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Erkenne dich selbst. Der Rest kommt (fast) von allein.

20. März 2016

Was könnte das sein, ein wahres Selbst?

Oder wie man sein Tattoo nach innen trägt

Das neue Philosophie Magazin macht mit der Frage auf: "Wer ist mein wahres Selbst?" (Und einem Cover, das diesmal in seiner Offensichtlichkeit jeglichen Witz vermissen lässt.) Mein Professor pflegte bei solchen Anlässen immer zu sagen: "Das ist die falsche Frage!" Wörter wie "wahr" und "das Selbst" sind sehr tückische Wörter, weil sie es zwar in sich haben, aber jeder aus seinem Alltagsverständnis heraus meint, ganz genau zu wissen, was sie bedeuten. Im gemeinsamen Zusammenhang sind solche Wörter natürlich noch tückischer. Ob die Frage, wer mein wahres Selbst sei, überhaupt sinnvoll ist, können wir nur klären, wenn wir wissen, ob es so etwas wie ein wahres Selbst gibt und wenn ja, ob es ein Subjekt gibt (zum Beispiel "ich"), dem dieses "wahre Selbst" zugeschrieben werden kann.

Wahr will in diesem Zusammenhang auf eine Art Kern verweisen, der einem Selbst innewohnt. Was soll dieser Kern sein? Ist es die jeweils eigenartige Weise, auf die jeder Körper mit seinen Organen bis hin zu seinen Fingerabdrücken zusammengestellt ist? Das reicht wahrscheinlich nicht, denn hat solch ein bloßer Körper schon ein Selbst? Und bin ich nicht mehr "ich selbst", wenn ich eine Niere abgebe oder neue Fingerabdrücke transplantiert bekomme? Nein. Ist es mein Erleben, meine Persönlichkeit, die Art und Weise, wie ich denke und mich verhalte? Schon eher ist das gemeint. Und so stoßen wir im Philosophie Magazin auf Begriffe wie "Authentizität" und "Aufrichtigkeit".

Allein aus der Erkenntnis heraus, dass wir ja nicht als ein "Original" geboren werden, mit festen Werten, Überzeugungen und Handlungsweisen, sondern unsere Persönlichkeit, unseren Charakter und also unser "Selbst" erst bilden und hoffentlich im Austausch mit unserer Umwelt immer weiter entwickeln, wird klar, dass es auch im psychologischen Sinne kein "wahres Selbst" geben kann. Das, was wir unser Selbst nennen, ist und wird immer geprägt, wird fortlaufend geformt, ist immer in Bewegung. Hilfsweise kann man sich vorstellen, dass es einen Zeitpunkt im Leben gibt, ab dem man gewissermaßen die härtesten und nachhaltigsten Formen der Prägung durch frühkindliche interpersonelle Erfahrungen und Umwelterlebnisse, Erziehung und schließlich Schule hinter sich hat. Vereinfacht gesagt, ist man dann "auf sich allein gestellt".

Man ist dann zwar kein bloßes Selbst und schon gar kein wahres Selbst, aber man hat ein Konglomerat von Gewohnheiten, Überzeugungen, Werten, eine relativ stabile und kontinuierliche Selbsterfahrung (vorausgesetzt man leidet nicht unter schweren Persönlichkeitsstörungen), die immer auch eine Umwelterfahrung ist, denn es gibt kein Selbst ohne das Andere. Man ist dann als Persönlichkeit relativ gefestigt, will vielleicht etwas bestimmtes, hat politische Vorstellungen und einen Begriff von dem, was man im Leben für erstrebenswert hält.

Ab diesem Punkt ist es sinnvoll, nach Authentizität und Aufrichtigkeit zu fragen. Lässt die Gesellschaft zu, dass man aufrichtig redet und handelt? Habe ich selbst den Mut dazu? Lasse ich mich von vermeintlich "unangepassten" und "Alternativen" für ihre rückschrittlichen Zwecke einspannen oder nutze ich Intellekt und Skepsis genügend, um nicht gleich jedem Verführer auf den Leim zu gehen? Habe ich die Kraft, meine "ureigenen" Bedürfnissen von den Bedarfserweckungen zu unterscheiden, die auf den Zeitgeist oder das Marketing der Absatzwirtschaft zurückzuführen sind? Ab wann ist mein Bedürfnis nicht mehr authentisch? Ist es schon deswegen nicht mehr mein wahres Bedürfnis, weil ich es über den Fernseher vermittelt bekommen habe? Svenja Flaßpöhler sagt dazu im Philosophie Magazin unter Bezugnahme auf die "philosophischen Verfechter der Eigentlichkeit":

"Nur wer eine stabile Verbindung zu seinem Inneren hat, ist ein Original, ein Rebell, ein Freigeist im wahrsten Sinne des Wortes, der sich zur Not auch gegen herrschende Strömungen stemmt [...] Der echte Mensch ist ein Mensch, der sich tief mit sich selbst auseinandersetzt und aus dieser Tiefe heraus eine klare, ethische Haltung entwickelt: zum Dasein, zum anderen, zur Welt..." (S. 44)

Auch damit entkommen wir natürlich nicht der Situation, dass es kein nicht-geprägtes "Inneres" gibt und dass alles in unserer "Tiefe" immer erst auf der Oberfläche war und in uns hinein drang. Auch ganz "tiefe Gedanken" können sehr oberflächlich sein. Aber wir verstehen schon eher, was gemeint ist: Hören wir in uns hinein, versuchen wir die vielen simultanen Stimmen, die immer auf uns eindringen, zum Schweigen zu bringen, um zu hören, was die eine tiefere und durch längere Erfahrungen gefestigte Stimme zu uns sagt. Auch hier kann es nicht um "die eine Stimme des wahren Selbst" gehen, aber es mag die Stimme des Teils meines Selbst sein, der für kurze Zeit die Anstrengung unternimmt, das alltägliche Gewirr vom lang geprägten Selbstverständnis abzutrennen.

In einer Gesellschaft, in der der Zwang nach Individualität die Norm ist, kann es schwer sein, sich auf sich selbst zu besinnen. Auf der anderen Seite zeigt genau diese oberflächliche Individualität, dass es gerade auf diese Art der Authentizität nicht ankommt. Es ist ein bisschen wie in dem Film Once Were Worriers (deutsch: Die letzte Kriegerin) wo der junge Maori gefragt wird, warum er nicht das traditionelle Tattoo auf der Haut trage und er erwidert: Ich trage meins innen.

Also, so schließt Svenja Flaßpöhler, ist gerade jetzt, wo einem vor so vielen professionell inszenierten Individualitäts- und Sinnangeboten geradezu schwindlig werden kann, die Frage nach der Authentizität nicht naiv:

"Wird doch die Frage 'Wer bin ich wirklich?' durch den tiefen Wunsch hervorgebracht, das eigene Leben zu führen, anstatt geführt zu werden. Führen kann der Mensch sein Leben nur, wenn er mehr ist, als eine glatte Projektionsfläche, auf der andere ihre Erwartungen einschreiben. Gewiss: Als gesellschaftliche Wesen kommen wir gar nicht umhin, Konventionen zu bedienen, uns gar in manchen Situationen hinter Masken zu verstecken. Und doch können wir unsere Rolle so oder so aufführen und uns zu herrschenden Regeln oder Anforderungen verhalten. Dieses Moment der Freiheit scheint auf, wenn sich ein Spalt, eine Lücke zwischen Selbst und Rolle öffnet." (S. 45)

Wenn Philosophen auf die Frage "Wer ist mein wahres Selbst?" sagen würden, das sei die falsche Frage, wie würde dann die richtige Frage lauten? Vielleicht: Wie sieht mein inneres Tattoo aus? Oder: Was ist mir wichtig im Leben und wie kann ich handeln, damit ich das verwirklichen kann, an dem mir ganz besonders viel liegt?



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24 Kommentare:

  1. Danke für all diese Überlegungen.
    Mich persönlich nervt diese Frage nach dem wahren Selbst, wennauch sie wohl essentiell ist.
    Ab wann verlasse ich z.b. eine "Rolle"? Eine Rolle zu spielen, auszufüllen, wann ist das eigentlich nicht gegeben? Ich erkenne etwa, daß jetzt im Moment eine "Vaterfunktion" durch einen Menschen gewünscht wird. Ich erfülle das dann meist unbewusst, weil ich förderlich sein will und weil ich auch väterlich behandelt werden möchte, zumindest bisweilen. Was hat das aber mit "mir" zu tun? Gut, ich bin einer, der väterliche Anteile hat und dies aus wirklich verschiedensten Gründen. Kann auch sein, daß dieser Aspekt downhill geht, durch irgendwelche Lebensumstände. Ich wäre dann immer noch Gerhard. Ein anderer Gerhard, aber letztlich die gleiche "Hülle".

    Ich glaube auch nicht, daß wir jeh die Prägungen der Kindheit hinter uns lassen können. Zumindest subtil sind sie wirksam, unbewusst, als Flash, als Blitz, als Wahrnehmung auch. unsere Wahrnehmung des Aussen ist komplett unserer Hervorbringung geschuldet. Wie erlebe ich päzise ein Szenario wie etwa eine Park? Was kommt da genau hoch? Welche Eindrücke, Erinnerungen und Gefühle?

    Ein anderes Thema ist auch das vielbeschworene Selbst in spirituellen Kreisen. es soll, so verstand ich es immer, etwas transpersonales sein, also etwas, was aufzuscheinen beginnt, wenn man das Ich als Täuschung erkennt. Theoretisch vertraut, ist mir das immer ein Rätsel geblieben.

    Gerhard

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    1. Danke für den Kommentar, Gerhard!

      Ich glaube, du triffst den Nagel auf den Kopf: Es gibt keine Unterscheidung zwischen "Selbst" und "Rolle". Ich selbst spiele eben viele Rollen, setze verschiedene Masken auf, ohne dass ich dadurch nicht mehr authentisch bin. Im Gegenteil: Ohne Masken gibt es kein Ich.

      Ich denke, man muss einfach sehen, welche Rollen zu einem passen und die unpassenden ablegen. Wenn es nun eine Rolle ist, die man nicht einfach abwählen kann (Vaterrolle z.B.), dann kann man versuchen, Spielraum in der Rolle zu finden, sie passender machen und eben durchhalten, bis man sie doch endlich ablegen kann.

      Von dem Esoterik "Selbst" will ich lieber gar nicht anfangen... da rege ich mich nur wieder auf ;)

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    2. Das transpersonale Selbst ist das große ungeschiedene Ganze. Es ergibt sich durch forcierte Selbstbetrachtung in der Meditation, quasi auf der Suche nach dem "eigentlichen Selbst". Egal was man nun anschaut, man wird keine "eigentliche" ureigene Substanz finden, sondern immer nur wieder etwas, das von mehr oder weniger zufälligen "äußeren" Ursachen abhängt. Physische Umwelt, Erziehung, Erfahrungen, diverse Prägungen durch all das - nirgends gibt es ein vorgängiges "Ich" oder "Selbst".

      Mein vom ZEN inspirierter Yogalehrer (z.B. "Heidegger und ZEN") erläuterte das an der Zwiebel: was immer wir als Selbst bzw. ureigenes authentisches Ich ins Auge fassen, erweist sich bei näherer Betrachtung nur als weitere Zwiebelschale, die man abblättert (=als DochNichtSelbst erkennt). Was bleibt im Inneren der Zwiebel? Nichts, Leere....

      Was also ist das wahre Selbst? Das große Ganze, von dem "ich" ein zufällig konglomerierter Aspekt bin, der so tut, als sei er "jemand".
      Und offenbar gibt es nicht nur die Möglichkeit, dies mit dem Intellekt zu erkennen, sondern auch meditative Zustände, in der wir die Ungeschiedenheit erfahren, fühlen, erleben können. Im Westen nannte man es z.B. Unio Mystika.

      Was bringts? Größere Gelassenheit im Leben und angesichts des Todes.

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    3. Vielen Dank für den Kommentar!

      Dieses Absehen vom Ego ist eines der hilfreichen Konzepte östlicher Philosophie, auch wenn davon nach der Portierung in den Westen nicht mehr viel übrig bleibt. Denn letztlich meditieren wir jetzt, damit wir morgen wieder "performen" können.

      Gibt es östliche Bewusstseinsphilosophie? Also etwa: Wie erklärt sich ein Buddhist das Ich-Erleben des "Nicht-Ichs"?

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    4. Das ist so ein weites Feld, das ich nicht mal eben so mit ein paar Sätzen referieren kann.

      Ja, ein erheblicher Anteil buddhistischer Überlegungen über "alles was ist und wir mittendrin" kann man ohne irgendwelche Bauchschmerzen als "Bewusstseinsphilosophie" labeln.
      Es hat mich sehr bereichert, mich damit auseinander zu setzen, doch war meine Befassung ja nicht akademisch motiviert, deshalb müsste ich erst wieder forschen, um Quellen zu benennen, die das halbwegs kompakt rüber bringen.

      Es finden sich genau diesselben Fragen, die auch die westliche Philosophie behandelt - und darauf verschiedene Antworten, die sich in diversen "Schulen" und Traditionen etablieren.
      Zum Beispiel wurde über die "Geist-" oder "Nicht-Geist-"Lehre gestritten, wobei es darum ging, ob die wahrgenommen Phänomene nur Erscheinungen im Geist sind - oder ob sie eine unabhängige Existenz haben. Die haben sich gefetzt... ("So sag mir doch: wenn der Stein, der dich beschwert, nur in deinem Geist existiert, warum lässt du ihn nicht einfach fallen?")
      Zum Bewusstsein selbst gibt es wirklich viel - sehr differenziert, mehrdimensional, spannend. Teils nicht so zugänglich für "uns Westler", weil aus einer exzessiven meditativen und kontemplativen Praxis gewollen, die uns eben fehlt. Aber auch nicht wirklich entlegen...
      Deutscher Idealismus, Phänomenologie - dazu gibt es wohl viele Verbindungen, aber nicht nur.

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  2. Manche Formulierungen mit "wahr" verursachen einem tatsächlich Hautrötungen, und wenn gar noch das eigentümliche "wahr" auf das substantivierte Pronomen "selbst" trifft, ist der Juckreiz gewissermaßen vorprogrammiert. Insofern fängt die falsche Frage schon beim Sprachgebrauch an. Ansgar Beckermanns nüchterne Aufsätze zum Thema Ich und Selbst und den Quellen der sprachlichen Missverständnisse helfen sicher ein wenig aus dem Substanz-Schlamassel heraus, unter den Titeln "Es gibt kein Ich, doch es gibt mich" und "Die Rede von dem Ich und dem Selbst" in den Aufsätzen Band 1 zu finden, die Beckermann zum kostenlosen Download bereitstellt : https://www.uni-bielefeld.de/philosophie/personen/beckermann/

    Das ganze Aufhebens um das wahre Selbst und Authentizität usw. mag bestimmte menschliche Sehnsüchte nach so einem wahren Kern bedienen, aber der ist nichts als ein Ideal, eine Projektionsfläche für menschlich-allzumenschliche Ausreden, wenn man verwirrt ist wie einer der Helden aus dem neuen Glavinic-Roman, der meint, jeder sei mindestens drei: der, für den er sich hält, der, für den ihn die anderen halten und der, für den ihn die anderen nach seiner Meinung nach halten sollen. Wer natürlich (Stichwort Esoterik) immer profitiert von solchen Fragestellungen, sind die Seelenfischer aller Glaubensrichtungen. Derjenige, der sich wie ein A*loch verhält, ist im Moment dieses Verhaltens ebenso authentisch und wahr wie die gleiche Person, die ins Wasser springt und eine Katze vorm Ertrinken rettet. Es gibt es nicht mehr oder weniger wahr, es gibt es nur mehr oder weniger reflektiertes Handeln und Verhalten. Das scheint mir das ganze Geheimnis.

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    1. Danke für deine Anmerkungen und den Hinweis auf Beckermann. War nicht ganz einfach, die Texte zu finden, aber jetzt habe ich sie und werde mal etwas rumlesen.

      Ich stimme dir weitestgehend zu, will aber doch sagen, dass man den Sprachgebrauch zum Beispiel bei Wörtern wir "Ich", "Selbst" und auch "wahr" nicht falsch nennen kann, denn Wörter bedeuten eben das, was ihr Sprachgebrauch zulässt. Nur haben wir eben verschiedene Sprachgebrauche in verschiedenen Kontexten. Wenn ich im Alltag "ich" sage (oder hier im Kommentar), dann ist das schon ok und bezeichnet etwas (für sowohl mich als auch außen stehende) ziemlich konkretes (für mich mein ziemlich kontinuierliches Selbsterlebnis und für andere die Erscheinung, die ich damit hervorrufen kann). Es funktioniert im praktischen Sinne. Aber ich darf eben nicht von diesem Sprachgebrauch darauf schließen, dass es dieses "Ich" in anderen Kontexten (philosophischen, psychologischen etc. und speziell in allem, vor dem "neuro" steht) auch so abgrenzbar gibt. Das ist so, wie es in manchen Kontexten auch Einhörner gibt (z.B. in Trickfilmen), in vielen anderen Kontexten gibt es auch Einhörner (z.B. in der Philosophie als Platzhalter für Phantastisches), aber sie entsprechen sich nicht und sie entsprechen schon gar keinem konkreten "Etwas" da "draußen".

      Wenn du sagst, "Es gibt es nicht mehr oder weniger wahr, es gibt es nur mehr oder weniger reflektiertes Handeln und Verhalten. Das scheint mir das ganze Geheimnis", dann würden die "philosophischen Verfechter der Eigentlichkeit" entgegenhalten: "Worauf reflektieren wir denn dann? Du kannst noch so gut reflektieren, wenn die Basis deiner Reflektion verschmutzt ist, kommt nichts 'authentisches' dabei raus."

      Aber ich gebe dir Recht: es gibt nichts Authentisches, alles ist immer geformt, verformt. Und ein Glück, denn würde man Kinder ohne gesellschaftliche Prägung aufziehen und sollten die das überleben, dann würde wahrscheinlich ein wildes authentisches Stück "Natur" rauskommen, das sich in keiner Gemeinschaft zurecht fände und ich bin mir nicht sicher, was die "philosophischen Verfechter der Eigentlichkeit" in diesem Wesen sehen würden.

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    2. Eine kurze Anmerkung zu den Eigentlichkeitsphilosophen: Kinder sehen ihre Eltern immer vollkommen authentisch, im Guten wie im Schlechten, es dauert sehr lange, bis dieses Moment eines scheinbar Eigentlichen, ganz Anderen des Handelnden hinzukommt. Spontan würde ich sagen, dieses Eigentliche ist nicht nur das Produkt eines merkwürdigen Sprachgebrauchs, sondern auch einer, ja, mehr oder weniger angemessenen Konditionierung auf bestimmte Ideale hin. Denn ob nun Buddhist oder Eigentlichkeits- oder Ding-An-Sichphilosoph: Ein wahres Selbst gemessen woran? wäre doch die ketzerische Gegenfrage. Das Kind misst die Handlung der Eltern nicht an Idealen oder Ideen, sondern geht mit dem, was ihm begegnet um. Es philosophiert auch noch nicht über Innen und Außen und andere Substanzverdoppelungen. (Dass viele Dualismen eine Erfolgsgeschichte sind, sei mal anerkannt)

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    3. "Das Kind misst die Handlung der Eltern nicht an Idealen oder Ideen, sondern geht mit dem, was ihm begegnet um."

      Hm, also hat es Maßstäbe oder nicht? Und wenn ja, wo kommen die her? Ich könnte vermuten, sie kommen aus Unlust (Vater guckt grimmig) und Lust (Mutter füttert). Zu irgend einem Zeitpunkt werden diese basalen Un-Lust-Gefühle durch die ewig mahlende Konditionierung an komplexere Vorstellungen (z.B. moralische) gekoppelt. Und der ganze grausame Kreislauf aus Urteilen und Schlechtfühlen beginnt (pessimistisch formuliert). So in etwa?

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  3. Gut, verbessern wir mal den Satz: Das Kind begreift die Handlung der Eltern nicht mittels Abgleich mit Idealen oder Ideen, sondern geht mit dem, was ihm begegnet um.

    Das bleibt natürlich nicht ewig so. Aber ich weiß nicht, ob der aus der lebensalltäglichen Konditionierung entstehende Kreislauf des Urteilens und Wertens ein grausamer ist, denn umgekehrt kommen wir über solche Konditionierungsprozesse auch zu den positiven Begriffen der Schönheit und des Erhabenen. Die Fragen nach dem wahren Selbst unterscheiden sich davon nur insofern, als sie über dieses elende "wahre" Zugriff auf den Menschen einfordern, also die Selbstbestimmung, die Autonomität aushöhlen und versuchen, den Einzelnen zu manipulieren, auf dass er bestimmten Glaubenssätze folge. Diese ganze Heer von Propheten, Heilanden, Erlösten, Erleuchteten, die irgendwelche geheimnisvollen Innenwelten ins Menschenleben hineinschwätzen. Manchaml möchte man sich fast zur reinen Chemie der Empfindungen durchringen...

    Einen Ausweg sehe ich in den modernen Gesellschaften darin, dass man die Frage nach dem wahren Selbst einfach fallen lässt und - ich möchte Richard Rorty hier ausdrücklich erwähnen - Abschied vom Essentiellen nimmt und von Selbsterschaffung durch imemr neue Vokabulare spricht und nicht glaubt, es gäbe jemals ein abschließendes, wahres Vokabular über einen selbst. Eines der Vokabulare wird natürlich einmal das letzte gewesen sein, aber solange man noch lebt, gibt es kein wahres Selbst sondern immer nur eine aktuelle Selbstbeschreibung, die nicht an einer irgendwo aufgehängten inneren oder äußeren Wahrheitsdefinition gemessen werden kann, sondern allenfalls daran, ob sie verstanden wird, funktioniert. So ungefähr eben.

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  4. Cooler Artikel. Bin heute über den Blog auf Twitter gestolperet :). Weiter so

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  5. Worum gehts: Um das Streben des Menschen nach Einzigartigkeit, danach in den Augen des anderen etwas Besonferes zu sein? Authetizität ist selbstverständlich nur in Hinblick (Blick, schau mich an. angesichts der Bild- Wortflut der aktuellen Smart- und Medienlandschsft ein zentrales Thema) auf die Gemeinschaft erklärbar. Auf einer einsamen Insel ohne den Vergleich mit einem Gegenüber ist das Sein eher eine Notwendigkeit... nicht das Streben nach Authentizität. Das Sich-Vergleichen ist eine Vorstufe auf dem Weg zur Selbterkenntis, auf untrter Ebene angediedelt, aber eben auch darum elementar.ist authentisch sein das Ziel der heutigen westlichen Gesellschaft bzw. des westl. Individuums? Nein, denke nicht..... liebe Grüße, Ellie

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    1. Danke, Ellie, für deine Gedanken.
      Ich frage mich noch zusätzlich, ob es nicht auch ein "authentisches" Bedürfnis nach eigener Authentizität gibt? Also haben wir nicht auch ein ganz individuelles Bestreben, uns von anderen "verschieden" zu machen? Ist das nicht geradezu auf der biologischen Ebene ein Bedürfnis, dass wir auch beim Balztanz von Auerhähnen sehen können?

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    2. Hallo, ... ich erinnere mich an die Bedürfnispyramide von Maslow, habe leider gerade keine Zeit zu googeln, um mein Restwissen zu überprüfen: Aber es kommt mir vor diesem Hintergrund der gedanke: Je existenzieller die Bedürfnisse desto athentischer? Am Anfang war ja biblisch gesprochen die Einheit, Athentizität als der Garten Eden aus dem dem Mensch ja letztendlich auch heraus strebt, um Erkenntnis zu erlangen.... (?) Erkenntnis strebt nach Vielheit, Weite, Diversität (siehe deine texte) Vielleicht ist Authetizität eine von vielen Medthoden hin zur Entwicklung des Selbst (das/unser Selbst ist ja nicht statisch, es ist ebenso wie alles Sein der Evolution "unterworfen"). auch denke ich gerade: Wer ein authendtisches bedürfnis nach Einzigartigkeit hat, der weiß schon so viel, dass ihm die Gleichheit ebenso willkommen ist aus spiritueller Persepktive betrachtet). Liebe Grüße, verzeihung, dass meine Sätze etwas unbeholfen wirken; Ellie

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    3. und: Wer authentisch ist hat keine Wahlfreiheit, ist nicht flexibel, bleibt im (narzistisch-egozentrischen, fast krankhaft) ICH stecken. (?),
      nochmals liebe Grüße Ellie

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  6. Antworten
    1. Schön gesagt. Aber erklärungsbedürftig! Wie können wir das verstehen?

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  7. Zunächst ist die Erfahrung des eigenen Körpers das Primäre. Er ist auch konstitutiv für das, was man gewohnheitmäßig schwammig als "Selbst" oder "ich" bezeichnet, d.h. ohne die Erfahrung der Eigenheit meines Körpers kann ich gar keinen Begriff des "Selbst" bilden. Die Eigenheit eines eigenen Willens kann sich zuerst auch nur bilden, insofern "ich" meinen Körper lenken und steuern kann.
    Die nun hier folgenden Fragen nach dem "Selbst" im Innern, dem "seelischen Selbst" sozusagen, begegnen dann immer nur der Paradoxie, dass die Menschehit oberhalb des je eigenen Körpers tief miteinander connected ist, zuerst und am wichtigsten durch Sprache und die gleichen Modi des Verstehens, der Sinnbildung, danach auch durch gleiche oder ähnliche Erfahrungen. Damit ist der Körper auch das Einzige, was ich als Selbst einigermaßen logisch konsistent als Selbst und nicht ein Anderer bestimmen kann. Im Innern gibt es kaum noch ein abgrenzbares Selbst, sondern nur - meiner Meinung nach - den Knoten im Netz. Man könnte also auch, um ein zeitgemäßes Metapherngebilde zu bemühen, sagen: "Ich" ist ein Knoten im Netz, auf vielen Ebenen verknüpft. Wollte man sein Selbst unbedingt als ein ganz neigenes Selbst zu fassen bekommen, müsste man es vermutlich zuerst - ganz existenzialistisch - entwerfen. Wird ja auch immer wieder von psychisch Angefressenen versucht: "Ich will nur noch Ich-selbst sein." Statt dieses vergeblichen Unterfangens ist es vielleicht seelisch richtiger und schlauer, sich zu wünschen: "Ich möchte gut verbunden sein mit anderen."
    (Ich glaube, Hartmut Rosa mit seinem neuen Buch "Resonanz" ist auch in der Ecke unterwegs.)
    Ich gebe aber gerne zu, dass wenn man so hemdsärmlig daher philosophiert, sich die Dinge immer etwas zu einfach zurechtlegt. Denn trotz aller Verknüpftheit und sehr großer Ähnlichkeiten zwischen den Menschen (Goethe: "Der Mensch an sich ist einfach.")sind wir ja nicht alle gleich. Ich kann mich erinnern, dass ich vor Jahren mal an einer Straßenecke in New York Midtown stand und auf jemanden 15 Minuten wartete - es war schier unglaublich, eine welche Menge an unterschiedlichen Menschen nach Form und Aussehen da vorbei schlendert und hastet. Noch seltsamer sind dann die persönlichen Schemata im Reden, Reagieren, in den Emotionen, in den persönlichen Bestrebungen, so dass die Frage nach dem Selbst - leider - auch simpel zu neuroligischen Befunden und Fragestellungen führt.
    Um dann einen Strich drunter zumachen, würde ich doch vorschlagen, den Körper und seine Eigenbeweglichkeit als den Quellpunkt allen Selbstseins zu begreifen. Sehr bald danach beginnen Psychologie & Gesellschaft, das Innere so weit zu prägen, dass es weniger ein Selbst als ein Gewordensein ist. Ob das dann noch philosophische Fragestellungen sind?
    Zuguterletzt, fällt mir gerade ein, darf ich hier noch meinen persönlich Lieblingsspruch loswerden: Eher verlässt ein Mensch das Sonnensystem, als dass er aufhört, ein Kind seiner Zeit zu sein. :)

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    1. Danke dafür, das macht den Satz, selbst sei nur der Körper, verständlicher.

      Der Körper als "Quellpunkt" leuchtet mir ein, aber das heißt nicht zwangsläufig, dass man hier das einzige fände, was man "selbst" nennen könnte. Wenn wir der Idee des "Ich" als Knoten auf vielen Ebenen verknüpft folgen, dann könnte sich doch aus dieser jeweils sehr individuellen "Verstrickung" eines jeden Ichs eine Authentizität, ein "Selbst" ergeben. Niemand wird auf genau dieselbe Art verknüpft und vernetzt sein, jeder Knoten wäre einmalig und unwiederholbar.

      Mit anderen Worten: Auch wenn man "nur" durch die Verknüpfung mit anderen und anderem ein Ich ist, kann man darum doch auch "nur noch Ich-selbst sein", denn es gibt kein anderes Selbst, das meinem in all seinen Verknüpfungen identisch sei.

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  8. Ich bin durch "introvertiert glücklich" auf diese Homepage und den Artikel über das "wahre" Selbst gestoßen. Darin steht, dass unsere Persönlichkeit nur durch die Interaktion mit anderen Menschen zustande kommt. Nachvollziehbar! Heißt das aber auch, dass wir uns selbst nur durch andere erkennen? Wissen wir nur durch das Vergleichen mit anderen wer wir sind? Z.B. mein Partner liebt es unter Menschen zu sein, tankt so seine Energie auf. Ich oft nicht, bin darum wohl eher introvertiert. Mein Handeln, meine Gedanken, meine Wünsche müssen also schon mal vollzogen worden sein, um sie einordnen zu können? Ich bin darum eigentlich nur eine Wiederholung dessen was es gab und gibt? Einfach wie aktuelle Musik oder Mode, die aus dem Alten" entstanden ist. Auf der einen Seite fühlt man sich dadurch sicher besser verstanden, wenn gesagt wird "wir sind alle nur Menschen" oder "jeder ist ein Teil des Anderen", man fühlt sich vielleicht weniger einsam. Auf der anderen Seite heißt das nicht aber auch, dass nichts Neues entstehen kann? Wir sind ein Spiegel der Anderen und die Anderen sind unser Spiegel, so der Ping-Pong Effekt. Natürlich immer wieder neu gemischt der Genpool der Erfahrungen. Eigentlich auch ein wenig langweilig. Mutationen wären hier angebracht, doch das wird in unserer Gesellschaft eher ausgemerzt. Es wird überall nach Authentizität gesucht, auch im Business und trotzdem gleicht sich in unserer Gesellschaft alles immer mehr an. Ein letztes Aufbäumen sozusagen. Danke für die Anregungen!

    Gruß
    Nicole

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    1. Danke für deine Gedanken und Fragen. Statt direkt zu antworten, will ich David Whyte zitieren: "Der Ort, an dem die Dinge real werden, ist die Grenze zwischen dem, was du für dein Du hältst und dem, was du nicht dafür hältst. Was immer du von der Welt möchtest, wird nicht genau so passieren, wie du es magst. Und was immer die Welt von dir möchte, wird auch nicht passieren. Was eigentlich passiert ist dieses Treffen an der Grenze."

      Das wird nicht alles klären, aber es ist ein Hinweis auf die dialogische Natur jeglicher Realität. Wir sind in diesem ständigen Austausch an den Grenzen und das ist das einzige, was wir wirklich sind. Von der Abstraktion zum realen Leben kommen

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  9. David Whyte: "Der Ort, an dem die Dinge real werden, ist die Grenze zwischen dem, was du für dein Du hältst und dem, was du nicht dafür hältst. Was immer du von der Welt möchtest, wird nicht genau so passieren, wie du es magst. Und was immer die Welt von dir möchte, wird auch nicht passieren. Was eigentlich passiert ist dieses Treffen an der Grenze."

    Ist es nicht das, was die Welt im Innersten zusammenhält? Man weiß es eigentlich gar nicht, man ist unwissend, aber man hat eine "Eigenbemächtigung" gleichzeitig aber auch "Schranken", die man entweder überwinden kann oder auch nicht, was nicht heißt, dass diese Eigenbemächtigung trotzdem möglich ist, nur die Art und Weise ändert sich, mal hat man gefühlt "mehr Macht", mal ist man "ohnmächtig", mal ist man überrascht, dass Dinge einfach nur so passieren ohne eigenes Dazutun (leider), fühlt sich als Zuschauer der Ereignisse. Man denkt, dass es davon abhängen würde, was ich will, dass sollten auch andere wollen, denn wenn der andere Wille mir nicht gefällt, dann ist das Fügung an die Gegebenheiten, ein Achselzucken, das ich als Ohnmacht beschreibe.

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  10. Das Schöne aber daran ist, dass es an eine Zeit gebunden ist. Wo jetzt Macht ist, die ich als Ohnmacht sehe, da wird auch Macht erfahren, dass sie die Welt nicht alleine bestimmt, denn diese Kräfteverhältnisse können sich verschieben, sie passieren einfach, was sich immer ändert, was auch die Macht, die heute noch Macht ist, die Ohnmacht von morgen sein kann.
    So finde ich, dass sich Evolution erklärt, die das ist, was die Welt zusammenhält. Ohne Evolution wäre die Welt ein Betonklotz ohne Leben. Was heißt das? Dass es Polaritäten gibt, dass Dualismus gut ist.
    Sogar die Meditation kann ich dafür verwenden, denn ein Meditierender versucht sich dieser Grenze anzunähern im Spiel damit, dass er in der Meditation loslässt, was er alles möchte, und sei es noch so dringend, was auch zeigt, wie sehr er dazu Konzentration aufwenden muss, es einfach loszulassen oder Ängste überwinden, Ziele, die man selbst verwirklichen möchte, seien sie noch so dringend, nur für diese Zeitlang völlig fallen zu lassen. Man verschenkt sein Selbst an die Meditation. Was passiert dann? Ja, da passiert dann etwas ganz anderes, etwas Unerwartetes, weil man das Wollen, dass man vorher noch hatte, fallengelassen hat. Man nähert sich im nächsten Meditationsschritt dieser Grenze, ohne Worte, weil man denkt, dass sich nichts ändert dadurch. Aber man öffnet ja doch seinen Horizont, man ist bereit, neue Erfahrungen und Ansichten zuzulassen. Und nach der Meditation kann man fortfahren wie bisher, die alten Gedanken und Absichten und Wünsche, alles wie gehabt. Dennoch ist es ein Experiment, dass man einen Weg findet, besser in Einklang zu kommen mit Konflikten, weil man überprüfen möchte, wer hat nun einen Tunnelblick? Ich oder die anderen?
    Das ist wirklich nicht viel, da passieren nur Gedanken, aber es fühlt sich auch wie eine Energie an, die es sich erlaubt, dass man ein Zentrum sein darf. Eine Art von Zentrum ohne Worte dafür zu haben oder Erklärungen. Es passiert ohne Worte, sonst könnte man es sagen, was eigentlich während der Stille passiert, die keine Stille ist, aber eine Stille, die nicht erklärt werden kann mit Worten.
    So ist es dann, wenn man doch versucht, zu erklären, wo es doch nur schwammig ist, was ich gerade versuche, als Meditation zu erklären. Etwas, was so in etwa eine Vorgeburt ist? Eine ständige Vorgeburt nur.
    Und nach der Meditation sieht man die Realität wieder besser, macht den Abgleich, findet zurück zu dem, was man vorfindet, was tatsächlich ist. Als Westlerin sehe ich es als ein Experiment, es findet nur in der Theorie statt, will aber die Brücke zur Realität sein.
    Ich erkläre nur in Annäherungen. Was mir gefällt ist, dass es mir ein eigenes Verständnis von der Freiheit gestattet und ermöglicht, dass ich einerseits gerne Wollen darf, ich darf so viel Wollen, wie ich will, dafür sogar kämpfen wie ich will, aber ich lasse es zu, dass das andere Personen genauso machen dürfen. Was passiert, das weiß keiner, das zeigt sich in Bewegungen, die passieren.

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