzt hat Donald Trump seine erneute Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2024 verkündet. Was bedeutet das für die USA und die Demokratie?

1. Oktober 2022

Critical Thinking

Was heißt es, kritisch zu denken?

Wir fordern andere – seltener uns selbst – oft auf, kritisch zu denken. Nur, was bedeutet das eigentlich? Wie können wir kritisch denken? Dieser Artikel bietet einen allgemeinen Überblick darüber, was es heißt, ein kritischer Denker zu sein, und skizziert sowohl traditionelle als auch neuere Ansätze des kritischen Denkens.

Dieser Text der Philosophin Carolina Flores erschien auf 1000-Word Philosophy auf Englisch und kann dort im Original mit Fußnoten gelesen werden.

Wenn "p" und "aus p folgt q" dann "q" (Wikipedia CC BY-SA 4.0)

1. Was ist kritisches Denken?

Allgemein gesprochen besteht kritisches Denken darin, auf sorgfältige Weise zu argumentieren und zu hinterfragen, um die eigenen Überzeugungen auf der Grundlage guter Gründe zu bilden und zu aktualisieren. Ein kritischer Denker ist jemand, der typischerweise auf diese sorgfältige Weise argumentiert und nachfragt, relevante Fähigkeiten beherrscht und die Neigung entwickelt hat, sie anzuwenden.

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