24. März 2012

Die Lüge von der Konsensgesellschaft

"Wir leben in einer Konsensgesellschaft und wer da rausfällt, der kriegt böse was über die Mütze." (Giovanni di Lorenzo am 22. 2. 2012 bei Anne Will)

Wer fällt hier aus der Konsensgesellschaft? (von Pompo Nelle Casse)

Ich finde dieses Zitat großartig! Eine Konsensgesellschaft, in der man Schläge bekommt, wenn man aus dem Rahmen fällt, lebt den performativen Widerspruch zum modernen Minimalkonsens von Toleranz und Gewaltfreiheit. So etwas ist natürlich erst einmal nur zustimmungsheischendes Phrasendreschen: Die böse Zensurgesellschaft, in der keine abweichenden Meinungen geduldet werden! Das ist die Vorstufe zum Sozialismus, wo alle immer "ja" und "amen" sagen (wenn "amen" nicht verboten ist). Beim näheren Hinsehen, kommen Zweifel auf: Wir scheinen alle ständig unterschiedlicher Meinung zu sein. Mehr noch: Unsere westlichen Gesellschaften werden immer pluralistischer, bunter und offener und nicht einmal bei Problemen, bei denen man sich einen Konsens wünschte - sagen wir: der Umgang mit dem Klimawandel -, wird einer gefunden. Damit einher geht auch ein munterer Austausch über verschiedene Ansichten bis hin zu mitunter gewaltsamen Protesten (London, Vancouver). Selbst in der deutschen Politik, angeführt von unserer unangreifbaren Teflon-Kanzlerin, herrscht muntere Auseinandersetzung, wie man gerade wieder rund um den Präsidentenwechsel sehen konnte. Aber das ist uns dann auch wieder nicht Recht. Angeblich werden wir nämlich politikmüde, wenn sich Politiker streiten.

Mein Verdacht ist, dass das Wort Konsensgesellschaft gern als Totschlagargument gebraucht wird, wenn jemandem, der Blödsinn erzählt, Gegenwind ins Gesicht bläst (siehe Sarrazzin). Man versucht dann, die Kritiker so dastehen zu lassen, als könnten sie keine von ihnen abweichenden Meinungen ertragen. Das ist ein blödsinnig widersprüchliches Argument, denn die Kritiker üben ja gerade ihr Recht auf Äußerung einer anderen Meinung aus, ohne den Kritisierten deswegen von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Konsens oder Befehl
Wenn es also in der Politik nicht stimmt, wie ist es in unseren Büros und im Alltag? Wie konsensgetrieben sind wir hier? Zuerst einmal kommt das auf uns selbst und die Leute an, mit denen wir uns umgeben. Ich habe bereits mit Teams gearbeitet, in denen alle versucht haben, jede Entscheidung basis-demokratisch herbeizuführen. Das hält auf und führt am Ende nicht einmal zu den besten Ergebnissen, sondern zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Ergebnis: Durchschnitt. Wir kennen auch alle die Situationen, wo der Chef einfach ansagt, was gemacht wird, ohne sich um die Ansichten der anderen zu sorgen. Das geht schnell und kann auch gute Ergebnisse liefern. Allerdings hängt alles an einem Punkt, dem Chef. Wenn der sich irrt und die falsche Entscheidung trifft, dann gibt es kein Korrektiv. Außerdem sind unsere Arbeitsanforderungen sowieso nicht mehr kompatibel mit solchen hierarchischen Entscheidungsstrategien. Wo Engagement und Kreativität gefragt sind, kann man mit dem Top-Down-Ansatz nicht viel erreichen, denn dabei schalten Leute ab und fühlen sich nicht mehr verantwortlich. Das Gegenteil ist heute von den Chefs gewünscht und trotzdem verstehen sie es oft nicht, die Bedingungen dafür zu schaffen und das antrainierte autoritäre Alpha-Männchen-Gehabe abzustellen. Mehr Konsens wäre hier gar nicht übel.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten, über Softwarestandards schon

Scheiß auf Konsens (Pompo Nelle Casse)
Fasziniert haben mich immer solche Teams, wo alle offen ihre unterschiedlichen Ideen eingebracht haben, diese diskutiert haben und sich dann ganz nüchtern auf die offensichtlich beste Idee geeinigt haben. Das geht gut, wenn es um Ideen mit objektiven Kriterien geht, also zum Beispiel bei der Software-Entwicklung. Gute Entwickler erkennen, welche Lösungen elegant, sauber und skalierbar sind. Da muss man nicht versuchen, zwischen verschiedenen Meinungen einen Konsens herzustellen. Außerdem schien mir in solchen Teams immer eine besondere Reife zu herrschen. Niemand fühlt sich auf den Schlips getreten und alle freuen sich, wenn sie gemeinsam die eleganteste Lösung für ein Problem gefunden haben. Das Gleiche ist in einem Redakteurs-Team oder unter Lektoren nicht möglich. Da wird sich ordentlich gezofft, denn jeder kann eine komplett andere Meinung über einen Text, ein Bild oder eine Sendung haben. Die Philosophen sagen: "De gustibus non est disputandum" (über Geschmack lässt sich nicht streiten). Der Volksmund sagt das Gegenteil. Und so streiten sich alle in den Redaktionen über Geschmacksfragen. Konsens ist hier unmöglich. Bei Geisteswissenschaftlern ist es dasselbe - sie streiten gern über Meinungen und Überzeugungen. Eine besondere Spezies sind Naturwissenschaftler: Sie denken je von sich, dass sie als exakte Wissenschaftler letztlich alles wissen, denn schließlich gibt es nichts als Physik, Chemie und Mathematik in unserem Universum. Um so schwerer können sie verstehen, dass ihr Kollege eine ganz andere Interpretation derselben Daten vorlegt. Wir unterschlagen gern uns selbst als wunden Punkt auf dem Weg der Wahrheitsfindung und vernachlässigen, dass wir psychischen Prozessen unterliegen, die uns qua Selbsttäuschung gern vom rechten Weg abbringen. Als Folge daraus sind wir lieber arrogant, als dass wir eingestehen, dass alles auch ganz anders sein könnte. Also auch da keine Konsensgesellschaft.

Respektgesellschaft statt Konsensgesellschaft
Tendenziell - zum Beispiel auf der Arbeit - gehen wir in eine Richtung, wo wir es wertschätzen, wenn am Ende eines Entscheidungsprozesses alle gehört wurden und zufrieden mit dem Ergebnis sind. Das muss aber mit Konsens nichts zu tun haben, sondern kann einfach ein Ausdruck gelebten Respekts sein. Ich habe sechs Jahre in einer großen US-Amerikanischen Firma gearbeitet und dort gelernt, wie essentiell Respekt ist und wie sehr er die Arbeitsleistung fördert. Man geht immer erst einmal davon aus, dass der andere den Diskurs bereichert, einen guten Vorschlag macht und Diversität mit in den Prozess bringt. In Deutschland haben wir eher Angst vor dieser Diversität. Wir müssen doch die Prozesse und Standards achten, da darf es keine Abweichung geben und irgendwie ist doch von vorn herein schon klar, wie das Ergebnis aussehen muss: Nämlich rechteckig. Da herrscht eine Abneigung gegen alles, was diese Ordnung stören und die klar definierte Zielerreichung hinauszögern könnte. Wie soll man da auf Ideen kommen? Ideen sind doch nur Abweichungen von der Norm.

Bei Hinz Wirkt! habe ich gelesen, wir müssen achtsam sein "gegenüber einem Führungsverhalten/ einer Unternehmenskultur, die immer nur etwas wegschaffen will und Reflektionsschleifen als 'Seminartourismus' diffamiert." Diese Reflektionsschleifen zu zulassen, die Mitarbeiter in die Verantwortung zu nehmen, sie anzuhören, unter einander diskutieren zu lassen, damit ein gutes Ergebnis entsteht - das ist Respekt und nicht Konsens. Und da müssen wir hin: Zur Respektgesellschaft. Zu Hause, auf der Arbeit und in der Politik.

8 Kommentare:

  1. Dieser Artikel bekommt von mir das 'wikipedia-Prädikat: besonders lesenswert'

    Ich habe bereits mit Teams gearbeitet, in denen alle versucht haben, jede Entscheidung basis-demokratisch herbeizuführen. Das hält auf und führt am Ende nicht einmal zu den besten Ergebnissen, sondern zum kleinsten gemeinsamen Nenner. Ergebnis: Durchschnitt.

    Wir kennen auch alle die Situationen, wo der Chef einfach ansagt, was gemacht wird, ohne sich um die Ansichten der anderen zu sorgen. Das geht schnell und kann auch gute Ergebnisse liefern. Allerdings hängt alles an einem Punkt, dem Chef. Wenn der sich irrt und die falsche Entscheidung trifft, dann gibt es kein Korrektiv

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  2. Ich schließe mich Erich Feldmeier an: Ein lesenswerter und inspirierender Beitrag! Respekt gehört zu einem achtsamen Miteinander wie der Deckel zum Topf, ob beruflich oder privat. Dann ist auch nicht mehr der Konsens wichtig, sondern das Ergebnis, das gemeinschaftlich getragen wird. Ich denke, das ist der springende Punkt sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft, dass sich viele Menschen nicht ernst genommen vorkommen - womöglich auch tatsächlich nicht ernst genommen werden. Unsere Kultur hat sich fortentwickelt von einer Zeit, in der Respekt = Autoriät = Unterdrückung = Nicht-ernst-genommen-werden bedeutet hat, über Kein-Respekt = autoritätslos = Nicht-ernst-nehmen zu - ja, wohin haben wir uns entwickelt? Die sog. "Konsensgesellschaft" mag eine Suche sein auf dem Weg, respektvolles Miteinander als Zeichen eines gegenseitigen Sich-Ernst-Nehmens zu entwickeln. Diese Idee fortgeführt wäre es m.E. wünschenswert, dies auch in den Schulen zu vermitteln - was für eine Gesellschaft würden wir bekommen! Klingt gut, oder?

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  3. Ich glaube, ihr beide bringt es auf den Punkt!

    Anfügen wollte ich auch noch, dass wir hier oft so einen Ehrlichkeits-Anspruch haben. Die amerikanische (angebliche) Oberflächlichkeit und Freundlichkeit verspotten wir als nicht ehrlich. Dabei ist es nur eine Tür hin zu einem respektvollen Umgang. Man ist erst einmal freundlich, weil man meint, der andere hätte etwas wertvolles beizutragen. Und selbst wenn es sich als Mist erweist, versucht man den anderen mit erhobenem Haupt aus der Situation zu entlassen und ihn nicht bloß zu stellen. In Deutschland beobachte ich oft, dieses hässliche Geradeheraus. Sich bloß nicht verstellen und jemandem etwas schenken. Oder gar jemanden mit einem Irrtum davon kommen lassen. Nein! Man muss ganz deutlich machen, dass der andere Unrecht hat und man selbst Recht. Das endet oft in respektlosen Rechthabereien und der Wahrheitsanspruch schlägt oft um in offene Arroganz. Da lob' ich mir die Amis ;)

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  4. Da lobst Du Dir die Amis... die sich eben freundlich selbst in die Tasche lügen ;) Aber ich gebe Dir vollkommen recht, Freundlichkeit hat etwas mit Respekt zu tun - darüber habe ich im Übringen noch nie so nachdacht, aber es stimmt. Nachdem ich meine, dass man die anderen in der Regel so behandelt wie sich selbst, würde das wiederum ein Hinweis darauf sein, wie wenig Selbstrespekt, oder mit einem anderen Wort gesagt "Selbstachtung" mancher doch hat... Weiterdedacht ist Nationalstolz, die Art der Selbstachtung, die sich Deutschland kang nicht gestattet hat, zusammen mit einer respektvollen Freundlichkeit ein gesellschaftlich brauchbarer Wert, womit der Kreis geschlossen würde: Das Bilden einer Respektgesellschaft. Einfach anfangen! :)

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  5. Einen gewissen Widerspruch gibt es schon. Einerseits die immer pluralistische Gesellschaft, in der allzuviele Leute nach Individualismus streben. Andererseits die Konsensgesellschaft, auf "die Masse" aus all den Individualisten aus Bequemlichkeit zurückgezieht, wenn wirklich mal eine Meinung gefordert ist oder wenn neue Impulse eine ehrliche Diskussion anregen würden, ohen reflexartig Querdenker zu verurteilen.

    Das anhören anderer Meinungen und Standpunkte eröffnen neue Blickwinkel. Dafür sollte man offen sein, um den eigenen Horizont zu erweitern. Das bedeutet natürlich nicht, andere Meinungen automatisch annehmen aber immerhin zu respektieren und anschließend Argumente auszutauschen.

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  6. Ohne Respekt könnte es aber auch keinen Konsens geben. Denn wenn ich schon vorher weiß, dass außer meiner Meinung alles andere Unsinn sein wird, fehlt es schon am Respekt an der möglichen Weisheit des Gegenüber.
    Hier hatte ich ja auch schon über die Introvertierten gehört, jene, die eher mal mit ihrer Meinung erst einmal zurückhalten, bevor sie von lauten überfahren werden. Ich hatte letztes Jahr die Gelegenheit, Alexander Tornow kennenzulernen, der mir eine Meeting-Kultur aufzeigte, die dafür sorgte, dass auch die Leisen zu Wort kommen, indem den Lauten einfach die Redezeit verkürzt wird. Hier hatte ich darüber geschrieben:
    http://www.saperionblog.com/lang/de/bpm-mit-gruppenbing-effizient-entscheidungen-in-grosen-gruppen-kommen-und-alle-stehen-dahinter/5074

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  7. Danke für den Tipp! Das klingt nach einem spannenden Konzept... Wenn auch etwas aufwendig und zeitintensiv in der Durchführung. Ich lass mir das mal noch ein paar mal im Kopf rumgehen, um Anwendungsmöglichkeiten zu finden....

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  8. Mmmh ... ich weiß ja nicht. Wäre die Respektgesellschaft nicht auch erst komplett, wenn sie gleichzeitig eine Gesellschaft der Respektlosigkeit wäre, die zu Devianz und gegenläufigen Positionen ermutigt? Das Problem ist doch, dass Gruppen immer einen Trend zur akzeptierten Meinung entwickeln und außerdem zu Nachmachen und Nachplappern, um bloß nicht aufzufallen bzw. sich rechtfertigen zu müssen. Die psychologische Empirie ist ja in kaum einem anderen Punkt so eindeutig wie bei der unglaublichen Anpassungsbereitschaft der Menschen an das, was andere vor ihnen schon gesagt oder getan haben. Das zeigt sich auch beim Thema "Schwarmintelligenz", die dann funktioniert, wenn jeder einzelne unabhängig von anderen sein Urteil abgibt, und sofort zu dummen Herdenverhalten führt, wenn die Menschen die Meinungen anderer schon kennen und beobachten. "Respekt" ist so nur der gemütliche und notwendige Teil einer Diskursethik, garantiert aber für nichts, außer dass die Streitlust eingedämmt wird und die gefährliche (jawoll, durchaus) Zustimmungsbereitschaft gesteigert wird. Insofern braucht man auch die "Respektlosigkeit", die man vielleicht am "sanftesten" bekommt, wenn man sie als "Fragegesellschaft" definiert - eine Gesellschaft, die nie aufhört sich und anderen Fragen zu stellen: Stimmt das denn alles so? Haben wir alles bedacht? Fehlen uns wichtige Informationen? Gilt das für alle Fälle? Was würden Sie sagen, wenn ich ganz anderer Meinung als Sie wäre? Etc. ad infinitum. Das beste Diskursinstrument ist und bleibt die Frage - und in dieser Hinsicht sollte man vor nichts und niemandem Respekt haben. Und mit einem Konsens nur so weit zufrieden sein, wie er Fragen und Zweifeln standhält.
    Noch eine Wort zur angeblichen "Konsensgesellschaft": Dass dieser Begriff wenig analytische Qualität hat, sieht man vielleicht dann am besten, wenn man den heute praktizierten und möglichen Pluralismus mit früheren Zeiten vergleicht. Im Groben und Ganzen geht der Trend dahin, die bloß subjektiven Glaubensaussagen von intersubjektiv begründbaren Feststellungen und Argumenten zu trennen und den öffentlichen Streit auf das zu konzentrieren, was nachprüfbar ist. Einer wie Sarrazin bunkert daher seine subjektive Meinung in "Zahlen und Fakten" ein - und der respektable Teil der Debatte dreht sich dann immer darum, wie weit die Fakten stimmen und ob sie tatsächlich die Meinung Sarrazins stützen. Ob er sich für den - in meinen Augen - abwegigen Teil seiner Meinung gleich nichts als öffentliche Ächtung zuziehen muss, weiß ich allerdings auch nicht. Diskurspsychologisch scheint es immer produktiver zu sein, sich selbst mit den größten Scheusalen vernünftig zu unterhalten, jedenfalls solange sie sich darauf einlassen. Wenn Vernü nftigkeit der Vernunft nicht mehr hilft, bleibt möglicherweise nur noch Lächeln und Humor ;) (Einen bösen Gegner anlächeln, ist die größte Respektlosigkeit.)

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