11. Januar 2020

Im Hier und Jetzt leben!

Was ist das Problem mit dieser gutgemeinten Aufforderung?

Gestern Abend rief Dominik vom Deutschlandfunk Nova an und fragte mich, was ich von solchen Aufforderungen, wir müssten wieder mehr im "Hier und Jetzt" leben, hielte.



Ich verstehe schon, was damit gemeint ist: Weniger Ablenkung, weniger Notification, einfach mal den Augenblick genießen. Nur gibt es damit einige Probleme, wenn man solche eigentlich ganz selbsstverständlichen Dinge so hyped und verabsolutiert. Beispielsweise diese hier:

  1. Das ist ja schon wieder eine Aufforderung, die gar nicht so leicht umzusetzen ist und gerade dadurch auch schon wieder Druck erzeugt: "Jetzt leb doch endlich mal im Hier und Jetzt! Kannst du das etwa nicht? Was stimmt denn mit dir nicht?"
  2. Es ist eine Fluchbewegung und wie alle solche Fluchtbewegungen, löst sie Probleme aus, sie hinterlässt Wüsten und macht die Flüchtenden schutzlos gegenüber "Menschenfängern" oder Schleppern.
  3. Die Fähigkeit, nicht im Hier und Jetzt zu leben, ist eine sehr wertvolle Fähigkeit, die uns Menschen auszeichnet und von den meisten anderen Lebewesen, die nämlich weder weit zurück in die Geschichte schauen, noch ihr Leben in die Zukunft entwerfen und planen.

1. Der Hype vom Hier und Jetzt

Möglicherweise setzt uns diese Aufforderung, im Hier und Jetzt zu leben unnötig unter Druck. Wenn man weiß, was gemeint ist – und da fängt es ja schon an: Was soll das sein, das Hier und Jetzt? – und wie man dort hin kommt, kann man es ja versuchen. Und wenn man es versucht, dann gelingt es vielleicht gar nicht oder wir wissen gar nicht, ob es uns gelungen ist. Oder es gelingt uns nur hin und wieder für kurze Momente. Das kann ziemlich unbefriedigend sein.

Vielleicht wäre auch in dieser Sache ein bisschen Normalität angebracht: Wir Menschen erinnern uns nun mal gern an etwas, denken mit Sorge oder Vorfreude an die Zukunft oder lassen uns gern mal vom Augenblick ablenken. Und das ist alles ganz normal, menschlich. Ebenso normal ist es, dass wir Zeitspannen haben, in denen wir uns konzentrieren, in denen wir ganz im Erlebnis eines Momentes aufgehen oder in denen wir die Natur, ein Konzert oder unser Essen mit allen Sinnen aufmerksam genießen.

Ich weiß schon, dass der Hype ja genau das meint: Aufpassen, dass diese Momente der Aufmerksamkeit noch stattfinden und dass wir uns nicht hin und her reißen lassen von diesem Überangebot an Information, an Notifications und Social Media. Das ist ja alles richtig, aber bitte nicht so tun, als sei das irgendwie eine Revolution. Wir Menschen brauchen das alles: Ablenkung, Konzentration, Genuss, Gemeinschaft.

2. Die Fluchtbewegung

Im Zusammenhang mit solchen Ideen wie "Hier und Jetzt", "Achtsamkeit" oder gar "Hygge" steht immer auch eine gewisse Regression, und ein Rückzug. Im Grunde sagt es doch: Finde dein Glück bei dir selbst, im Innern, im Rückzug, in der Stille, abseits der Gesellschaft.

Das kann ja auch nicht schaden, wenn man diesen Rückzug ab und an vollzieht. Der ist sogar nötig, damit man nicht durchdreht. Dennoch: Wenn diese Fluchtbewegungen Symptome gesellschaftlicher Probleme sind, dann lösen wir diese Probleme eben gerade nicht dadurch, dass wir uns ausklinken. Vielmehr müssten wir uns den Zumutungen aussetzen und sie umprogrammieren (dazu gibt es sogar eine moderne philosophische Strömung – den Akzelerationismus). Die Gesellschaft zum Besseren wenden kann ich nicht, wenn ich meditiere oder den Rückzug in mich selbst antrete. Man könnte also sagen, dass solche individuellen Fluchtbewegungen immer sehr egoistisch sind und keine außer vielleicht die eigenen Probleme vorübergehend lindern können.

Flüchtende hinterlassen notgedrungen immer solche Wüsten, also Gebiete, die sie nicht mehr kultivieren können, weil sie sich von dort zurückziehen. Im schlimmsten Fall geraten sie in die Fänge von Schleppern, die ihnen ein besseres Leben nach der Flucht versprechen. Auf die von der modernen Welt Übeforderten warten im besten Fall diverse Heilpraktiker, im schlimmeren Fall die Esoterik und der reaktionäre Populismus.

3. Was ist der Mensch?

Der Mensch ist das Tier, das nicht im Hier und Jetzt lebt, könnte man sagen. Geschichtsverständnis und Vorausplanen zeichnen uns Menschen aus. Kein anderes Tier erinnert sich daran, wie die Aussaat von Getreide in den letzten Jahren funktioniert hat und was es heute tun muss, dass auch die nächste Saat im kommenden Jahr wieder Ertrag bringt. Ein Tier, das im Hier und Jetzt lebt, frisst alle Samen auf und zieht weiter, wenn es satt ist. Oder es versteckt übrig gebliebene Samen in der Gegend, um im Winter mehr oder weniger zufällig etwas zu Essen zu finden. Kein Tier aber pflanzt die Samen in der Hoffnung, dass daraus Pflanzen wachsen, die dann wieder genau dieselben Samen nur in potenzierten Mengen produzieren.

Alles was ich damit sagen möchte: Nicht im Hier und Jetzt zu leben, hat einen schlechten Ruf, obwohl es eine der wenigen großen Vorzüge des Menschen gegenüber anderen Tieren ist und uns in die Lage versetzt, überhaupt ein Leben zu führen, anstatt nur zu leben. Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir uns wieder mal für missraten halten, weil wir nicht im Hier und Jetzt leben.

Hier kann  man den ganzen Beitrag von Radio Nova nachhören: Im Hier und Jetzt leben. Was es uns wirklich bringt.




Das passt dazu:

7 Kommentare:

  1. Hallo Gilbert!

    das "Hier und Jetzt" ist so eine Art Hype, den ich vor etwa 10 Jahren auch gut fand.
    Klar, zur Ruhe kommen zu können, nachzudenken, auf seine Empfindungen und Gefühle zu achten, das ist wichtig und unabdingbar, um zu wissen wer man ist, was einen umtreibt und was vielleicht gerade schiefläuft.

    Generell missfällt mir der Gegensatz Mensch - Tier. Vielleicht durch meine Insektenfotografie angeregt und durch Recherchen, finde ich Insekten nicht als schlicht. Man kann ihnen sicher ein rudimentäres Bewusstsein zuordnen. Sie müssen Bilder haben, um zu beurteilen, was vor sich geht. Mit 1 Million plus Neuronen ist so etwas abbildbar.

    Ich finde auch "Esoterik" nicht ganz so schlimm, wenn gleich ich mich natürlich auch vor manchem da in Acht nehme.

    Boxen wirst Du wohl primär, um a)fit zu bleiben und b) Dich zu spüren.
    Sport kann das ja, man gerät da in einen intensivierten Austausch mit sich selbst.

    Gerhard

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    1. Hallo Gerhard,

      danke für deinen Kommentar!

      Sehe ich vieles ähnlich. Ich finde Tiere auch nicht "schlicht", sondern habe nur hervorgehoben, dass andere Tiere nicht in dem Ausmaß wie die Spezies Mensch plant oder in der Vergangenheit "schwelgt". Ist das soweit Konsens oder hast du da eine andere Auffassung?

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  2. Selbstverständlich nicht :-)

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  3. Lieber Gilbert,
    ich habe diesen Blog schon vor einiger Zeit liebgewonnen, weil du es immer wieder gut verstehst, oft allzu unbedacht hingeworfene, allgegenwärtige Losungen gekonnt zu hinterfragen, so auch hier mit dem "Leben im Hier und Jetzt".

    Ich finde es sehr gut, zu diesem Hype auch kritische Stimmen wie diese zu lesen, vor allem, da du zurecht daran erinnerst, dass er eigentlich der ureigensten menschlichen Natur zuwiderläuft.

    Ich fand diesen Satz von dir in der Radiosendung sehr bezeichnend, wo du gesagt hast, dass Stress ja eigentlich auch eine extreme Form des Lebens im Hier und Jetzt sei. Das hat mich an etwas denken lassen, das mit diesem Hype auch zu tun hat.

    Vielleicht ist es nämlich tatsächlich so, wie ich es schon in manchen linken Blättern gelesen habe, dass dieser Kult ums Hier und Jetzt eigentlich eine Verklärung der zunehmend prekären Lebensumstände darstellt, in dem immer mehr Menschen leben.
    Denn letztlich leben Menschen in Armut seit eh und je so, dass sie im Hier und Jetzt leben, besser, als es manche mittelständische Achtsamkeitsprediger je tun könnten. Nur empfinden arme Menschen das meist eben nicht als befreiend, sondern als Tyrannei des Augenblicks, weil sie nicht wissen, was morgen sein soll, deshalb nichts planen und sich erst recht nicht Gedanken um die Zukunft der Gesellschaft machen können, weil man das ja schon für die eigene nicht tun kann.

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    1. Lieber Alexander, vielen Dank für deinen Kommentar und das Kompliment. Freut mich sehr, so etwas zu lesen, denn auf der anderen Seite des Blogs habe ich ja immer das Gefühl, fast nur für mich allein zu schreiben.

      Das mit der Verklärung der prekären Lebensumstände und der Tyrannei des Augenblicks ist interessant. Wenn man nicht weiß, was morgen ist, dann heißt das aber auch nicht, dass man im Hier und Jetzt lebt. Schließlich könnte man in ständiger Erwartung des Negativen oder des morgigen Mangels leben. Nicht zu wissen, was morgen ist, kann ein Leben im Hier und Jetzt geradezu verhindern. Wenn man das Grundvertrauen ins Morgen hat und generell sorglos lebt, dann kann man natürlich auch trotz des Nichtwissens gut im Hier und Jetzt leben.

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  4. Das "Problem" sehe ich in der Bewertung durch das Individuum selbst, aber auch das wird es aushalten (müssen).Ich zB. lebe gern in den Vergangenheiten.

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  5. Na das ist ja mal eine super Erkenntnis!

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