2. Oktober 2011

Geschichte des antiken Gehirns

Alle Sinneseindrücke liefen im Herzen zusammen
In meinem letzten Beitrag ging es um die ersten - wenn man so will - psychiatrischen Anstalten, die griechischen Asklepios Tempel. Man kam da immerhin schon einem humanistischen Therapiegedanken nahe, ohne dass das Verständnis vom menschlichen Geist und seinen Krankheiten dem ähnelte, was wir heute glauben. Aber was glaubten die Griechen eigentlich und wo liegen die Wurzeln einer modernen und wissenschaftlichen Behandlung psychischer Leiden?

Der anatomische Aufbau des Gehirns war selbst den Medizinern der Antike ein Rätsel. Denn der menschliche Körper, auch der tote, war den Griechen und den Römern heilig und anatomische Sektionen von Leichen war undenkbar. Vielmehr obduzierte man Tiere, um von ihnen auf den Menschen zu schließen, oder auch mal eine Totgeburt, vielleicht auch heimlich mal eine Leiche. Das aber reichte nicht für eine Wissenschaft von der Anatomie des Menschen.

Hippokrates immerhin glaubte bereits, dass mentale Vorgänge von Körpersäften gesteuert wurden (siehe Typenlehren: von Ayurveda's Dosha über Hippokrates bis zu Jung) und hat somit mit unserem modernen Verständnis den kleinsten gemeinsamen Nenner gemein, dass unser Geist nicht durch externe magische Kräfte gesteuert wird, sondern durch körpereigene biochemische Vorgänge. Heute Neurotransmitter und damals Gallensaft. Außerdem war er überzeugt, dass Gedanken, Intelligenz und Gefühl ihren Sitz im Gehirn hatten.

Platon hingegen, obwohl jünger als Hippokrates, meinte, dass nur das Wissen aus dem Kopf komme, Gefühle hingegen aus dem Herzen und Dränge und Begierden aus den Lenden. Auf den zweiten Blick ist auch dass gar nicht so verkehrt. Anders als wir heute oft denken, entstehen Gefühle und Eindrücke ja eben nicht nur im Kopf, sondern aus Feedback-Schleifen zwischen Gehirn und anderen Organen. Z.B. sind Angstgefühle stark an Atmung und Herz gekoppelt und natürlich sind unsere "Lenden" erheblich beteiligt, wenn sich das fleischliche Verlangen hochschaukelt zwischen dem Cingulum im Kopf und den Schwellkörpern zwischen unseren Beinen.

Aristoteles, wiederum jünger als Platon, schrieb dem Kopf nur noch eine temperierende Rolle für das Herz zu, in dem alles mentale Leben sich abspielte. Die Gehirnmasse sah er als eine Art von Schlacke an, der jede sensorische Qualität abgehe. Im Herzen liefen alle Sinneseindrücke zusammen und Änderungen der Temperatur des Herzens waren für Aristoteles der Grund für mentale Krankheiten. Heißes Blut sorgte für Verwirrung, kaltes Blut für Melancholie und Geistesabwesenheit und -starre.

Erst Asklepiades von Bithynien, ein Römer von griechischer Herkunft, maß dem Gehirn die größte Teilhabe an der Psyche zu. Asklepiades - benannt nach dem griechischen Gott der Heilkunst Asklepios (der mit der Schlange am Stock) - war unter anderem dafür berühmt, den ersten lebensrettenden Luftröhrenschnitt gemacht zu haben und auch eine Person mit Herzstillstand reanimiert zu haben. Für die Römer - die die Griechen normalerweise für ein ziemlich idealistisches und nutzloses Volk hielten - war Asklepiades eine Art Wunderheiler, für uns der erste systematisch arbeitende Mediziner. Was ihn für uns so modern erscheinen lässt, ist auch seine Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Erkrankungen und seine Klassifizierung von mentalen Störungen wie Halluzinationen, Illusionen und Wahn. Vor allem aber lehnte er nicht nur alle animistischen, mythologischen und dämonologischen Konzepte ab, sondern auch die Viersäftelehre des Hippokrates. Statt dessen beruhten seine Therapien auf der Annahme winziger Partikel (Atome), die sich durch den Körper bewegten und auch die "Poren" des Gehirns durchdringen oder verstopfen konnten, was dann zu schweren psychischen Störungen führen konnte. Die Poren konnten durch Einfluss von Substanzen (z.B. Alkohol oder Opium) verengt und erweitert werden und somit Stoffe hindurch lassen, die die Balance des gesamten Organismus beeinflussten. Asklepiades postulierte zwei gegensätzliche Pole von Störungen: Phrenitis (Delirium) und Catatonia (Verkrampfung). Zusätzlich zur modernen Auffassung vom Gehirn und den diffundierenden Stoffen, unterstrich Asklepiades auch die Wichtigkeit von Umwelteinflüssen. Damit einhergehend untersuchte er bio-chemische Behandlungen und vertraute auf sanfte und angenehme Therapien. Ein Weg, der bald schon wieder verlassen wurde, bis wir ihn in der Moderne wieder entdeckten.



Wer mehr zur Geschichte der Psychologie wissen möchte, der sollte unbedingt Masters of the Mind von Theodore Millon lesen, auf das ich mich auch in diesem Artikel stütze. Soweit ich weiß, ist es bisher nur auf Englisch erschienen. Millon untersucht hier die Geschichte psychischer Störungen bis heute. Millon ist Professor Emeritus der Psychologie und Psychiatrie an der University of Miami und Harvard Medical School. Momentan ist er Dean und wissenschaftlicher Direktor am Institute for Advanced Studies in Personology and Psychopathology. Millon war umfänglich an der Katalogisierung mentaler Störungen und ihrer diagnostischen Methoden beteiligt. Masters of the Mind: Exploring the Story of Mental Illness from Ancient Times to the New Millennium

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