15. Oktober 2025

Bewusstseinsphilosophie auf der Yogamatte

Atmen und zu Bewusstsein kommen

Ich komme gerade von meinem zweiten Yoga Retreat dieses Jahr zurück. Zuvor hatte ich noch nie Yoga gemacht. Ich war einfach neugierig und schon nach dem ersten Retreat stand fest, dass ich das weiter verfolgen werde. Denn neben der körperlichen Wohltat, hat mir das konzentrierte Atmen, Dehnen und Ruhen auch mental gut getan. Von den Begegnungen mit anderen interessanten Yogis ganz zu schweigen.

Als ich zum Ende einer Session so entspannt auf der Matte lag und die Yogalehrerin meinte, ich solle meinen Geist leeren, wurde ich philosophisch neugierig. Das stand dem Ziel der Übung (ein leeres Bewusstsein) ganz entgegen. Um meinen Geist zu leeren, solle ich auf meinen Atem achten. Das ist natürlich selbst etwas widersprüchlich, dachte ich, denn wenn ich auf meinen Atem achte, ist ja genau das das Objekt meines Bewusstseins. Und dann ist es nicht leer. Aber ich wollte nicht kleinlich sein, denn es ging ja um eine Übung und da braucht man manchmal Krücken.

Später dann schien mir das Reden von einem leeren Bewusstsein noch rätselhafter, ja widersprüchlich, denn wenn nichts im Bewusstsein ist, dann ist mir nichts bewusst und dann ist es kein Bewusstsein. Die Metapher vom Spiegel, der auch dann ein Spiegel ist, wenn er nichts reflektiert, half mir hier nicht. Denn das Bewusstsein ist kein Gegenstand, der irgendwo rumsteht, sondern zeichnet sich gerade durch Bewusstwerdung von etwas aus. Was meint meine Yogalehrerin denn mit "Bewusstsein leeren"?
 

Was ist das Bewusstsein? (Foto von Maksim Goncharenok, Lizenz)

Reines Bewusstsein – Zwischen Erfahrung und Metaphysik

In spirituellen Praktiken wie Yoga, Meditation oder Achtsamkeit ist oft von einem reinen oder absoluten Bewusstsein die Rede. Es soll ein Zustand sein, in dem das Denken zur Ruhe kommt, in dem nichts mehr in meinem Geist erscheint oder bewertet wird und das Bewusstsein als solches einfach ist. Aus westlicher Perspektive ist das eigentlich komplett unverständlich.

Seit der Aktpsychologie Franz Brentanos im frühen 20. Jahrhundert und seinem Schüler, dem Phänomenologen Edmund Husserl, gilt in der europäischen Tradition der Satz: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. Es ist seinem Wesen nach intentional, also auf etwas gerichtet. Ein Bewusstsein ohne Objekt, wäre dann gar kein Bewusstsein.

Wie passt das zum Bewusstsein des Yogi? Ist das Ideal des objektfreien Bewusstseins eine leere Formel – oder nur ein anderer Blick auf denselben Sachverhalt?
 

Historischer Exkurs: Von der Seele zum Bewusstsein

In der Antike und im Mittelalter gab es noch keinen Begriff von Bewusstsein im heutigen Sinn. Platon spricht von Erkenntnis und Schein, Aristoteles von der Seele als Prinzip des Lebens. Erst Augustinus beschreibt im vierten und fünftem Jahrhundert nach Christus ein erstes Selbstgewahrsein: "Ich weiß, dass ich bin." In der Neuzeit verschiebt sich der Fokus. Im 17. Jahrhundert begründet Descartes Gewissheit durch Selbstbewusstsein: "Ich denke, also bin ich." Und John Locke führt das moderne consciousness als Wahrnehmung des eigenen Geistes ein. Kant spricht dann im 18 Jahrhundert von der transzendentalen Apperzeption, die alle Vorstellungen begleiten muss.

Erst Franz Brentano macht 1874 den entscheidenden Schritt: Bewusstsein ist kein Ding und keine Substanz, sondern ein Vollzug, ein gerichteter Akt. Damit ist das, was wir erleben, immer schon in einer Beziehung – zwischen einem Erlebenden und einem Erlebten. Diese Idee prägte u.a. die Phänomenologie Husserls, die Philosophie der Beziehungen von Merleau-Ponti und die Existenzphilosophie Sartres. 

Die scholastischen Wurzeln der Intentionalität

Brentanos Gedanke fiel nicht vom Himmel. Der Ausdruck, den er in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkte von 1874 aufgreift – "intentionalis inexistentia" – stammt aus der mittelalterlichen Scholastik. Schon im Mittelalter bezeichneten Thomas von Aquin und Duns Scotus mit "intentionalis inexistentia" das besondere Sein eines erkannten Gegenstandes im Geist des Erkennenden als ein "Im-Sein". Sie knüpften an Aristoteles’ Beobachtung in De anima an, dass die Seele im Erkennen die Form des Gegenstandes ohne dessen Materie aufnehme. Das Erkannte ist also im Bewusstsein präsent, aber in einem anderen Seinsmodus als in der äußeren Welt – intentional, nicht realiter. 

"Das Charakteristische aller psychischen Phänomene ist die intentionale Inexistenz eines Gegenstandes." (Psychologie vom empirischen Standpunkte, Bd. II, Kap. 1)


Inexistenz? Das lateinische inexistentia bedeutete im Mittelalter noch schlicht Innewohnen und noch nicht "Nicht-Existenz". Wenn Brentano also schreibt, jedes psychische Phänomen sei durch die "intentionale Inexistenz eines Gegenstandes" charakterisiert, meint er nicht, das Bewusstsein richte sich auf Nichtexistierendes, sondern: Der Gegenstand existiert im Bewusstsein – nicht als reales Ding, sondern als intentionaler Gehalt.

Damit überträgt Brentano eine aristotelisch-scholastische Ontologie in eine empirisch-psychologische Sprache. Das Erkennen ist kein neutrales Registrieren äußerer Dinge, sondern ein innerer Vollzug, in dem etwas als etwas erscheint.

Husserl wird später diese "Inexistenz" in das Begriffspaar noesis–noema übersetzen und damit aus der mittelalterlichen Seelenlehre die Grundlage der modernen Bewusstseinsphänomenologie machen. 

Das phänomenologische Argument

In der phänomenologischen Tradition ist Bewusstsein wesentlich intentional (also auf etwas bezogen). Selbst wenn wir "an nichts denken", sind wir uns doch dieser Leere bewusst. Wenn uns diese Leere nicht bewusst ist, sind wir einfach bewusstlos. Die Aussage "Ich bin mir bewusst, ohne dass mir irgendetwas im Bewusstsein ist" wäre widersprüchlich. Das Bewusstsein kann nicht leer sein, weil schon das Erleben der Leere ein Inhalt wäre (auch wenn es mir persönlich schwer fällt, mir "die Leere" vorzustellen).

Damit wird der Unterschied zwischen Bewusstsein und der Fähigkeit zum Bewusstsein entscheidend. Ein anästhesierter Mensch mit funktionsfähigem Gehirn hat zweifellos die Fähigkeit, Bewusstsein hervorzubringen – aber solange dank Anästhesie nichts erlebt werden kann, ist diese Fähigkeit nicht aktualisiert. 

Meditation als Übung in Intentionalität

Wenn Meditationslehrer fordern, den Geist zu leeren und zugleich dazu raten, sich auf den Atem zu konzentrieren, ist das wie oben schon angedeutet, kein Widerspruch, sondern eine Methode: Der Atem dient als Übungsobjekt, um die Sprunghaftigkeit des Bewusstseins zu beruhigen. Erst wenn diese Konzentration stabil wird, kann sich die Trennung von Beobachter und Beobachtetem lockern. Was dann im besten Fall erfahren wird, wird als ein nicht-duales Gewahrsein beschrieben – kein Bewusstsein von etwas, sondern ein Feld, in dem Subjekt und Objekt zusammenfallen. Das ist für mich erst einmal sehr mysteriös.

Philosophisch, phänomenologisch könnte ich das so fassen: Es ist keine neue Erfahrung, sondern ein Wandel in der Struktur des Erlebens selbst. Das heißt: Der Inhalt bleibt (Atem, Geräusch, Körperempfindung), aber die Art, wie er erfahren wird, verändert sich – das "Ich", das ihn erlebt, scheint zu verschwinden.

Das reine Bewusstsein im Advaita Vedānta

In der indischen Advaita-Philosophie wird dieses Feld "cit" genannt – reines, selbstleuchtendes Bewusstsein. Selbstleuchtend meint hier: das Bewusstsein ist selbstgegeben, es braucht kein anderes Prinzip, das es sichtbar macht. Alles, was wir erfahren – Gedanken, Körper, Welt – sind demnach Modifikationen dieses Bewusstseins, wie Wellen auf einer stillen Fläche. Ob etwas erscheint oder nicht, ändert nichts daran, dass die Fläche selbst "spiegelt".

So wird das, was die Phänomenologie vielleicht "Fähigkeit zum Bewusstsein" nennen würde, in der Advaita-Sicht ontologisch aufgewertet: Diese Fähigkeit ist bereits Bewusstsein, ja sogar das Sein selbst. Bewusstsein ist nicht eine Tätigkeit, sondern die Bedingung, dass überhaupt etwas erscheinen kann.

Wenn Advaita sagt, Bewusstsein "leuchtet immer schon", meint das genau diesen Umstand: Jedes Erscheinen – sinnlich, gedanklich, emotional – setzt ein Gewahrsein voraus. Wir können das Bewusstsein selbst nie als Objekt wahrnehmen, so wie wir Licht nie an sich sehen, sondern nur beleuchtete Dinge. Und doch ist jedes Sehen von Licht getragen.

So manifestiert sich reines Bewusstsein nicht als ein weiteres mentales Ereignis, sondern als Manifestheit selbst – als die Tatsache, dass überhaupt etwas erscheint. 

Anschluss an eine philosophische Lebenspraxis

Das reine Bewusstsein ist kein mentaler Zustand, kein inneres Leuchten und kein Objekt der Erfahrung. Es ist ein Name für etwas, das sich in jeder Erfahrung implizit zeigt, aber nie selbst zum Phänomen wird – so wie Licht nie sichtbar ist, ohne etwas zu beleuchten.  

Kann man es also erleben, zum Beispiel in der Meditation? Sicher nicht einfach so, aber es ist ein phantastischer Zustand, fast todesgleich, dem ich mich annähern kann, auch wenn ich ihn im Leben nicht erreiche. Wir kennen ja Zustände, die in diese Richtung gehen, etwa den Flow, den ich bspw. beim Sport erlebe: Hier reagiere ich nur noch "geistesgegenwärtig", automatisiert und wenig bewusst, aber durchaus "begeistert". Es gibt dann immer noch Dinge in meinem Bewusstsein, aber viel blasser und unschärfer, als wenn ich mich auf sie konzentriere. Man kann solche Zustände anstreben, im Kunstgenuss, beim Sport oder Yoga, beim Kreativsein, in der Meditation... überall dort, wo "man sich verlieren" kann. 

Lebensphilosophisch ist das interessant, denn was wären wir, wenn wir nicht strebten? Beispielsweise streben wir in der praktischen Philosophie wie auch im Yoga oder der Meditation weg vom Leid, hin um "Guten". In diesem Zusammenhang tritt noch ein anderer Aspekt der asketischen Praktiken hervor: das Streben zum Nichts, vom Leben zum Tod, weil hier die Vermeidung allen Leides angestrebt wird. Vielleicht kann das "sich verlieren" auch eine Übung sein, dem Nichts, dem eigenen Tod anders zu begegnen, als in einer armseligen Pose des leidenden Festhaltens entgegen alle Notwendigkeit.

Erkenntnistheoretisch ist das "reine Bewusstsein" also  irgendwie eine Nullnummer, unter lebenspraktischen Gesichtspunkten, ist es eine durchaus philosophisch interessante, ausbaufähige und anstrebeswerte Idee.


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