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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

30. Mai 2013

Sei nicht einfach du selbst!

Über Widersprüche, Spannungen und Konflikte, von Leben und Tod

Joss Whedon, Drehbuchautor von Alien - Die Wiedergeburt und Regisseur von Buffy - Im Bann der Dämonen, begann seine Ansprache an amerikanische Uni-Absolventen dieses Jahr mit den Worten:

Ihr alle werdet sterben... Im Grunde habt ihr alle schon angefangen zu sterben. Ihr seht gut aus. Versteht mich nicht falsch. Ihr seid jung und auf dem Höhepunkt eurer Physis. Aber nun gehts abwärts und das Komische ist, eure Körper wollen sterben. Auf einem zellulären Level ist es das, was eure Körper wollen. Aber wahrscheinlich ist es nicht das, was ihr wollt. Ihr habt alle große Ambitionen, wollt Politiker, Sozialarbeiter oder Künstler werden. Eure Körper aber wollen Babys kriegen und dann unter die Erde und das Unkraut düngen. Das ist es und es ist ziemlich widersprüchlich und überhaupt nicht fair.

Whedon versucht, den Absolventen eines auf den Weg zu geben: Dieser Widerspruch zwischen Ambition und biologischem Verfall, diese existentialistische Zumutung und die Spannung, die daraus entsteht, ist das Größte, das wir Menschen besitzen. Diese Spannung macht unsere Identität aus, wenn wir die Spannung annehmen und damit arbeiten. Wie genau sollen wir uns das vorstellen?

Joss Whedons ungewöhnliche Rede auf Englisch

Identität gibt es nicht ohne Konflikt

Der erste Schritt ist, diese Spannungen und Widersprüche zu erkennen, sie nicht auszublenden, sondern aktiv ins Leben einzubinden, mit ihnen zu arbeiten. Die eigenen inneren Konflikte anzunehmen, sie zu tolerieren, zu beobachten und zu untersuchen, ohne sie zu verurteilen, ist der Schlüssel zu einer größeren Bewusstwerdung unseres Selbsts und damit der Ausgangspunkt eines jeden Wachstums der Persönlichkeit.

Innere Widersprüche zu akzeptieren, bedeutet, sich die eigene Identität zu erarbeiten. Identität muss stetig erarbeitet werden. Sie ist nicht einfach, was du bist, sondern ein Prozess, den du aktiv vorantreiben musst.

Wir müssen uns daran gewöhnen, mit inneren Widersprüchen zu leben und wir tun gut daran, sie lieben zu lernen, anstatt sie zu verdrängen. Sie werden uns nicht in Ruhe lassen. Wenn wir sie zu nehmen verstehen, machen sie uns zu interessanten Menschen, sie öffnen den Weg zur Weisheit.

Wenn ihr denkt, das Lebensglück findet ihr im inneren Frieden, dann werdet ihr nie glücklich werden. So etwas wie inneren Frieden findet ihr, wenn ihr das in euch akzeptieren lernt, was niemals zur Ruhe kommen wird. Diesen Konflikt der Widersprüche wird es immer in euch geben. Wenn ihr das akzeptieren könnt, wird alles andere ein ganzes Stück besser. 

Zauderer wurden einfach gefressen

Warum ist es so schwer, mit diesen inneren Spannungen zu leben, sie sogar lieben zu lernen? Weil es einfacher ist, zu allem eine klare Meinung zu haben. Es hilft uns dabei, schnelle Entscheidungen zu treffen, wenn wir die Dinge vorher sauber in schwarz und weiß, in gut und böse, in rechts und links eingeordnet haben. Das ist auch verständlich und gibt den Menschen einer Jäger- und Sammlerkultur einen gehörigen evolutionären Vorteil: Die, die schnell entscheiden können, wer oder was Beute oder Feind ist, die überleben. Für unsere heutige überkomplexe Wirklichkeit ist diese Effizienz nicht mehr so ausschlaggebend. Wir überleben auch, wenn wir zaudern und mal etwas grübeln müssen und nicht gleich sicher sind, ob etwas gut oder schlecht ist. Wir haben den Luxus, dass wir uns die Zeit nehmen können zu warten, Geduld aufzubringen, zu beobachten und unterscheidlichstes in unser Leben zu integrieren.

Die Welt geht duch dich hindurch

Wir können es uns jetzt leisten, interessante Persönlichkeiten mit inneren Konflikten und Spannungen zu sein. Es macht uns sogar erfolgreicher, weil wir mit den Komplexitäten der Moderne besser umgehen können, weil wir sie zulassen können und dadurch mehr lernen, mehr tolerieren und offener auf die Welt zugehen und unsere Chancen nutzen können. Diese Offenheit gepaart mit etwas Mut ist es, die es uns ermöglicht, Dinge positiv zu verändern, durch diese Offenheit sind wir die Veränderung selbst. Und so schließt Joss Whedon mit den wunderschönen Worten:

Ihr geht nicht durch diese Welt hindurch, sondern diese Welt geht durch euch hindurch. Ihr erlebt sie, interpretiert sie, handelt entsprechend und schon ist sie anders geworden. Ihr werdet diese kaputte Welt sein und die Veränderung dieser kaputten Welt. Ihr werdet so viele Dinge sein und die eine Sache, die ich gern früher gewusst hätte und die ich euch mitgeben will ist: Seid nicht einfach ihr selbst! Seid die Summe aller um euch herum. Lebt nicht einfach, sondern seid das Seil, das an den Tod geknüpft ist. Seid das Leben. Lebt euer ganzes Leben. Seht es, versteht es, liebt es und habt Spaß!

Für mich ist Whedons Aufruf eine Erinnerung daran, dass ich das hier und jetzt nutzen muss. So weit ich weiß, habe ich nur dieses eine Leben. Und eigentlich habe ich gar nichts zu verlieren, wenn ich es ausschöpfe, offen auf die Chancen und Gefahren, auf die Kämpfe und die Liebe, auf die Lebenslust und den Tod zugehe. Wenn man sich das vor Augen hält, dann kann man höchstens noch davor Angst bekommen, dass man sein Leben verplempert, indem man immer vorsichtig ist, Konflikten aus dem Weg geht, überall nach Stabilität und Sicherheit sucht und dadurch das Leben vermeidet. Besser, ich verstehe das jetzt, als später, wenn ich erst mal auf der Bahre liege.



Alle Zitate übersetzt von Whedon ’87 Delivers 181st Commencement Address

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10 Kommentare:

  1. Wow, starker Tobak und trotzdem schön! Nach dem Motto: nicht das Leben ändern, sondern die Sichtweise auf dieses. Danke für die Worte, das kann ich regelmäßig gebrauchen.

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  2. Interessant ist dieser sehr gute Artikel für mich deshalb, weil ich vor einiger Zeit selbst über das fast identische Thema geschrieben habe (Titel meiner Version: Kurzfristig - Langfristig). Nachzulesen bei meiner Facebookgruppe Namens Herzensbildung: https://www.facebook.com/groups/173914519389132/

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    1. Danke für den Link! Interessant und gut, dass wir uns ähnliche Gedanken machen.

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  3. Offen zu sein, Chancen anzunehmen und sich im Bezug darauf immer wieder die eigene Endlichkeit vor Augen zu führen sind sicherlich die Entscheidenden Faktoren um sich als Persönlichkeit zu entwickeln. Das in diesem Prozess auch Geduld gefragt ist, versteht sich von selbst. Es ist jedoch auch unsere, wie Du schreibst evolutionäre Entscheidungsfindung von elementarer Wichtigkeit. Den nur wenn ich Chancen die mir meine Umwelt gibt wahrnehme bzw. auf sie eingehe kann ich auf einen Bereich eingehen, wenn ich hingegen ewig zaudere lasse ich alle Möglichkeiten verstreichen.

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    1. Daniel, da hast du natürlich absolut Recht: Es ist immer die verflixte Balance, die herzustellen wirklich nicht einfach ist. Vielen Dank für deine Anregungen!

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  4. Ein super Text! Der würde auch sehr gut zu einer Sunday Assembly passen. Ich weiß nicht, ob ihr davon schon mal gehört habt. Es ist ein bisschen wie Gottesdienst nur ohne Gott. Es geht darum, das einzige Leben zu feiern, von dem wir sicher wissen, dass wir es haben. Wir planen gerade eine Assembly in Hamburg. Dort würde ich deinen Text gern lesen, wenn ich darf.

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    1. Hallo Vanessa, danke für das Kompliment. Ja, ich kenne diese Assemblys, eine sehr gute Idee. Alain de Botton, ein Philosoph über den ich oft schreibe, propagiert solche weltlichen Riten sehr und ich kann dem viel abgewinnen. Gern kannst du dort diesen Text lesen.

      Kennst du schon die 10 Tugenden für das moderne Leben? Das könnte auch sehr gut passen.

      Lass mich wissen, wie eure Assembly war, das interessiert mich.

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    2. Hallo Gilbert, super, vielen Dank! Ja die 10 Tugenden kennen wir natürlich. Ich hatte sie gerade übersetzt als ich gesehen hatte, dass ihr auch eine Übersetzung gemacht habt. Unsere Version ist so nah wie möglich an dem Original geblieben. Ich hatte ebenfalls Alain de Botton gefragt, der sofort zurückgeschrieben hat. Sehr cool! http://humanistlab.com/10-tugenden-fuer-das-moderne-leben/
      Was die Assemblies betrifft, da bin ich auch mal sehr gespannt. Wir finden, es ist eine gute Sache! Wir treffen uns am 04.06. in Hamburg. Falls du also jemanden in Hamburg kennst, der Interesse an so etwas hätte... sag ihm oder ihr Bescheid! :) http://humanistlab.com/sunday-assembly/

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  5. "Warum ist es so schwer, mit diesen inneren Spannungen zu leben, sie sogar lieben zu lernen? Weil es einfacher ist, zu allem eine klare Meinung zu haben. Es hilft uns dabei, schnelle Entscheidungen zu treffen, wenn wir die Dinge vorher sauber in schwarz und weiß, in gut und böse, in rechts und links eingeordnet haben. Das ist auch verständlich und gibt den Menschen einer Jäger- und Sammlerkultur einen gehörigen evolutionären Vorteil: Die, die schnell entscheiden können, wer oder was Beute oder Feind ist, die überleben."

    Interessant: Genau da liegt bei mir der "Hase im Pfeffer". Weil es für mich so unglaublich erstrebenswert wäre, wenn es so ginge. Eine klare Meinung zu haben. Sonst habe ich keine? Die Irrtümer möglichst ungeschehen machen im Voraus. Ich wundere mich schon, warum ich mich jetzt gerade frage, was dann Selbstbeherrschung ist. Das ist nach außen hin die Ausgeglichenheit, obwohl es innen drin nicht so ist? Oder der innere Friede? Aber je mehr man nach Selbstbeherrschung strebt nach außen hin, dass einem Zweifel übel genommen werden, desto schlimmer wird es. Diese Rolle hatte ich mir zu lange antrainiert. Das geht, man kann das üben. Aber es ist nicht echt. Ich weiß während dieses Schreibens, dass ich noch nicht soweit bin. Ich verstehe aber, wie es gemeint ist. Das, was man nach außen zeigt und das, was man innen erlebt. Irgendwie in diese Richtung wird es gehen. Oft dachte ich schon: Und wie stehe ich jetzt da? Also solche peinlichen Gefühle, die mag ich überhaupt nicht. Und ich mache mir dann schon Vorwürfe, weil ich souverän sein möchte. Das ist doch Stärke, wenn man souverän ist. Wenn man seine Standpunkte genau und gut vertreten kann. Und die Spannungen? Die sind berechtigt, wenn man in der Lage ist, sich selbst zu hinterfragen. Aber Schwächen sich selbst eingestehen? Ja das kann man am besten für sich selbst. Aber nach außen? Eine Schwäche eingestehen? Ich weiß nicht so recht. Meist zieht man dann den Kürzeren. Das merken die Leute und nützen es aus, wenn man sich irrt. Aber es ist auch falsch, wenn ich das nur so auslege. Es ist nicht immer so. Irgendwie ein ständiges hin und her. Ich verstehe das an den Menschen nicht so recht.

    Das ist nur mal eine erste Einschätzung. Weil mich der Text gerade nachdenklich gemacht hat.

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    1. Naja, das ist doch alles gut. Darum geht es in dem Text doch auch: Widersprüche und Unsicherheiten aushalten und nicht immer gleich nach einer Lösung suchen oder immer gleich eine Meinung haben müssen. Was ist denn erstrebenswert daran, zu allem eine Meinung zu haben? Dass man dann schön festgelegt ist? Es ist doch interessanter, offen zu sein und die Absurditäten, die unser Leben und unsere Gesellschaft durchsetzen, anzunehmen und damit zu leben und nicht dagegen. So verstehe ich das für mich.

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