3. Oktober 2012

Kritik der vernetzten Vernunft

Philosophie (nicht nur) für Netzbewohner

Philosophie für
Netzbewohner
Großartig, dachte ich: Ein philosophisches Buch über das Netz und was es mit uns Menschen macht und was wir mit ihm machen können: Kritik der vernetzten Vernunft: Philosophie für Netzbewohner von Jörg Friedrich. Ein Buch für mich, für den Netzbewohner. Solche Themen machen mich neugierig.

Erst einmal musste ich mich jedoch in Geduld üben, denn die ersten knapp 60 Seiten lesen sich wie ein Lehrbuch zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, immer entlang gehangelt an Kant, manchmal im Stile der Meditationen von Descartes (19 f., 34 f.), aber immerhin klar und interessant geschrieben und anhand alltäglicher Beispiele und Metaphern erklärt. Es wird deutlich, das Jörg Friedrich eine verlässliche Basis für sein Thema Vernetzte Vernunft mithilfe von exakten Definitionen legen möchte. Über das Wissen schreibt er beispielsweise:
"Wissen gibt es gar nicht, es gibt nur Überzeugungen. Die Idee des Wissens ist nur eine Konstruktion, die im Grunde nicht gebraucht wird. In der Philosophie gibt es eine alte Definition von »Wissen«, es sei »wahre gerechtfertigte Überzeugung«." (7)
Das ist analytisch und doch intuitiv verständlich und klar ausgedrückt. Aber was ist für uns eine gerechtfertigte Überzeugung? Bei der Gelegenheit erklärt Friedrich gleich noch die Korrespondenztheorie der Wahrheit, nämlich dass wir das für wahr halten, was "widerspruchslos in mein Überzeugungssystem passt" (13). Aber wozu das alles? Friedrich nimmt langen Anlauf, um den Sprung rüber zur Technik zu finden: "Wissen heißt: der Technik vertrauen" (15), ist ein Kapitel überschrieben. Technik "ist immer eine eine Verbindung zwischen Mensch, Werkzeug und Verfahren" (16).
"Die Frage von Kant, was ich wissen kann, bekommt nun plötzlich eine neue Bedeutung: Bisher hatte ich mit ihr danach gefragt, was mir zu wissen möglich ist, wie sicher mein Wissen ist. Über die Technik, die zum Erlangen des Wissens notwendig ist, kommt nun aber plötzlich das Können selbst ins Spiel, die Frage, ob die Technik und die Techniken (die Verfahren), die Voraussetzung für das Wissen sind, auch gekonnt beherrscht werden." (16)
Friedrich bringt das Beispiel einer Wetter-App seines Smartphones, der er glaube, dass sie korrekte Temperaturangaben mache. Hier hängt nun unser Wissen eben nicht nur von unserem Können ab, die Technik zur Wissensaneignung zu beherrschen, sondern wir müssen uns auf das Funktionieren eines unüberschaubaren Netzwerks von Programmierern, Messstationen und Datenverarbeitungen verlassen:
"Die Vernunft, die sich auf ein solches Netzwerk stützt und dabei ein Netz von Überzeugungen knüpft, die sich gegenseitig unterstützen, sodass sie für Wissen gehalten werden können, werde ich im Folgenden als vernetzte Vernunft bezeichnen." (18)
Mit anderen Worten, wir beherrschen zum Teil die Technik zur Wissensaneignung und vertrauen anderen, dass sie ihre Technik beherrschen und dieses Vertrauen reicht uns oft genug aus, von Wissen zu sprechen, wo wir eigentlich nur glauben können. Überhaupt, so stellt Friedrich analytisch dar, ist alles ein Fließen zwischen Glauben, Wissen, Unwissen und Zweifel und immer kommt es uns auf das Vertrauen in die Quelle und die Kohärenz, also die "Plausibilität des gesamten Gewebes" (47) an. Das damit die Verlässlichkeit unseres Wissens auf tönernen Füßen steht, mag die Quintessenz der ersten Hälfte des Buches gewesen sein. Das hätte man für meinen Geschmack auch etwas knapper und straffer herleiten können. Philosophisch vorgebildeten empfehle ich deshalb, die erste Hälfte zu überfliegen und mit dem Kapitel Was tun? (61) einzusteigen, aber auch dort noch zügig querzulesen.

Denn hier geht es zunächst weiter mit Begriffsklärungen: Kultur, Natur und Wildnis werden ebenso wie Realität, Wirklichkeit und Welt differenziert. Heraus kommen wieder klare und plausible Eingrenzungen wie zum Beispiel: "Kultur können wir als den regelmäßigen Eingriff von Menschen in die Realität betrachten, sodass Wirklichkeit entsteht, die mit einer Welt zusammenpasst" (71). "Dabei verstehen wir Welt als die Vorstellung, das Verständnis, das der Mensch von der Realität hat. Wirklichkeit ist der Ausschnitt der Realität, auf die das Handeln des Menschen Auswirkungen hat und deren Prozesse umgekehrt auf den Menschen wirken" (78). Oder: "Natur ist das, was herauskommt, wenn die Wildnis zugänglich, beobachtbar, verständlich gemacht worden ist" (67). Zwischendurch findet man noch kleine Juwelen wie etwa: "Die Sehnsucht nach der Natur ist nichts anderes als der Wunsch nach Erholung von den vielen Stolperfallen, die mir die Wirklichkeit bereitet und auf die mich meine Welt nicht vorbereitet hat" (69).

Friedrich kommt hier zurück zum eigentlichen Thema und stellt noch einmal klar (es ist in der vorgenannten Definition bereits implizit enthalten), dass die kulturelle Wirklichkeit die Domäne der vernetzten Vernunft ist und die Wildnis - also das unerschlossene und nicht geformte - eine Art Jenseits dieser vernetzten Vernunft ist, regellos, unverstanden, nicht verlässlich. Dazwischen gibt es unsere Sehnsuchtssphäre der Natürlichkeit, beispielhaft erklärt am natürlichen Verhalten:
"Auch im menschlichen Verhalten ist Natürlichkeit das Ziel der Sehnsucht, die darin besteht zu hoffen, dass ein regelgerechtes Verhalten ohne Mühe, ohne Lernen und ohne Schmerzen möglich sein müsste und dass auch in der Unvorhersehbarkeit des Verhaltens die Möglichkeit eines Zurecht-Kommens, eines Ans-Ziel-Kommens besteht." (75)
Philosophie für Netzbewohner?
Immer noch rutscht der nach neuen philosophischen Erkenntnissen zur Netzkultur oder -soziologie gierige Leser auf seinem Stuhl herum. Die erste Hälfte des Buches ist durchgelesen und noch immer ist nichts zu ahnen von der versprochenen Philosophie für Netzbewohner. Dann geht es zögerlich los mit einem Vergleich: "Die Trolle sind das »Unkraut« des Internets" (81), also die Elemente, die aus der herrschenden Ordnungsstruktur des nützlichen und guten hinausfallen. En passant kann man hier nicht nur etwas über Online-Communitys lernen, sondern auch immer wieder das eine oder andere Detail zur Datenübertragung und -speicherung aufschnappen. Friedrich entwirft hier ganz undramatisch kulturtheoretische Leitplanken, um die gegenwärtigen technischen Entwicklungen einzuordnen und auf der Basis bereits bekannter Kulturtechniken zu verstehen. Interessant ist zum Beispiel die Feststellung, dass die Regeln für solche Communitys - analog zu anderen gesellschaftlichen Domänen - nicht in ihrem Handeln und Kommunizieren selbst festgelegt werden, "sondern in gesonderten politischen Institutionen" (93), was im Moment heißt, dass sie keine demokratischen Gemeinschaften sind. Immer wieder unterbrochen werden diese langsam Fahrt aufnehmenden Überlegungen für Netzbewohner durch allgmeingültige und manchmal langatmige soziologische Erklärungen (Kultur und Politik oder Handeln nach Gesetzen), die uns auf das Verständnis der Online-Welt vorbereiten sollen. Lang und breit erklärt werden auch Tatsachen wie die, dass die Ausdrucksmöglichkeiten in Online-Comunitys beschränkt seien. Man könnte entgegnen, dass das prinzipiell für jede Kommunikation gilt und bei Übertragungstechniken wie Brieftauben, Morse oder Telefonaten sogar noch restriktiver ist, es sich also nicht um eine Besonderheit der Online-Kommunikation handelt. Ebenso zu lang geraten, finde ich die anschließenden Ausführungen über den Willen, die Handlungsfreiheit und Notwendigkeiten, die alle zwar gut formuliert sind, aber so allgemeingültig bleiben, dass sich dem Leser die Verbindung zum vom Untertitel versprochenen Thema nicht erschließt.

Politisches Handeln in einer vernetzten Welt
Als es schließlich um Organisation im politischen Handeln geht, stößt Friedrich direkt und ohne weitere Umwege ins Thema vor: Vor dem Internet war politisches Handeln (wenn man Terrorismus und andere subversive APO-Aktionen ausklammert) für den einzelnen mühsam und langwierig, denn es galt sich in die Strukturen von Organisationen einzupassen und gemeinsam an einem Strang zu ziehen, dem im günstigsten Fall ein kleinster gemeinsamer Nenner zugrunde lag. "Die Vernetzung und die mobile Online-Kommunikation versprechen gegenwärtig, diesem Problem abzuhelfen":
"Grundsätzlich schaffen sie die Möglichkeit, die Struktur des geplant aufgebauten Seils durch die eines Gewebes zu ersetzen, in welches jeder Teilnehmer neue Fäden und Verbindungen in jede Richtung und auf nahezu beliebige Entfernung hineinweben kann. Was so entsteht, gleicht wiederum keinem symmetrischen oder gleichmäßigen Netz, sondern [...] es wird zum Geflecht, zum Dickicht, zum Vlies oder Filz. Es ist kein Net, sondern ein Web." (113)
Durch die Dynamik und Flexibilität des Webs bzw. der vernetzten Vernunft und die Abwesenheit von Hierarchien, Autoritäten und Ordnungen, so Friedrich, komme es zu einer Richtungslosigkeit, mit der man die Gesellschaft nicht bewegen könne. Schlimmer noch:
"Ein Netz, das sich zum Geflecht und schließlich zum Filz verdichtet, hat auch eine stabilisierende Wirkung auf bestehende Strukturen. Es ist ein elastischer Boden, der Stöße und Zugkräfte in alle Richtungen verteilt und nach ein paar Schwingungen wieder zur Ruhe kommt, weil er die Energie des Impulses absorbiert und in Reibungswärme umgewandelt hat." (114)
Das ist wieder eine der ziemlich intuitiv-plausiblen Metaphern, die Friedrich hier aus der Physik in die Gesellschaft überträgt. Aber geht das? Einer Gesellschaft liegen ganz andere Komplexitäten zugrunde, als einem physikalischen System. Zum Beispiel mag es sein, dass Online-Communitys kaum die Wirklichkeit in eine Richtung hin verändern. Aber ist das nicht sowieso ein Denken aus einer Klassengesellschaft? Muss heute eine Kommune noch die Gesellschaft verändern? Vielleicht kommt es jetzt wieder mehr denn je darauf an, dass sich aus den Einzelinteressen von Individuen letztlich die großen Zusammenhänge ändern, ohne dass es einer ruckartigen gesellschaftlichen Umwälzung bedarf. Ein Beispiel: Informationen über miese Geschäftspraktiken oder Umweltverschmutzungen, Korruption und Ausbeutungen sind heute dank des Internets, dank seiner Blogger und Datenbanken wie Wiki Leaks so zugänglich wie noch nie zuvor. Hierdurch entsteht ein Druck auf Organisationen, sich ethisch und nachhaltig zu verhalten. Das schlägt bereits in "vorauseilenden Gehorsam" um und führt zum Trend der Green Industry, weil Firmen erwarten, dass ihnen daraus ein Wettbewerbsvorteil entsteht. Vielleicht sind es diese Veränderungen, die unsere Zukunft sicher stellen.

Ein anderes, diesmal aus der Psychologie bekanntes, Argument - das sich des Phänomens der confirmation bias bedient - soll unsere Zweifel an der Eignung des Webs für das politische Handeln zementieren:
"Blogs, Twitter-Meldungen und Kommunikationsstrukturen in den sozialen Netzwerken dienen zumeist dem puren Meinungsaustausch, zum großen Teil sogar nur der Meinungsäußerung und dem Beipflichten und Bestätigen der eigenen Meinung durch partiell Gleichgesinnte. Auf dieser Ebene erreicht die Kommunikation in Online-Gemeinschaften keine andere Qualität als die seit Jahrhunderten existierende Zeitungslandschaft: So wie dort jeder politisch interessierte Bürger nach ein paar Versuchen diejenige Zeitung ausgewählt und abonniert hat, die mit seiner eigenen Meinung am besten übereinstimmt, abonniert hier der Online-Bürger ein paar Blog-Autoren und Twitter-Accounts, von denen er immer wieder Bestätigungen für seine eigenen Urteile und Meinungen erhält." (115 f.)
Zum einen finde ich, dass Friedrich hier das Individuum ganz generell unterschätzt und somit weder dem Zeitungskäufer der letzten Jahrhunderte (wie wir wissen, lesen viele politisch Interessierte die BILD, gerade weil diese Zeitung ihrer Meinung in den meisten Fällen entgegensteht), als auch den modernen Blog-Leser. Es liegt nämlich tatsächlich im Ermessen jeder einzelnen Person, ob sie selektiv nur liest, was sie in ihren Urteilen bestätigt oder versucht darüber hinaus zu schauen. Zum anderen wird hier ein ganz wichtiger Aspekt vernachlässigt: die Produktion. Blogs, Twitter, Google Plus etc. sind nicht nur Rezeptionskanäle, sondern auch Produktionskanäle, Sender statt nur Empfänger. Das ist schon ein fundamentaler Unterschied, indem das Web, anders als die herkömmliche Presse, heute jedem ermöglicht an gesellschaftlichem Diskurs auch produktiv teilzunehmen. 

Friedrich argumentiert weiter, dass der Online-Welt das Leibliche fehle, also die Übertragung der Online-Aktion in wirkliche Veränderung, Wirklichkeitsveränderung. Man könnte dagegen halten, dass man das auf einem individuellen Level gar nicht überprüfen kann. Meine Frau liest online Rezepte und kocht diese dann zu Hause nach. Das übersetzt sich für mich in absolute Körperlichkeit. Die Online-Aktion wird hier in Wirklichkeit umgesetzt. Warum soll das nicht mit politischen Gedanken gehen. Beispiel Minimalismus: Das war ein Hype unter Bloggern im letzten Jahr. Inzwischen wird darüber nicht mehr so viel geschrieben, aber viele Leute leben heute danach. Sie konzentrieren sich aufs für sie Wesentliche, besitzen weniger und haben weniger Verpflichtungen, aber dafür mehr Zeit, leben umweltverträglicher usw. Natürlich wird sich daraus auch kein Klassenkampf entwickeln. Aber wer denkt, dass Wirklichkeitsveränderung nur durch konzertierte Aktionen vieler Tausender Menschen stattfindet, blendet das Private aus. Und war das Private nicht politisch?

Viele mögen von ihrer Politik und Industrie im Privaten mehr Transparenz erwarten, ohne dafür je demonstrieren zu gehen. Diese Erwartungen werden dennoch erfüllt werden müssen, sobald ausreichend viele diese Erwartungen haben und danach wählen und konsumieren. Genau für solche Bewusstseinsbildung ist das Web, ganz im Gegensatz zur herkömmlichen Presse, ein idealer Inkubator.  Die Gefahr der confirmation bias besteht natürlich und somit auch die Gefahr der Selbstüberschätzung. Es kommt aber darauf an, diese Gefahr zu kennen und gegenzusteuern.

Friedrich hat jedoch etwas anderes vor Augen, er meint politische Aktion im herkömmlichen Sinne, für die das Web ihm noch nicht reif erscheint. Gut gefällt mir, dass Friedrich für die von ihm diagnostizierten Probleme Lösungsvorschläge bietet:
"Es ist also notwendig, innerhalb der Webgemeinschaft eine neue Kultur zu entwickeln, eine, in der es selbstverständlich ist, spontan und auf Zeit und auf bestimmten Feldern zusammenzuarbeiten, und die Formen und Gruppen, in denen die Zusammenarbeit stattfindet, eben je nach Feld und konkreter Situation auch zu wechseln. Auf der anderen Seite gilt es diese neue Kultur an die gegebenen Traditionen anzuschließen, den bisherigen Regeln auch zu gehorchen, die alten Spiele mitzuspielen." (122)
Eine weitere Schwäche der vernetzten Vernunft sei, dass sie gerne den Bahnen ihres Netzes folge, anstatt aus ihnen auszubrechen und neue Wege zu beschreiten. Aber auch hier macht uns Friedrich Hoffnung:
"Die vernetzte Vernunft hofft immer, zu einer Weggabelung unterwegs zu sein, an der sie sich wieder zwischen zwei Wegen entscheiden kann. Wenn solche Gabelungen ausbleiben oder wenn Abzweigungen durch »gute Gründe«, durch rationale Erwägungen, durch Kosten-Nutzen-Kalkulationen und Chancen-Risiken-Berechnungen verstellt zu sein scheinen, verliert die vernetzte Vernunft ihre Hoffnungsfähigkeit. Dann wächst der Wunsch nach dem radikalen Aufbruch, sei es für den einzelnen Menschen oder sei es für die Gesellschaft als Ganzes." (150)
Auch Angela Merkels Alternativlosigkeit, die ja bisher kein Aufruf zum Aufbruch, sondern einer zum Festhalten war, könnte hiermit geholfen werden. Der Amerikaner sagt: "Think outside the box!" Neue Wege entdecken oder erst einmal Spuren legen - man nennt das Kreativität - das scheint auch Friedrich der vernetzten Vernunft zu empfehlen. 

"Der Mensch ist das Wesen, das philosophiert"
Im Schlusskapitel wird Friedrich dann noch einmal ganz allgemein anthropologisch und fragt: "Was ist der Mensch?" Jedenfalls als Individuum nicht vernünftig, jedoch bilde sich die Vernunft zwischen den Menschen als vernetzte Vernunft:
"Wir haben gesehen, dass die vernetzte Vernunft nichts ist, was sich erst in den letzten Jahrzehnten neu gebildet hätte. Aber durch das Internet und die mobile Kommunikation ist sie auf neue Weise prägend geworden für alle Formen der Begründung, für alle Antworten auf die Fragen nach dem Warum. Wir werfen Netze aus Begriffen über die Realität, schaffen damit Wirklichkeit und bilden uns gleichzeitig aus diesem Netz unsere Welt. Die Welt unserer Begriffe, mit der wir die Wirklichkeit verstehen, prägt sich als Netzstruktur dieser Wirklichkeit ein – deshalb passen Welt und Wirklichkeit so gut zusammen." (160)
Der Ausbruch aus diesem Netz gehört genauso dazu, wie das vernünftige Folgen der Bahnen dieser Netze. Und an diesem Punkt, so verstehe ich Friedrich, wird das Buch wichtig: Es ruft uns auf, sich nicht auf die vernünftig geprägten Bahnen zu verlassen, sondern unsere innere Wildnis, das Chaos zuzulassen und kreativ zu nutzen, um völlig neue Netze zu knüpfen. Inwiefern das allerdings heute für "Netzbewohner" wichtiger sein sollte, als für den modernen Menschen seit der Renaissance, erschließt sich mir nicht.

Laut Index kommt das Wort Internet acht mal im Text vor, online drei mal, Facebook ein mal und Google gar nicht. Man kann also vermuten, dass "Philosophie für Netzbewohner" ein Griff in die Marketing-Trickkiste des Verlags war, um dieses Buch an den netzaffinen Heise-Menschen (es ist ein TELEPOLIS-Buch) zu bringen. Ich denke, dass es auf jeden Fall etwas für den Heise-Menschen und jeden anderen ist, der Lust am Philosophieren hat und sehen will, wie sich Metaphysik heute erklären lässt. Denn das kann Jörg Friedrich wirklich gut. Nur sollte man nicht erwarten, dass es speziell für Netzbewohner geschrieben ist.


Jörg Friedrich: Kritik der vernetzten Vernunft: Philosophie für Netzbewohner, 2012 Heise Zeitschriften Verlag GmbH & Co KG, Hannover, ISBN 978-3-936931-78-5 (auch als Kindle-Version erhältlich)

2 Kommentare:

  1. Danke für die ausführliche und sehr intensive Auseinandersetzung mit meinem Buch. Ich werde dazu in den nächsten Tagen auf meiner Webseite noch im Einzelnen Stellung nehmen. Jetzt ist mir aber schon eines wichtig: Es gibt noch mehr Netze als nur das Internet, in denen sich die vernetzte Vernunft bewegt, und sie ist auch älter als das Internet. Die vernetzte Vernunft ist nicht entstanden, weil es das Internet gibt, sie ist nicht Folge des Internet, sondern Voraussetzung: Weil die Vernunft sich vernetzt, braucht sie so etwas wie das Internet und die Online-Netzwerke.

    Das ist der Grund dafür, warum es in der "Kritik der vernetzten Vernunft" letztlich nur am Rande um das Internet geht. Es geht ja um die Strukturen der Voraussetzungen, auf denen das Internet letztlich aufbaut.

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    1. Mir gefällt wirklich, wie Sie das Netz zwischen allen Knoten (Servern, Menschen etc.) aufspannen. Das finde ich ein sehr überzeugendes Bild, vielleicht sogar mehr als dass, denn dass Vernunft, Geist, Liebe, aber auch ihre Gegenteile stets auf die Lücke, das Dazwischen, den Hiatus angewiesen sind, erscheint mir in dieser etwas digital gedachten Welt evident. Wie das in einem eher holistisch-pantheistischen Weltbild interpretiert werden könnte, weiß ich jetzt nicht so genau (hat das "Alles-ist-Eins" eine Lücke?).

      Zu meinem eher nebensächlichen Kritikpunkt: Das Problem das sich für den Leser auftut, der den Untertitel ernst nimmt, ist lediglich eine Enttäuschung der Erwartungshaltung. In Ihrem Text merkt man sehr wohl, dass es ihnen nur am Rande um das Internet geht, ansonsten wären Ihre erkenntnistheoretischen Darlegungen nicht so ausführlich, sondern würden vorausgesetzt. Insofern ist es etwas unlauter, den Leser mit dem Untertitel "Philosophie für Netzbewohner" in eine Erwartungsspannung zu versetzen, die dann nicht eingelöst werden kann. Aber ich weiß auch, wie Verlage arbeiten, vielleicht hätten Sie selbst gar nicht auf diesen Untertitel bestanden?

      Wenn es dann doch ums (Inter-)Netz geht, dann fand ich Ihre Vorbehalte nicht überzeugend, vielleicht weil ihnen auch nicht genügend Platz und Zeit im Buch eingeräumt wurden, um sie auszuführen. Wie in meinem Artikel gesagt, treffen ihre Vorbehalte sicher zu, aber nicht systematisch, sondern lediglich abhängig davon, was Leute mit Medien machen (z.B. sich selbst nur bestätigen oder es nicht ins Leibliche zu übertragen). Sie sind da in einer kulturpessimistischen Tradition, die generell das Individuum und seine Fähigkeiten unterschätzt, weil sie auf "die Masse" blickt und dabei jeden Mut und jeden Glauben ans Gute im Menschen verliert. Aber das sind alles keine spezifisch auf Internet zutreffenden Einwände, sondern treffen jede (besonders aber Medien-) Technik. Man kann aber aus diesen Einwänden einen Aufruf ableiten und das gefällt mir nun wieder.

      Daher mein Fazit: Es [das Buch] ruft uns auf, sich nicht auf die vernünftig geprägten Bahnen zu verlassen, sondern unsere innere Wildnis, das Chaos zuzulassen und kreativ zu nutzen, um völlig neue Netze zu knüpfen. Inwiefern das allerdings heute für "Netzbewohner" wichtiger sein sollte, als für den modernen Menschen seit der Renaissance, erschließt sich mir nicht.

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