11. November 2011

Der Graben zwischen Wissen und Handeln

Dies wird wahrscheinlich der sinnloseste Artikel, den ich bisher geschrieben habe. Er handelt nämlich davon, wie wenig Selbst-Kenntnis und Bewusstsein helfen, um die eigenen Fehler im Verhalten und Denken zu korrigieren.

Angriffslust und Verteidigung 
Ein Beispiel aus meinem eigenen Alltag: Ich weiß, was passiert, wenn meine Lebensgefährtin bei mir die wunden Punkte trifft. Wie oft habe ich mir selbst gesagt: Wenn sie irgend etwas, das ich angeblich gesagt oder getan habe, an den Haaren herbeizieht und mich damit provoziert, dann ist das nicht, weil sie mich nicht mehr liebt. Vielmehr hat sie ein momentanes Defizit an Aufmerksamkeit oder einen Überschuss an Frustration, was nicht unbedingt mein Verschulden sein muss. Ich weiß das und ich habe vorher Pläne gemacht, weise und ruhig zu reagieren und ihr mit Aufmerksamkeit und Verständnis entgegen zu kommen. Was aber mache ich, wenn es passiert? Ich schlage verbal zurück, beschuldige sie und verteidige mich. Wir streiten. Hinterher bin ich wieder klüger. Bis zum nächsten Mal, wenn einer von uns den anderen aus nichtigen (oder hormonellen) Gründen provoziert. Dieses Beispiel verdeutlicht zum einen das Dilemma, das man auch Knowing-Doing-Gap nennt: Der Graben, der sich zwischen Wissen und Handeln auftut. Wir werden zwar immer klüger, nur schlägt es sich nicht in unserem Umgang mit der Wirklichkeit nieder (siehe oben oder auch den Klimawandel). Zum anderen verdeutlicht das Beispiel eine Dualität in unserem Denken. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger und Psychologe Daniel Kahneman unterscheidet unsere mentalen Operationen in diese zwei Typen:

  • Typ 1: Intuitiv und assoziativ, meist unbewusst, unaufwendig und spontan
  • Typ 2: Kontrolliert, logisch kohärent, bewusst, aufwendig und Regel geleitet

Als Menschheit denken wir gerne von uns, dass unser Verhalten vornehmlich von mentalen Operationen vom Typ 2 geprägt ist. Wir denken nach, leiten logisch ab, treffen eine vernünftige Entscheidung und handeln danach. Herauskommt die Welt, geschnitzt vom Werkzeug Gehirn, ein gut geöltes Räderwerk, eine schöne Maschine, die eine geregelte Realität nach Maß produziert.

Gesteuert vom Tier-Gehirn
Man muss uns zugute halten, dass wir die Spezies sind, die mehr als jede andere zu mentalen Operationen vom Typ 2 fähig ist. Dennoch: Das wirkliche Arbeitstier ist nicht die Vernunft, sondern das spontane, unbewusste und intuitive Handeln in der Situation: Typ 1. Wenn mein Beispiel oben nicht reicht, dann ist hier noch ein anderes für die Empfänglichkeit unseres Geistes für subtile Botschaften, die unser Handeln vorbei am Wächter des Bewusstseins steuern: Neben einer Kaffeekanne und der dazugehörigen Kasse des Vertrauens wurden abwechselnd Bilder von in die Kamera blickenden Augenpaaren und Blumen gehängt. Niemand bemerkte das, aber die Kasse des Vertrauens war immer dann prall gefüllt, wenn das Poster mit den Augenpaaren darüber wachte. Wenn die Blumen daneben hingen, fühlte sich niemand beobachtet und entsprechend weniger wurde bezahlt. All das geschah unbewusst und nicht aus der Absicht heraus zu betrügen. Aber es passiert, es schafft Fakten und unbewusste, intuitive Entscheidungen geben meistens den Ausschlag.

Es lässt mich wieder an Platon und sein Höhlengleichnis denken: Wenn wir die Operationen vom Typ 1 nicht durchdringen, bleiben wir Gefangene der Höhle, in der wir nur die Schatten der ersten Ordnung sehen, anstatt promethisch die wirklichen Probleme mit Hilfe der Vernunft anzugehen. Es ist und bleibt sehr sehr aufwendig, aber wir müssen uns zu Operationen vom Typ 2 immer wieder zwingen. Wenn wir uns auf den Autopilot verlassen (oder auch den freien Markt, das Spiel der Kräfte, die Evolution), dann können wir uns nicht beklagen, dass die Dinge nicht besser werden. In dem Zusammenhang empfehle ich auch noch einmal Erich Feldmeiers Buch Sonntags Reden, montags Meeting: Wie Innovationen dennoch gelingen.

Kahneman zeigt uns also, dass gerade auch in emotionalen Situationen unser Handeln von Operationen des Typ 1 bestimmt bleibt. Default-Mode: Flucht oder Kampf? Ein Stehenbleiben, Nachdenken und Ausdiskutieren ist unter natürlichen Bedingungen nicht vorgesehen. Trotzdem steht dahinter der alte Traum von der Aufklärung: Wir können uns und unsere Welt bessern, wenn wir uns bemühen. Bei sich selbst anfangen, sich zu verstehen und Verständnis seinen Mitmenschen gegenüber mitzubringen, ist ein erster Schritt. Wir können den Schaden, den unser animalisches Gehirn immer wieder anrichtet, nicht ganz vermeiden, aber wir können ihn einschränken. Damit steht Kahneman in einer Reihe mit Kopernikus, Darwin und Freud, die je auf ihre Weise dem Menschen seine eingebildete Besonderheit, Göttlichkeit und Kraft auszureden versuchten. Es dreht sich nicht die Sonne um die Erde, der Mensch ist ein Affe, er hat sich und seine dunklen Triebe nicht im Griff und nun auch noch das: Wir handeln nicht rational, sondern treffen aus dem Bauch heraus meistens die falschen Entscheidungen. Ist das der Grund, warum eigentlich rein gar nichts klappt?


Dieser Artikel geht auf den ersten Teil von Kahnemans Edge Master Class The Marvels and the Flaws of Intuitive Thinking zurück.

5 Kommentare:

  1. Super Artikel, und kein bisschen sinnlos!
    Danke im übrigen für die nochmalige Empfehlung meines Buches; darüber freue ich mich natürlich.

    Kürzlich formulierte ich 2 Rezensionen:
    http://www.amazon.de/Hilfe-mein-Chef-ist-Affe/dp/3813504050/ref=cm_cr-mr-title

    Fast noch besser passt jedoch die Rezension zu Cordelia Fine, die es schafft, über den Kugelschreiber-Streit mit ihrem Sohn bzw. ihrem Mann ein neurobiologisches Buch zu schreiben.
    ;-)
    http://www.amazon.de/Wissen-Sie-was-Gehirn-denkt/dp/3827418321/ref=cm_cr-mr-title

    Zusammengefasst sollten wir erkennen, wie normal es von der Evolution des Gehirns her ist,
    dass wir intuitiv, spontan, impulsiv, irrational reagieren - menschlich, und glücklicherweise nicht als Roboter!

    Wenn jedoch das Grosse Ganze gefährdet ist, das lt. Michel Serres die Natur als eigenständiges Rechts-Subjekt sein sollte, dann stellt sich die Sache plötzlich in einem ganz anderen Licht dar, dann funktionieren die irrationalen Entscheidungen, die man JEDEM Menschen im Sinne des Humanismus zugestehen sollte, auf einmal überhaupt nicht mehr.
    Deshalb ist es auch enorm wichtig, sich seiner potentiellen Fehler bewusst zu werden, ausserhalb des AUTOPILOT-Modus, um adäquat darauf reagieren zu können.

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  2. Ich stimme Erich Feldmeier in zweierlei Hinsicht zu: der Artikel ist ganz und gar nicht umsonst und es ist zum Glück normal, dass wir "menschlich" handeln.

    Wo ich nicht zustimme, ist, dass wir meist aus dem Bauch heraus unrational handeln, sondern dass wir unser Bauchgefühl, auch Intuition genannt, sowohl von unserem "Reptiliengehirn" als auch unserer vermeintlichen Ratio, die mehr ums Ego kreist als um das Wohlbefinden aller, übertönt wird.

    Das mag den o.g. genannten wissenschaftlich begründeten Thesen widersprechen, was ich damit aber ausdrücken will, ist Folgendes: Wir handeln i.d.R. ohne wirklich "bei uns" oder in diesem Moment zu sein. Und sind wir grad ausnahmsweise bei uns, sind wir sauer auf den denjenigen, der es schafft, uns da wegzureißen. Ich bin mittlerweile der Meinung, dass nichts so sehr hilft, wie bewusst im gegenwärtigen Moment zu sein. Hier kann ich mir meiner "Fehler" bewusst werden, und ich kann mir dabei antrainieren, weiter in diesem Moment zu bleiben ohne zu argumentieren.

    Ich bin nicht der Überzeugung, dass unser animalisches Gehirn so viel Schaden anrichtet, wie man ihm gern zuschreibt. Der Wissenschaftsjournalist Joachim Bauer hat die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu zusammengefasst in "Prinzip Menschlichkeit - Warum wir von Natur aus kooperieren". Mehr Schaden richtet m.E. die vermeintliche Ratio an, solange sie ständig um uns als Ego kreist und wir in diesem inneren Dialog gefangen sind, bei dem es darum geht, wer Recht hat, wer einem weh tut, warum man selbst so ungerecht behandelt wird u.s.w. Dein eigenes Beispiel ist eine wunderbare Demonstration dessen: Wir nehmen uns vor, wenn der ANDERE sich aus unserer Sicht so unangemessen benimmt, würden wir weise und ruhig reagieren. Unser Ego ist darauf getrimmt, die Fehler beim anderen zu suchen, und dann wundern wir uns, warum wir mit dem Reptiliengehirn reagieren. Das ist so, als würden wir uns mental auf den Kampf mit dem Säbelzahntiger vorbereiten. Der Kampf mit dem Säbelzahntiger bleibt immer noch ein Kampf, ob wir ihn mit der Ruhe eines Shaolinmönchs in die Flucht schlagen oder in der eigenen hormonellen Panik... Tatsache ist, unser Ego fühlt sich bedroht und entwickelt eine Strategie, um zu überleben. "Der Andere" kommt dabei nie gut weg. Und die "Ruhe" ist dann nur eine Strategie, keine wirkliche Gelassenheit, kein wirkliches "In-dem-Moment-Sein".

    Ich glaube, der Graben zwischen Wissen und Handeln, wird durch die Unachtsamkeit, nicht im gegenwärtigen Augenblick zu sein gegraben und das Werkzeug ist unser Ego.

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  3. Danke, Claudia! Ein interessanter Beitrag. Vor allem deswegen, weil ich auch das Gefühl habe, dass wir dann schlechte Entscheidungen treffen, wenn wir "nicht bei uns sind". Das ist das, was ich unter Berufung auf Erichs Texte "Autopilot" nennen.

    Wenn ich ganz bewusst im Moment bin, mir die Optionen und möglichen Konsequenzen, aber auch meine Gefühle vergegenwärtige, dann ist das doch eine bessere Voraussetzung für gute Entscheidungen, als wenn ich nur mein Kleinhirn (flight or fight) über mich bestimmen lasse. Und das Ego-zentrische zeugt eben nicht von viel Bewusstsein, sondern ist genau das, was uns zu Kurzschlüssen verleitet, die sich auf Dauer nicht bewehren.

    Intuition nenne ich noch einmal etwas anderes: Sie basiert auf Kenntnis des Gegenstandes und vorheriger Auseinandersetzung damit (siehe Wie man intuitiv gute Entscheidungen trifft. Ohne diese Kenntnis ist jede Intuition leer und im Grunde dasselbe wie Roulette spielen: Zufall. Erst wenn mein Unterbewusstsein Daten zum Verarbeiten (auch Emotionen gehören zu diesen Daten) hat, kann die Intuition eine gute sein.

    Mit anderen Worten: Intuition und Ratio schließen sich ganz und gar nicht aus. Ratio und Erkenntnis (Wahrnehmung) bedingt gute Intuition.

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  4. "Ratio und Erkenntnis bedingen gute Intuition" Jein, würde ich sagen, je nachdem wie wir Intuition definieren. Ich finde einen guten Rundumschlag zu dem Thema liefert der Wissenschaftsjournalist Bas Kast "Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft" (Fischer Vlg), er hat sich übrigens am Ende des Buchs dem Selbsttest unterzogen, sich vorübergehend per Magnetfeld in eine Art "Autismus-Zustand" versetzen zu lassen. Intuition kommt mit weniger Erkenntnis aus, als die Ratio in uns meint...

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  5. Hier noch ein tolles Video-Beispiel von Peter Kruse zum Thema Intuition und Ratio/Daten.

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