28. Juni 2011

Schüchtern und introvertiert? Gut so!

Heute früh las ich in der New York Times den Artikel Shyness: Evolutionary Tactic? von Susan Cain. An dieser Stelle: Dank an Thomas Bagusche für den Lektüre-Tipp. Kurz gesagt geht es in dem Artikel darum, dass eine erfolgreiche Population alle Sorten von Temperamenten braucht: risikofreudige und vorsichtige, tatkräftige und nachdenkliche, extrovertierte und introvertierte. Das scheint für Fische wie Menschen zu gelten und deckt sich auch mit unserer generellen Auffassung von Diversität als Überlebensvorteil einer Gruppe oder Art. Die Autorin hebt auch hervor, dass wir aufhören müssen, schüchterne und introvertierte Menschen als problematisch zu begreifen. Dies ist ein Punkt den ich ganz gerne unterstützen möchte...

Wer bin ich?
Durch meine Ausbildungen im Bereich Coaching, Team-Führung und Psychologie kam ich oft in Kontakt mit Persönlichkeitstests wie beispielsweise MBTI und seinen vier typologischen Begriffspaaren Extraversion-Introversion, Sinnlichkeit-Intuition, Denken-Fühlen, Urteilen-Wahrnehmen (zum Schubladendenken, habe ich schon etwas gesagt). Immer wieder machten meine Testergebnisse deutlich, dass ich extrem introvertiert bin. Nach anfänglichem Unglauben halfen mir diese Analysen besser zu verstehen, wer ich bin und warum mir bestimmte Sachen schwer und andere leicht fallen. Zum Beispiel wurde mir nun endlich klar, dass es einfach meiner Persönlichkeit entspricht, nicht gerne auf Parties rumzustehen, mich lange in großen Menschenmengen aufzuhalten und spontan und schnell Entscheidungen zu treffen oder große Reden zu halten. Warum soll ich mir das dann also zumuten? Das Beste daran: Ich fing an, diese Seite an mir zu akzeptieren, sogar zu lieben. Denn die vielen positiven Aspekte, die wir Introvertierte oft mitbringen, fehlen manchen extrovertierten Menschen schmerzhaft: Unabhängig, analytisch, beharrlich, selbstverbessernd, ernsthaft, entschlossen, zurückhaltend, selbstständig, tolerant, entspannt.

Macher oder Stubenhocker?
Aber machen wir uns nichts vor: Die heutige Arbeitswelt gehört den extrovertierten Machern, den risikofreudigen Entscheidern, den redegewandten Netzwerkern, die auf den After-Work-Partys neue Partner und Klienten angeln. Sie gehört eher nicht den kontaktscheuen Stubenhockern, den Leseratten und Teetrinkern. Das sollte man jedenfalls denken, wenn man die Lautstärke und Präsenz der einen vergleicht mit der Zurückhaltung und Unscheinbarkeit der anderen. Ganz so ist es aber nicht. In vielen Arbeitsbereichen kommt es auf sorgfältiges Abwägen der Risiken an, auf gründliche Analyse und längerwieriges Vor-sich-hin-Arbeiten an. Selbst bei kommunikativen Berufsprofilen wie Personalmanagern können introvertierte Menschen in vielen Bereichen punkten, wie beispielsweise einfach mal zuhören, Ideen und Feedback ernst nehmen und bei der Umsetzung konsequent unterstützen.

Strategien für Introvertierte
Hinzu kommt, dass man seine Schwächen kennen lernen und an ihnen arbeiten kann, wenn man sein eigenes psychologisches Strickmuster kennt. Wie ich zum Beispiel sagte, kann ich nur sehr schlecht spontan wirklich gute Redebeiträge in Meetings und Konferenzen bringen. Dahinter steht die Angst, Blödsinn zu sagen oder etwas triviales, was sowieso schon alle wissen. In der spontanen Situation fehlt mir die Vorbereitungszeit, um Ideen und Argumente abzuwägen, bevor ich sie "an die große Glocke hänge". Daraus habe ich zwei Lehren gezogen. Zum einen: Ich bereite mich auf Meetings vor, ich lese die Agenda, dazugehörige Dokumente und mache mir Stichpunkte zu den Dingen, die ich sagen will. Das funktioniert sehr gut und macht im Meeting den Eindruck, als sei ich durchaus spontan. Zum anderen: Ich begegne meiner Angst ganz bewusst, indem ich wissentlich das Risiko eingehe und einfach spontan etwas Gewagtes sage. Auch wenn ich dann mit dem Resultat nicht immer zufrieden bin, habe ich doch festgestellt, dass es keineswegs meinen Ruf ruiniert. Auch Schüchternheit und extremes Lampenfieber beruhen auf Ängsten, die man abbauen kann oder denen man mit Strategien begegnen kann. Selbst sehr schüchterne oder von Nervosität gepeinigte Menschen können zu guten öffentlichen Rednern werden, wenn sie ganz bewusst trainieren und sich über Zeit die Erfolgserlebnisse mehren.

Ein ganzer Artikel mit handfesten Strategien für introvertierte Menschen ist hier erschienen.

6 Kommentare:

  1. Wow, Gilbert,
    was so ein kleiner Retweet anrichten kann ;-)

    Du hast es wirklich drauf komplexe Themen des Menschseins zu veranschaulichen und rüberzubringen.
    Vielen Dank für die Erwähnung und Deine wunderbaren Artikel.

    Mach weiter so,
    Thomas

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  2. Sehr gut! Sieht mir schon verdächtig nach einer zweiten "Gilbert Dietrich Edition" aus ;-)

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  3. Ich denke das gerade die heutige Computer-/Internetwelt zu einem großen Teil von Introvertierten dominiert wird. Man denke nur an Marc Zuckerberg. Gerade unter Programmierern, Blog-Schreibern und Co. gibt es sehr viele Introvertierte.

    Auch gilt es zwischen Introvertiert und schüchtern zu unterscheiden, das sind durchaus verschiedene Dinge, denn auch Extrovertierte können situationsabhängig schüchtern sein.

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  4. Hallo Lars,

    beides absolut richtige Anmerkungen!

    Danke dafür.

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  5. Danke dafür!

    Es ist schade,dass die Qualitäten der Introvertiertheit wenig in der Gesellschaft gesehen werden.
    Gleichzeitig ist es eine "Qualität" der Introvertierten nicht immer "gesehen" werden zu wollen (müssen).

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  6. Danke für den Artikel.

    Hier habe ich mich vor Kurzem mit dem Thema beschäftigt:

    http://freilaufmenschen.com/introvertiert-extrovertiert-auf-welcher-seite-stehst-du-und-muss-man-uberhaupt-auf-einer-sein/

    Mittlerweile genieße ich meine introvertierte Seite. Allerdings war das nicht immer so, vor allem in der Schule und auf Parties kam ich mir doch oft seltsam vor....aber die Zeiten sind zum Glück vorbei!

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