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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

22. März 2014

Philosophie als Lebenskunst

Ein Leben führen, als wäre es für immer


Michael Hampe
Philosophen wie Peter Sloterdijk oder Michael Hampe - beide selbst Akademiker - sind sich sicher, dass die akademische Philosophie ihre Relevanz für die Gesellschaft aufgegeben hat. Auf der anderen Seite boomen philosophische Angebote in Form von Zeitschriften wie der Hohen Luft oder dem Philosophie Magazin, als Blogs im Internet und als beratende Philosophische Praxen für alle Lebensfragen. Es stellt sich die Frage, was die Philosophie uns in der Praxis bieten kann? Ist sie nur formale Gedankenakrobatik auf der Suche nach den Grundlagen des Wissens überhaupt oder findet sie zurück in die lebensrelevante Bedeutsamkeit für uns Menschen, in der sie ihre antiken Wurzeln hat? Im Moment muss man die oben geschilderte Spaltung konstatieren. Und es ist ja immerhin etwas, dass wir auf der Suche nach dem Sinnhaften in unseren Existenzen auch die Philosophie jenseits der Akademik wiederbeleben. Noch schöner wäre es, wenn auch die akademische Philosophie wie bei Hampe und Sloterdijk den Weg in die gesellschaftliche und individuelle Relevanz fände. Wie kann die Bedeutung der Philosophie für unser Leben ganz praktisch aussehen?

Philosophie zerstört den Glauben an die Autorität der anderen

Michael Hampe spricht im Philosophie Magazin von einer nichtdoktrinären Philosophie, die es uns ermöglicht, Sinnangebote der Gesellschaft infrage zu stellen. Ganz grundlegend geht es erst einmal um eine Operation der Bewusstwerdung, die allem Nachdenken eigen ist:

"Alle Reflexionsprozesse, ob naturwissenschaftlich, künstlerisch oder philosophisch, sind Prozesse der Bewusstwerdung. [...] In allen drei Beispielen geht es um Distanzierungsvorgänge zur Steigerung von Selbstbestimmung. Reflexion schafft Distanz und damit Freiräume. Man kann sich fragen: Möchte ich, dass die Vorgänge so weitergehen oder nicht?" (S. 60)*

Nichtdoktrinär kann die Philosophie deswegen sein, weil sie anders als die Sinnangebote aus den Religionen, aus der Esoterik, der Politik oder der konsumistischen Glücksversprechen unserer Werbung, zuallererst ein Hinterfragen ist. Dahinter steht der sokratische Gedanke, dass man sich eben nicht vorschreiben lässt, wie man sein Leben zu gestalten hat, sondern dass man ein glückliches Leben in der Selbstbestimmung findet, zu der man nur durch das Infragestellen aller Sinnangebote der Gesellschaft kommt.

Sokrates: Spielräume, über die Welt zu sprechen, eröffnen Freiheit (Quelle: Wikipedia)

Das heißt natürlich auch, dass man sich von philosophischen Zeitschriften, Blogs oder Praxen keine unmittelbaren Antworten auf die Frage "Wie soll ich leben?" erhoffen kann. Vielmehr können sie Wege vermitteln, die eigenen Antworten auf diese Frage zu formulieren. Hampe meint, dass wir viel zu oft auf irgendwelche Experten vertrauen und uns damit abgewöhnen, selbst nachzudenken. Hier kann die Philosophie helfen, indem sie erst einmal zerstört: den Glauben an die Autorität der anderen.

Der dritte Weg als lebenspraktischer Nutzen der Philosophie

Für vielfältig in die Gesellschaft eingebundene Menschen, ist es nicht leicht, die eigene Autonomie im Denken, Sprechen und Leben zu erhalten. Es ist eine Gratwanderung: Völlig autonom zu sein, hieße asozial aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen herauszufallen und im Grunde innerhalb der Gesellschaft nicht lebensfähig zu sein. Also tun wir sehr häufig, was unserem Sicherheitsbedürfnis entgegen kommt: Wir absorbieren die gesellschaftlichen Doktrinen und lassen im Gegenzug uns selbst von der Gesellschaft absorbieren. Der dritte Weg wäre, die Gesellschaft und ihre Sinnangebote nicht in Bausch und Bogen abzulehnen oder vollständig in ihnen aufzugehen, sondern sie in jedem einzelnen Fall immer wieder zu hinterfragen. Hinterfragen, denken und sprechen stehen dabei in einem sehr engen Zusammenhang:

"Die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen und wie wir unser eigenes Leben beschreiben, bestimmt, wie wir uns selbst und andere behandeln. Das ist, wenn Sie so wollen, die lebenspraktische Einsicht Ludwig Wittgensteins. Wer Sprechweisen übernimmt, übernimmt Sichtweisen, und aus Sichtweisen ergeben sich bestimmte Arten zu leben und zu handeln." (S. 62f.)

Sokrates, so drückt sich Hampe aus, habe erkannt, dass es einen Spielraum gebe, über die Welt zu sprechen. Man muss sich diesen Raum nur selbst eröffnen und darin auch spielen, um die Freiheit zu erlangen, andere als die gemeinhin anerkannten Sinnangebote zu entwickeln und am Ende auch zu verwirklichen. Und wie eröffnen wir uns diesen Raum? Durch das Nachdenken über das eigene bisherige Leben und unseren Entwurf für seine Zukunft. Die antike griechische Grundregel "erkenne dich selbst" - bei Hampe "finde die eigene Stimme" - steht am Anfang eines solchen Prozesses:

"Das Finden 'der eigenen Stimme' [...] besteht nicht darin, dass man eine im Innern feststehende Tatsache oder bereits vorliegende Substanz ausfindig macht, sondern dass man in einem Reflexionsprozess über die bisherige Lebensgeschichte herausfindet, welche Stränge dieser Geschichte man fortsetzen und welche man beenden will." (S. 64)

Dabei geht es auch explizit darum, sich selbst aus den kapitalistischen Konkurrenzsituationen, denn in nichts anderem besteht das populärste Sinnangebot unserer Gesellschaft, durch Reflexion herauszunehmen: "Personen, die wissen, welches Leben sie führen möchten, sind aus Konkurrenzsituationen raus." (S. 64) Die nächste Stufe der Karriereleiter zu erklimmen, ein besseres Auto als der Nachbar zu haben, Kinder zu zeugen und auf Privatschulen zu schicken, Kredite für einen Hauskauf aufnehmen, all das sind Sinnangebote unserer Konkurrenzgesellschaft. Sie laufen immer darauf hinaus, "besser als" zu sein. Als Sinnangebote müssen sie zu kurz greifen. Das heißt nicht, dass ihre einzelnen Bestandteile (Karriere, Auto, Privatschule, Haus) falsch oder schlecht sind, nur sie allein liefern uns keinen autonomen und frei erdachten Lebensentwurf. Schlimmer noch, so Hampe:

"Die Vorstellung, dass wir uns im Westen in einer freien Gesellschaft befinden, ist eine Illusion. Wir werden durch Konkurrenzlogiken systematisch in die Selbstentfremdung getrieben. Die Fähigkeiten, sich diesen Dynamiken zu entziehen, haben nur wenige Menschen." (S. 64)

Hier muss man, so denke ich, Hampe entgegenhalten, dass wir im Westen immerhin die Freiheit haben, diese Konkurrenzlogiken abzulehnen und eigene Logiken zu entwerfen. Und darum geht es in der Philosophie als Praxis für mich. Entfremdung liegt immer auch ein Mangel an Bewusstwerdung und damit die Delegation von Macht an die Gesellschaft über mein eigenes Leben zugrunde. Unstrittig ist aber auch, dass unsere Gesellschaft mit ihren Konkurrenzlogiken die Bewusstwerdungsübungen und Reflexionsoperationen seiner Mitglieder nicht gerade fördert, sondern am liebsten mit den Angeboten ruhigstellt, die den Konsum und damit den Wirtschaftskreislauf in Gang halten.

Nachhaltigkeit als Kategorie eines gelungenen Lebens

Wie kommt man nun mithilfe von Reflexion und philosophischer Praxis zu einem geglückten Leben? Hedonismus - also das Leiten lassen durch das Lustprinzip - alleine scheint nicht die Antwort zu sein. Und zwar deswegen nicht, weil es sich nicht durchhalten lässt, weil es nicht nachhaltig funktioniert. Selbst wenn die Ressourcenfrage sich nicht stellt, z.B. weil wir genug Geld haben, bis ans Lebensende zu genießen, fehlen dem hedonistischen Leben die Dynamiken, die Kontraste, um es wirklich als runde Sache, als vollumfängliches Leben zu bezeichnen. Ups and Downs im Leben sind normal und sogar wünschenswert. Hampe stellt ganz praktisch die Frage nach der Nachhaltigkeit als Weg zum Entwurf eines gelungenen Lebens:

"Es hat etwas mit Fortsetzbarkeit zu tun. Kann ich mir vorstellen, dass ich das, was ich tue, mit den Menschen, mit denen ich das tue, ad infinitum fortsetze? Oder habe ich das Gefühl, hier stimmt etwas nicht, ich muss etwas ändern?" (S. 65)

Diese Frage gemahnt an den faustischen Gedanken "Moment, verweile doch, du bist so schön" und natürlich an Nietzsches Idee von der Wiederkehr des ewig gleichen. Hampe stapelt etwas tiefer, indem wir es "als Anhaltspunkt dafür nehmen [sollen], dass ein Leben sich selbst trägt." (S. 65) Aber auch darüber hinaus kann uns diese Frage leiten: Wie kann ich mein Leben so gestalten, dass ich es am liebsten so und nicht anders unendlich und unermüdlich, also auch ohne einen erlösenden Tod fortsetzen könnte? Das ist doch mal Philosophie übersetzt ins praktische Leben!



*Alle Zitate sind aus dem Interview mit Michael Hampe im Philosophie Magazin Nr. 03/2014. Michael Hampe hat so praktisch-philosophische Bücher wie Das vollkommene Leben geschrieben.

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