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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

30. Mai 2013

Sei nicht einfach du selbst!

Über Widersprüche, Spannungen und Konflikte, von Leben und Tod

Joss Whedon, Drehbuchautor von Alien - Die Wiedergeburt und Regisseur von Buffy - Im Bann der Dämonen, begann seine Ansprache an amerikanische Uni-Absolventen dieses Jahr mit den Worten:

Ihr alle werdet sterben... Im Grunde habt ihr alle schon angefangen zu sterben. Ihr seht gut aus. Versteht mich nicht falsch. Ihr seid jung und auf dem Höhepunkt eurer Physis. Aber nun gehts abwärts und das Komische ist, eure Körper wollen sterben. Auf einem zellulären Level ist es das, was eure Körper wollen. Aber wahrscheinlich ist es nicht das, was ihr wollt. Ihr habt alle große Ambitionen, wollt Politiker, Sozialarbeiter oder Künstler werden. Eure Körper aber wollen Babys kriegen und dann unter die Erde und das Unkraut düngen. Das ist es und es ist ziemlich widersprüchlich und überhaupt nicht fair.

Whedon versucht, den Absolventen eines auf den Weg zu geben: Dieser Widerspruch zwischen Ambition und biologischem Verfall, diese existentialistische Zumutung und die Spannung, die daraus entsteht, ist das Größte, das wir Menschen besitzen. Diese Spannung macht unsere Identität aus, wenn wir die Spannung annehmen und damit arbeiten. Wie genau sollen wir uns das vorstellen?

Joss Whedons ungewöhnliche Rede auf Englisch

Identität gibt es nicht ohne Konflikt

Der erste Schritt ist, diese Spannungen und Widersprüche zu erkennen, sie nicht auszublenden, sondern aktiv ins Leben einzubinden, mit ihnen zu arbeiten. Die eigenen inneren Konflikte anzunehmen, sie zu tolerieren, zu beobachten und zu untersuchen, ohne sie zu verurteilen, ist der Schlüssel zu einer größeren Bewusstwerdung unseres Selbsts und damit der Ausgangspunkt eines jeden Wachstums der Persönlichkeit.

Innere Widersprüche zu akzeptieren, bedeutet, sich die eigene Identität zu erarbeiten. Identität muss stetig erarbeitet werden. Sie ist nicht einfach, was du bist, sondern ein Prozess, den du aktiv vorantreiben musst.

Wir müssen uns daran gewöhnen, mit inneren Widersprüchen zu leben und wir tun gut daran, sie lieben zu lernen, anstatt sie zu verdrängen. Sie werden uns nicht in Ruhe lassen. Wenn wir sie zu nehmen verstehen, machen sie uns zu interessanten Menschen, sie öffnen den Weg zur Weisheit.

Wenn ihr denkt, das Lebensglück findet ihr im inneren Frieden, dann werdet ihr nie glücklich werden. So etwas wie inneren Frieden findet ihr, wenn ihr das in euch akzeptieren lernt, was niemals zur Ruhe kommen wird. Diesen Konflikt der Widersprüche wird es immer in euch geben. Wenn ihr das akzeptieren könnt, wird alles andere ein ganzes Stück besser. 

Zauderer wurden einfach gefressen

Warum ist es so schwer, mit diesen inneren Spannungen zu leben, sie sogar lieben zu lernen? Weil es einfacher ist, zu allem eine klare Meinung zu haben. Es hilft uns dabei, schnelle Entscheidungen zu treffen, wenn wir die Dinge vorher sauber in schwarz und weiß, in gut und böse, in rechts und links eingeordnet haben. Das ist auch verständlich und gibt den Menschen einer Jäger- und Sammlerkultur einen gehörigen evolutionären Vorteil: Die, die schnell entscheiden können, wer oder was Beute oder Feind ist, die überleben. Für unsere heutige überkomplexe Wirklichkeit ist diese Effizienz nicht mehr so ausschlaggebend. Wir überleben auch, wenn wir zaudern und mal etwas grübeln müssen und nicht gleich sicher sind, ob etwas gut oder schlecht ist. Wir haben den Luxus, dass wir uns die Zeit nehmen können zu warten, Geduld aufzubringen, zu beobachten und unterscheidlichstes in unser Leben zu integrieren.

Die Welt geht duch dich hindurch

Wir können es uns jetzt leisten, interessante Persönlichkeiten mit inneren Konflikten und Spannungen zu sein. Es macht uns sogar erfolgreicher, weil wir mit den Komplexitäten der Moderne besser umgehen können, weil wir sie zulassen können und dadurch mehr lernen, mehr tolerieren und offener auf die Welt zugehen und unsere Chancen nutzen können. Diese Offenheit gepaart mit etwas Mut ist es, die es uns ermöglicht, Dinge positiv zu verändern, durch diese Offenheit sind wir die Veränderung selbst. Und so schließt Joss Whedon mit den wunderschönen Worten:

Ihr geht nicht durch diese Welt hindurch, sondern diese Welt geht durch euch hindurch. Ihr erlebt sie, interpretiert sie, handelt entsprechend und schon ist sie anders geworden. Ihr werdet diese kaputte Welt sein und die Veränderung dieser kaputten Welt. Ihr werdet so viele Dinge sein und die eine Sache, die ich gern früher gewusst hätte und die ich euch mitgeben will ist: Seid nicht einfach ihr selbst! Seid die Summe aller um euch herum. Lebt nicht einfach, sondern seid das Seil, das an den Tod geknüpft ist. Seid das Leben. Lebt euer ganzes Leben. Seht es, versteht es, liebt es und habt Spaß!

Für mich ist Whedons Aufruf eine Erinnerung daran, dass ich das hier und jetzt nutzen muss. So weit ich weiß, habe ich nur dieses eine Leben. Und eigentlich habe ich gar nichts zu verlieren, wenn ich es ausschöpfe, offen auf die Chancen und Gefahren, auf die Kämpfe und die Liebe, auf die Lebenslust und den Tod zugehe. Wenn man sich das vor Augen hält, dann kann man höchstens noch davor Angst bekommen, dass man sein Leben verplempert, indem man immer vorsichtig ist, Konflikten aus dem Weg geht, überall nach Stabilität und Sicherheit sucht und dadurch das Leben vermeidet. Besser, ich verstehe das jetzt, als später, wenn ich erst mal auf der Bahre liege.



Alle Zitate übersetzt von Whedon ’87 Delivers 181st Commencement Address

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22. Mai 2013

Zehn Tugenden für das moderne Leben

Das letzte Buch des Atheisten und Philosophen Alain de Botton mit dem Titel Religion für Atheisten: Vom Nutzen der Religion für das Leben legte den Finger in eine Wunde unserer Gesellschaft: Ein guter Mensch zu sein, ist heute - da die Religionen ihre prägende Rolle verloren haben - eine für viele von uns bizarre und sogar deprimierende Idee, während Boshaftigkeit und Verruchtheit ein eigenartiger Glanz anhaftet. Aus diesen Erkenntnissen heraus entstand das "Projekt Tugend", das de Botton mit seiner School of Life in Großbritannien gestartet hat. Es geht darum, Weisheit, Ethik und Würde auch jenseits von Religionen zu finden und in konkreten täglichen Beispielen zu leben. Ich finde dieses Projekt großartig und habe Alain de Botton gefragt, ob ich die Texte dazu ins Deutsche übersetzen könnte und so das Projekt auch hier unterstützen kann. Natürlich fand er, das sei eine gute Idee. Wörtlich sagte er, als ich ihm den Artikel und das Poster dazu zeigte: "I am delighted, thank you so much, what an honour."


Das Poster und die Karten können hier klein und groß heruntergeladen werden

Wenn wir in unserer modernen Welt hören, jemand versuche, ein guter Mensch zu sein, kommen uns alle möglichen negativen Assoziationen: Wir denken an Frömmigkeit, Pathos, Blutlosigkeit und sexuelle Abkehr. Es ist, als sei Tugend etwas, das man nur dann ins Auge fasst, wenn alle anderen Optionen bereits ausgreizt sind.

Durch die gesamte Menschheitsgeschichte haben Gesellschaften ihre Tugenden gepflegt, indem Menschen sich darin geübt haben, tugendhafter zu sein. Wir sind eine der ersten Generationen, die gar kein Interesse an solcherart Training zu haben scheint. Du kannst zwar deinen Körper trainieren, aber erkläre mal, dass du trainieren möchtest, ein besserer Mensch zu werden und die Leute um dich herum werden dich für verrückt halten.

Es klingt vielleicht ziemlich schräg, vielleicht sogar etwas verrückt. Es sollte aber etwas ganz normales sein und darum geht es in diesem Manifest der zehn Tugenden für das moderne Leben.

Es gibt keinen wissenschaftlich gesicherten Weg, tugendhaft zu sein, aber der Schlüssel dazu scheint eine Liste zu sein, an der man seine ethischen Muskeln trainieren kann. So eine Liste erinnert uns daran, dass wir alle immer daran arbeiten müssen, tugendhaft zu sein. So, wie wir auch an allem anderen, das von Bedeutung für uns ist, konstant arbeiten.

16. Mai 2013

Motivation ist überbewertet

Warum die meisten Leute "trotz allem" gern zur Arbeit gehen


Verschiedene Studien bescheinigen uns, der arbeitenden Bevölkerung, einen kompletten Mangel an Motivation. Angeblich schleppen wir uns jeden Morgen zur Arbeit, die wir hassen. Jeder vierte habe "innerlich gekündigt", sagt die letzte Studie von Gallup.

Die Phrase von der innerlichen Kündigung ist in sich schon bescheuert, denn die Kündigung ist ein Akt, der nicht innerlich vollziehbar ist, sondern durch einen Kommunikationsakt mit mindestens einer weiteren Partei und/oder dadurch äußerlich vollzogen werden muss, dass wir nicht mehr zur Arbeit gehen. Wer diesen Akt nicht in aller Konsequenz vollzieht, hat also offenbar doch eine Motivation, an gewohnter Stelle in Lohn und Brot zu bleiben oder ist einfach zu träge, wirklich zu kündigen. Ich glaube nicht an die innere Kündigung, sondern daran, dass Menschen gemäß ihrer Persönlichkeitsdimensionen mehr oder weniger, auf jeden Fall aber ganz komplex motiviert sind, bestimmte Ziele zu verfolgen und Gegebenheiten zu tolerieren, sie zu formen oder ihnen aus dem Weg zu gehen. Was aber motiviert uns nun überhaupt?

Bundesarchiv Bild 183-1984-1102-002, Milchviehanlage Dittmannsdorf, Kollektiv

14. Mai 2013

Was willst du wirklich vom Leben? Finde es heraus!

Stephan Wießler ist Trainer und Coach für Charisma und Motivation. In seinen Coachings und Seminaren unterstützt er Menschen dabei, ihre Träume zu entdecken, zu verwirklichen und sich persönlich weiterzuentwickeln. Hier und jetzt zeigt er uns eine sofort anwendbare Methode, mit der wir in etwa einer Stunde herausfinden können, was wir wirklich im Leben wollen und wie wir es schritt für Schritt erreichen. Viel Spaß...

12. Mai 2013

Bildung und Technik für die moderne menschliche Seele

"Du kannst die beste Bildung haben und doch geht dein Leben schief."


Der Philosoph Alain de Botton ist einer meiner "Gurus". In London hat er die "School of Life" gegründet, weil er festgestellt hat, dass wir viel in unseren Bildungseinrichtungen lernen, aber nicht das Wichtigste: Wir lernen nicht zu leben. In seiner Schule des Lebens kann man zwar kein Diplom bekommen, dafür kann man lernen, wie man besser liebt, erzieht, arbeitet, wie man dem Stress mit Ruhe begegnet, wie man mit seinen Ängsten umgeht, dem Tod begegnet und eben generell ein besseres Leben führt. Lange Zeit haben die Religionen solche Aufgaben mit übernommen. Und was nun, da Gott inzwischen durch Suchalgorithmen und Smartphones ersetzt wurde?

Religion: Mehr als nur ästhetische Erlebnisse? (Flickr, Erzdiözese Wien)

Auf der Konferenz Seoul Digital Forum in Korea sprach er über das, was wir in der Moderne vermissen: die Sinnhaftigkeit unserer Existenzen, Weisheit und emotionales Wissen. Er konfrontiert sein Publikum damit, dass viele Menschen zwar verheiratet sind, aber ihre Partner nicht (mehr) lieben und dass fast alle täglich zur Arbeit gehen, ohne eben diese Arbeit zu lieben. Dabei sind Liebe und Arbeit die zentralen Elemente unserer modernen Gesellschaften. Das sind für ihn also die großen Probleme des modernen Lebens. in Konsequenz ruft er Samsung (also sozusagen den Hausherren dieser Konferenz) dazu auf, nicht nur schicke Telefone zu bauen, die der Kommunikation und Zerstreuung dienen, sondern an der Lösung dieser wahren und großen Probleme mitzuarbeiten: "Entwickeln Sie Applikationen, die uns dabei helfen, die großen Lebensfragen zu meistern und nicht lediglich einenader anzurufen oder im Internet zu surfen."

Es mag verwundern dass Alain de Botton als Agnostiker, also jemand, der im religiösen Sinne nicht glaubt, den ersatzlosen Verlust des Glaubens und der Religionen für den großen Mangel in unseren Leben verantwortlich macht. Lassen wir einmal die ketzerische Frage außen vor, was denn am Leben "damals", als Religion noch Mode war, besser gewesen sei und hören uns seine Argumente an.

De Botton sagt, Religion lehrte uns damals nicht nur, wie man rechnete und schrieb, sondern auch, wie wir gut, sanft und freundlich sein konnten. Wie können wir Trost finden, Sinnhaftigkeit, Moral, Freundlichkeit und Zusammenhalt? Es ist nicht Kunst, Kultur, Literatur und Philosophie sagt Alain de Botton. Man kann sich als Mensch in den wenigsten Fällen an solche Instituionen wie Museen, Galerien, Universitäten wenden, um die existenzielle Hilfe zu bekommen, die man benötigt. Mehr noch: Die Instutionen, die wir haben, vernachlässigen die Grundregeln, wegen derer die Religionen so erfolgreich die Brücke zwischen Wissen und Weisheit schlagen konnten. Welche sind diese Grundregeln, die wir villeicht in die nächsten großen Technologien überführen sollten?

Wiederholung

Wir vergessen alles wichtige, sogar das unwichtige, das wir in der Schule lernen, immer wieder, weil wir nicht berücksichtigen, was alle Religionen zuvor bereits herausgefunden haben: Damit wir etwas wirklich behalten, müssen wir es immer wieder wiederholen, 10 bis 15 mal am Tag. Daher die Gebete, die immer wieder dasselbe durch unsere Köpfe schleusen, bis wir es wirklich "gefressen" haben. Heute pauken Kinder allenfalls das Einmaleins und - wenn sie Glück/Pech haben - klassische Gedichte. Aber diese Inhalte vermögen nicht, dem Leben eine Sinnhaftigkeit zu stiften. Selbst Kunst und Literatur liegen dann nur noch wie eine extra Schicht auf dem Alltagsleben, ohne es zu durchdringen und ihm Sinn zu verleihen. Musik kann vielleicht noch am ehesten durch ihre Unmittelbarkeit aufs Leben wirken. aber auch das ist in den seltensten Fällen langahaltend sinnstiftend. Wir müssten uns also täglich und immer wieder mit diesen Sinnhaftigkeiten, wie auch immer sie aussehen sollten, mantrisch auseinandersetzen.

Kalender

Religionen haben ihre Feiertage, an denen wir speziellen Personen oder natürlichen Erscheinungen und Zyklen oder Himmelskörpern gedachten und ihnen unsere volle Aufmerksamkeit schenkten und ihnen vielleicht auch zu danken (z.B. Erntedankfest). Wir brauchen diese Momente, wir brauchen das Bestaunen der Natur, das Erinnern an große Geschehnisse, das Gedenken wichtiger Personen. Dieses Innehalten, Gedenken und Danken bindet uns zurück an ein großes Ganzes, das im Kleinklein des Alltags, in den Familiengefechten und Zumutungen des Arbeitszwanges erst unsichtbar und schließlich unwirklich wird. Nun ist es ja nicht so, dass wir nicht auch ohne diese Kalendertage unsere Aufmerksamkeit auf diese Objekte richten könnten. Wir tun es aber nicht, weil wir abgelenkt oder eingespannt sind, weil immer irgend etwas wichtiger oder attraktiver ist. Zum wirklichen Gedenken brauchen wir also Kalender und Rituale. Das erinnert auch daran, wie schwer es für uns ist, aufmerksam und achtsam zu sein. Und es erinnert mich daran, wie selten ich meiner Uroma oder meinem Opa gedenke. Unsere Nahrung füllen wir doch nur noch in uns hinein oder wann haben Sie zuletzt mal der Natur, den Bauern oder dem Meer für Ihren reich gedeckten Tisch gedankt? Verabredungen wie Feiertage erinnern uns daran, zwingen uns fast dazu, unsere Aufmerksamkeit dem großen Ganzen zuzuwenden und der Welt, der Natur und unseren Mitmenschen und Ahnen in Achtsamkeit zu begegnen.

Verführung

Atemberaubend ist es, wie jede Relogion es versteht, uns zu verführen. Denken wir an katholische Kirchen und ihre Gottesdienste mit Orgelmusik, Weihrauch und Kostümen oder denken wir an buddhistische Tempel oder Moscheen. Sie alle bieten faszinierende ästhetische Erlebnisse, die unsere Aufmerksamkeit zu fesseln vermögen. Dort sprechen große Redner, die es schaffen mit bildhafter Sprache wichtige Inhalte zu vermitteln. Vergleichen wir das mit den Schulen und Universitäten, in denen nur in den seltensten Fällen Professoren auch brilliante Entertainer sind und die auf gar keinen Fall durch Ästhetik, Architektur oder Sinnlichkeit zu fesseln vermögen. Wir müssem ästhetisch verführt werden, um wirklich tief berührt zu werden und uns mit Ideen zu verbinden. Diese Verführung findet ohne Religion im Moment nicht statt.

Übung

Für unsere modernen Ohren klingt es schräg, wenn wir sagen: Wir wollen bessere Menschen werden. Wenn man sich aber zum Beispiel die 10 Gebote ansieht, dann sind sie der Trainingsplan für den Moralmuskel der Menschen. Diese Gebote gibt es ja, weil ohne die Erinnerung und die Übung unseres Verhaltens an ihnen, die meisten von uns gegen viele dieser Gebote verstoßen würden. Das wir uns heute moralische Gebote verstoßen, mag viel damit zu tun haben, dass über Jahrhunderte hinweg diese Übungen stattgefunden haben und die Gebote so ziemlich tief in unser aller moralisches Gewissen eingesunken sind. Was aber nicht geschieht ist die tägliche Übung, bessere Menschen zu werden: freundlicher, freigiebiger, geduldiger, humorvoller, aufmerksamer. Wenn wir uns daran nicht erinnern und diese Tugenden nicht üben, dann werden wir sie vergessen. Wir würden gern gute Menschen sein, aber manchmal brauchen wir einfach etwas Erinnerungshilfe. Ohne sie bleiben wir im besten Fall, wer wir durch Erziehung geworden sind, wir werden aber nicht zu besseren Menschen.

Das Medium ist nicht die Botschaft

Alain de Botton trauert nicht den Religionen nach, sondern macht deutlich, dass sie Funktionen haben oder hatten, die wir ersetzen müssen, wenn wir die Religionen hinter uns lassen. Wenn wir sie nicht ersetzen, werden unsere Leben ärmer, leerer und letztlich auch unangenehmer, sollten wir verlernen, gute also tugendhafte Menschen zu sein. Technische Bildung reicht dazu nicht aus, wir brauchen Weisheit. Und solche Errungenschaften wie das Internet in der Hosentasche sind tolle Technologien, aber als solche eben nur Medien. Wenn diese Medien nichts sinnvolles zu transportieren haben, uns nichts Höheres sagen, das uns als Menschen erfüllt und auch unser Zusammenleben auf einer spirituellen Ebene verbinden, dann bleiben sie im menschlichen Sinne nutzlos. Wir wissen zwar, wie wir einen Telefonanruf quer durch die Welt machen können, aber nicht, wie und worüber wir reden sollen.

Technologie und Weisheit zusammenbringen

Wir müssen - so Alain de Botton - die Technologien mit der Weisheit fusionieren. Hier sei die große Chance der Zukunft. Er bleibt freilich ein Philosoph darin, dass er recht vage bleibt, wie genau solche Technologien, solche Applikationen konkret aussehen könnten. Sie sollten eben psychologisch effektiv sein und uns helfen können, inhaltlich gut und tief mit einander reden zu können. Oft genug sorgt Technologie aber genau für das Gegenteil: Sie lenkt uns ab von uns selbst, unseren Gedanken und unseren existentiellen Fragen. "Wir brauchen Hilfe, um Stille zu finden!"

"Macht Smartphones zu Diagnosegeräten und Kalendern der wirklich wichtigen Dinge in unserem Leben. Im Moment lässt jedes Smartphone einfach jede Kommunikation, jeden Anruf, jede SMS ungefiltert durch. Das Smartphone sollte uns aber vielleicht lieber in die richtige Richtung lenken, uns zum Beispiel zur Meditation anhalten und solange keine Anrufe oder andere Funktionen zulassen, bis wir wirklich meditiert haben."

Wiederholung, Kalender, Verführung und Übung, das sind die alten Technologien, die Alain de Botton in die neuen Technologien überführt sehen will. Ein technischer Meditationszwang ist da ist sicher nur eine erste Idee. Ich hoffe, die anwesenden IT-Entwickler haben zugehört und finden Wege, ihre technisch brilianten Entwicklungen sinnstiftend aufzuladen. In der Zwischenzeit bleiben uns noch viele analoge Möglichkeiten, das Menschsein zu üben.

Wer mehr von Alain de Botton hören möchte, kann sich den gesamten Vortrag der Konferenz Seoul Digital Forum in folgendem Video auf Englisch ansehen. Es lohnt sich, Alain de Botton ist ein sehr klarer, bildhafter Redner mit einem vorzüglichen Englisch und tollen Ideen. Viel Spaß!


9. Mai 2013

Persönlichkeit zwischen Umwelt und Vererbung

In welchem Verhältnis prägen Vererbung auf der einen und Sozialisation oder zufällige Erlebnisse auf der anderen Seite unsere Persönlichkeit? Und welche sind die maßgeblichen Faktoren, die neben der Vererbung zur Ausprägung unserer Persönlichkeit führen?

Persönlichkeit = Vererbung + Sozialisation + Zufall? (Quelle: fusiasa via Flickr, CC)

Persönlichkeit und Vererbung

Bereits im 19. Jahrhundert hat Francis Galton statistische Erhebungen durchgeführt, die nahe legen, dass Persönlichkeitsmerkmale zu einem erheblichen Teil vererbt werden und der Anteil der Umwelt durch Erziehung, Schule, Freunde, Krankheiten und so weiter an der Ausprägung der Persönlichkeit vergleichsweise gering ist. Dieser Gedanke fand sich bald wieder in Konzepten wie Eugenik und Zucht, die besonders von den Nazis missbraucht wurden. So ist es nicht verwunderlich, dass wir lange Zeit durchs 20. Jahrhundert hindurch geneigt waren, diesen natürlichen Anteil an der Persönlichkeit geringer zu schätzen und zu hoffen, dass doch vor allem die Umwelt, die Erziehung und Bildung den Menschen zu dem macht, was er ist. Diese verständliche Denk-Blockade ("Wehret den Anfängen!") scheint nun überwunden und wir sind wieder offen für neuere wissenschaftliche Ergebnisse, die in der Tat zu untermauern scheinen, dass der Anteil der Vererbung an Persönlichkeitsmerkmalen nicht geringer als 50% ist.*

Wenn ich "Persönlichkeitmerkmale" sage, dann meine ich solche, die in Persönlichkeitstests wie dem Big Five erhoben werden und die durchs Leben hinweg bei uns allen sehr stabil bleiben:

  1. Neurotizismus
  2. Extraversion
  3. Offenheit für Erfahrungen
  4. Verträglichkeit
  5. Gewissenhaftigkeit (Rigidität)
Ich weiß, es ist auf den ersten Blick nicht plausibel, dass diese fünf Dimensionen bereits ausreichen sollen, die grundlegende Persönlichkeitsmerkmale eines jeden zu beschrieben. Beschäftigt man sich jedoch näher damit, ist es frappierend, wie viel besser wir uns selbst und unsere Reaktionen und Verhaltensweisen verstehen und dann auch beeinflussen können, wenn wir uns durch die Linse dieser fünf Dimensionen betrachten. 

Ein Schock für Eltern

Wenn diese Persönlichkeitsmerkmale zu ca. 50% durch Vererbung geprägt sind, dann heißt das, dass wir durch die Erziehung oder die Prägung durch Erlebnisse in der Kindheit vielleicht einen geringeren Einfluss auf die Persönlichkeit eines Menschen haben, als uns lieb ist. In der Tat fand man in Studien mit eineiigen und zweieiigen Zwillingen heraus, dass die Einflüsse aus gemeinsamen Umständen (also etwa das Zuhause, die Eltern) nur zu 7% die Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen.** Die Umstände, die nur einer der Zwillinge erfuhr (etwa eine lange Krankheit oder ein einflussreicher Lehrer, den der andere nicht kannte), beeinflussten die Persönlichkeit viel stärker. Man weiß auch aus Studien mit Adoptivgeschwistern, die zusammen bei denselben Eltern aufwuchsen, aber eben keine vererbten Gene gemeinsam haben, dass sie sich in ihrer Persönlichkeit nicht mehr ähneln, als sich total fremde in ihren Persönlichkeiten ähneln. Ein Schock für Eltern: Man kann die Persönlichkeit seiner Kinder offenbar nur sehr wenig beeinflussen. 

Persönlichkeit und Umwelt


Insgesamt weiß man noch sehr wenig darüber, wie die Umwelt die Persönlichkeit prägt. Daniel Nettle* hat einige der Umweltfaktoren untersucht, die möglicherweise einen Effekt auf die Ausprägung unserer Persönlichkeitsdimensionen (nach Big Five) haben.

von Daniel Nettle
Ältere und jüngere Geschwister

Erstgeborene sind - so haben einige Studien belegt - statistisch gesehen eher gewissenhaft, dafür aber weniger verträglich. Verträglichkeit wurde durch Untersuchungen zum Teil einhergehend mit geringerer Aktivität von Hirnarealen, die zum Beispiel bei Empathie erregt werden, beobachtet. Je weniger verträglich eine Person ist, desto weniger hilfsbereit, kooperativ und nachsichtig ist sie. Sie können emotional kühl und wenig vertrauensvoll wirken. Die Gewissenhaftigkeit äußert sich in Sorgfalt, Ordnung und Verlässlichkeit. Später geborene Geschwister sind diesen Studien zufolge eher offen für neue Erfahrungen und ordnen sich weniger unter. Die Ergebnisse dieser Studien klingen plausibel, jedoch haben vergleichbare Studien diese Ergebnisse nicht reproduzieren können. Es kann sogar sein, dass in den Tests ältere Geschwister (von sich selbst, den Eltern und Geschwistern) auch im Nachhinein schon deshalb als gewissenhafter eingestuft werden, weil sie eben elter waren und daher einfach als verlässlicher erinnert werden. Wenn Personen, die außerhalb der Familie dieser Geschwister lebten, diese bewerten sollten, konnte keine statistisch größere Gewissenhaftigkeit der Erstgeborenen festgestelt werden. Somit ist also ungewiss, ob oder wie sehr die Geburtsfolge von Geschwistern tatsächlich deren Persönlichkeitsdimensionen prägt. Klar ist aber, dass die Geburtsfolge Einfluss auf die Dynamiken in der Familie hat und somit angelerntes Verhalten prägt, aber eben weniger die Grunddimensionen unserer Persönlichkeiten.

Sommer- und Winterkinder

Auch vorgeburtliche Erlebnisse beeinflussen Ungeborene und können einen Effekt auf den Rest des Lebens haben. Aber beeinflussen sie auch die Grunddimensionen unserer Persönlichkeit? Viele Einflüsse wie Stress oder Ernährung der Mutter während der Schwangersschaft zeigen keinen messbaren Eunfluss auf die Ausprägungen der Persönlichkeit des Kindes. Interessanterweise legen einige Studien nahe, dass im Herbst oder Winter geborene Menschen in Nordeuropa eher extrovertiert sind, als Vergleichspersonen, die im Frühjahr oder Sommer geboren wurden. Welche die frühen Einflüsse genau sind, die vor während oder kurz nach der Geburt, die Persönlichkeitsdimension Extroversion begünstigen könnten, ist noch völlig unklar. Evolutionär gesehen könnte es insofern passen, als dass auch die Säuglingssterblichkeit in früheren Zeiten kurz nach der Erntezeit geringer war und solche Kinder besser genährt und gesünder aufwuchsen. Gesunde, starke Kinder - so Nettles Theorie -  profitierten in historischen Zeiten von ihrer Extroversion, die sich in Mut und forschem Erkunden der Umwelt übersetzte.

Der eigene Körper beeinflusst die Persönlichkeit

Es gibt relativ verlässliche Erkenntnisse darüber, dass eigene Charakteristiken wie Gesundheit, Intelligenz, Größe und Attraktivität die Persönlichkeitsdimensionen beeinflussen. Zum Beispiel stehen Gewissenhaftigkeit und Intelligenz in negativer Korrelation: Wer intelligent ist, kann es sich leisten, weniger gewissenhaft zu sein. Attraktivität oder - neutraler ausgedrückt - Symmetrie im Körperbau korreliert positiv mit Extroversion, genauso wie die Körpergröße bei Männern. Man könnte hier vermuten, dass Körpergröße, Attraktivität etc. auch nur vererbt sind und das damit auch die erwähnten Ausprägungen der Persönlichkeit (Extroversion, Gewissenhaftigkeit) vererbt sind. Die Studien haben jedoch gezeigt, dass z.B. gestörtes Körperwachstum durch Unfälle oder Krankheiten in der frühen Jugend auch das entsprechende Persönlichkeitsmerkmal Extroversion negativ beeinflussen.

In der Zwischenzeit...

Wie wir sehen, ist die Persönlichkeitspsychologie noch lange nicht dort, wo sie uns befriedigende Antworten auf Fragen wie "Wer bin ich und warum?" oder "Wie kann ich mit meiner persönlichen Ausstattung am besten leben?" geben kann. Die alte Diskussion um Vererbung oder Umwelt (nature vs nurture) ist in diesem praktischen Zusammehnhang vielleicht auch weniger interessant. Auf einer theoretischen Ebene ist es sehr wohl eine spannende Frage, für die wir uns von der Psychologie in Zukunft sicher noch einiges erwarten dürfen. In der Zwischenzeit müssen wir unsere Leben führen und es ist uns sicher am besten dadurch geholfen, dass wir uns selbst kennen und lieben lernen und ganz bewusst das beste aus unserer je ganz individuellen Ausstattung machen.



*Siehe zum Beispiel Daniel Nettle, Personality: What makes you the way you are, 2007
** Bouchard, T. J. (1994). Genes, Environment, and Personality. Science 264, 1700-1701 (siehe auch Blogpost From Galton to Bouchard: Nature/nurture, twins, correlations and controversy). Daniel Nettle greift diese Frage in seinem 2007 erschienenen Buch noch einmal auf und spricht nicht von 7, sondern von 0%.

4. Mai 2013

Reiss Profile: Was treibt dich an?

Selbsterfahrung mit dem Persönlichkeitstest von Steven Reiss


"Was macht die Menschen im Leben letztlich glücklich und zufrieden und damit dauerhaft leistungsfähig? Was ist für jeden einzelnen Menschen wirklich wichtig?"

16 Lebensmotive, die uns nach Steven Reiss antreiben

Die Frage nach dem Glück und den wirklich wichtigen Dingen in unserem Leben steht der Analyse meines Reiss Profiles voran, die Reiss Master Svenja Hofert mit mir durchgeführt hat. Und es ist eine gute Frage, eine die durch andere Persönlichkeitstests so deutlich nicht erfasst wird. So sehr ich MBTI oder Big Five als "Bestandsaufnahme" unserer individuellen und überdauernden Persönlichkeitsdimensionen schätze, so sehr bin ich überzeugt, dass ein ergänzender Blick auf die uns antreibenden Motive im Leben sinnvoll sein kann.

Anhand von 16 Lebensmotiven wird im Reiss Profile herausgearbeitet, was mich im Leben antreibt. Daraus könnte sich am Ende nicht nur ein enormer Zuwachs an Verständnis der eigenen Persönlichkeit ergeben, sondern auch eine neue Möglichkeit, eigene Entscheidungen - seien sie beruflicher oder privater Natur - zu überdenken. Die 16 Motive sind: Macht, Teamorientierung, Neugier, Anerkennung, Ordnung, Sparsamkeit/Sammeln, Ziel- und Zweckorientierung, Idealismus, Beziehungen, Familie, Status, Rache/Kampf, Schönheit (Eros), Essen, Körperliche Aktivität, Emotionale Ruhe.

Diese Motive erscheinen dem Laien (und auch manchem Psychologen) erst einmal ziemlich willkürlich zusammengewürfelt, sind aber laut Steven Reiss die grundlegenden 16 Motive, die alles menschliche Verhalten bestimmten, wie Reiss in über 6000 Interviews herausgefunden haben will. Kritiker halten gar die zugrunde liegenden Motivationstheorien aufgrund unzureichender empirischer Belege für wissenschaftlich gescheitert. Mehr noch: Reiss Profile funktionierten im Grunde wie Horoskope, denn die Motive seien so "vage formuliert, dass sich jeder heraussuchen kann, was auf ihn zutrifft und hat nach dem Test das Gefühl, seine Person sei präzise beschrieben worden" (Wikipedia).