Emergenz und Intelligenz
Technik-Optimisten benutzen den Schleimpilz – eine gehirnlose, einzellige Amöbe – als Metapher für die Tugenden der Künstlichen Intelligenz. Doch ein tieferes Verständnis der Kraft des Schleims könnte uns zurückführen zur einzigartigen Fülle und Komplexität des Menschen.
Ein Essay von Eliane Glaser
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Schleimige Quadratzentimeter im Deutschen Wald (G. Dietrich CC BY-SA 4.0 CC BY-SA) |
Wissenschaftlich erstaunlich und kulturell inspirierend
Vielleicht haben Sie schon einmal einen Schleimpilz im Park oder auf einem Spaziergang über Land gesehen: ein geheimnisvoller, gelber Klumpen auf einem verrottenden Baumstamm oder Kuhfladen. Diese häufige Variante trägt den (reizenden) Namen Rührei-Schleim oder auch Hundevomit. Andere Arten sind skurril vielfältig und manchmal atemberaubend schön: Wie der Fotograf Barry Webb dokumentiert hat, können sie aussehen wie ein Büschel leuchtend gelber Trauben, himbeerfarbene Federboas oder irisierende blaue Lutscher.
Schleimpilze sind in der Tat erstaunlich. Obwohl sie gehirnlos und einzellig sind, vermögen sie Dinge, die ausgesprochen clever wirken – etwa den schnellsten Weg durch ein Labyrinth zu finden. Im Jahr 2010 setzten Forscher in Japan einen Schleimpilz namens Physarum auf eine Agarplatte und platzierten Haferflocken, seine Lieblingsnahrung, an den Stellen der Städte rund um Tokio. Der Schleimpilz wuchs zu einem Netzwerk heran, das der tatsächlichen Bahnkarte erstaunlich ähnlich sah (siehe Bilderreihe unten). So primitiv er auch ist, teilt er doch entscheidende strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten mit menschlichen Zellen. Deshalb setzen ihn Mediziner ein, um Behandlungsmöglichkeiten für eine Vielzahl von Krankheiten zu erforschen, darunter Krebs, Parkinson, Alzheimer, Epilepsie und bipolare Störungen.
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Tim Tim (VD fr) / Tokio Schleimpilz-Netzwerk / CC BY-SA 4.0 CC BY-SA (Ausschnitt) |
Trotzdem ist die Forschung an Schleimpilzen ein eher kleines und sogar schrumpfendes Feld, da sich Biologen eher den großen, klugen Säugetieren zuwenden. Jonathan Chubb, Zellbiologe am University College London, führte mich durch sein Labor. Wir lebten im Zeitalter des Gens, erklärte er mir – jenes glänzenden Bauplans, der vorgibt, wie sich ein Organismus entwickelt, und der eine milliardenschwere Biotech-Industrie ermöglicht hat. Schleimpilze mögen im Vergleich bescheiden erscheinen, doch Chubb erkennt ihren Reiz. Er lädt mich ein, durch ein Mikroskop zu schauen, wo winzige, auf Stielen thronende Wassertropfen zu sehen scheinen.
Wenn Schleimpilze in der akademischen Biologie so etwas wie Außenseiter sind, erleben sie in der breiteren Kultur gerade ihren Moment. Sie inspirieren das Design von Robotern und Städten. Informatiker haben einen Algorithmus auf Basis von Schleimpilzen entwickelt, um die Verteilung von Dunkler Materie zu kartieren. Die NASA schickte in Zusammenarbeit mit 5.000 Schülern einige Schleimpilze – von den Kindern "the blob" getauft – zur Internationalen Raumstation, um die Effekte der Schwerelosigkeit zu studieren. Und auch für Künstler und Komponisten sind sie eine Quelle der Inspiration.
Doch Schleimpilze sind nicht auf spektakuläre Weise intelligent. Sie finden ihren Weg durch ein Labyrinth, indem sie in spekulativer Manier in alle Richtungen Fühler ausstrecken. Diejenigen, die am Ende eines Gangs eine Haferflocke finden, senden ermutigende Signale zurück, die ein Feedbacksystem wechselseitiger Verstärkung schaffen. Sie verkörpern damit ein Konzept, das Emergenz genannt wird: ein Durcheinander lokaler Interaktionen am Boden, das in der Summe eindrucksvolle Ergebnisse hervorbringt. Statt Befehlen aus einer "Exekutive" zu folgen, lösen sie Probleme ad hoc und dezentral, indem sie Lösungen aus einer Vielzahl unreflektierter Einheiten "crowdsourcen". Man denke an Starenschwärme und Fischschulen, an unterirdische Netzwerke von Pilzmyzelien, Ameisenkolonien und Bienenschwärme.
Die Metapher vom Schleim verschleiert Machtinteressen
An sich sind Schleimpilze also wahrhaft außergewöhnlich. Doch an der zeitgenössischen Begeisterung für Emergenz als kulturelles Motiv ist auch etwas Beunruhigendes. Große Mächte nutzen Emergenz – und manchmal sogar den Schleimpilz selbst – als Metapher, um ihre Dominanz zu rechtfertigen. Wirtschafts-Kommentatoren im Silicon Valley und darüber hinaus ziehen explizite Parallelen zwischen ihren Industrien und dem Schleimpilz, vielleicht gerade weil er so sympathisch bescheiden wirkt. Manager von Alphabet verglichen die Firmenstruktur mit dem Organismus, und ein ehemaliger Google-Programmmanager, Alex Komoroske, schrieb in einem internen Dokument: "Google ist im Grunde ein Schleimpilz." Das bottom-up-Organisationsmodell beinhalte gewöhnliche Angestellte, die Führungskräfte in wöchentlichen offenen Meetings herausfordern, sowie respektlose Memes auf internen Webseiten. Management-Gurus feiern den Schleimpilz als nachahmenswertes Paradigma: "Als Organisationsführer müssen wir lernen, Kontrolle abzugeben", schreibt ein Berater, "um Verhaltensweisen zu fördern, die Zusammenarbeit, Beteiligung und Selbstbestimmung stützen."
Emergenz scheint eine beruhigende Korrektur gegenüber monopolistischer Macht darzustellen – doch wie viel davon ist bloßes Feigenblatt? Und inwiefern taugt die Gegenüberstellung von Top-down und Bottom-up überhaupt als Modell, um unsere Welt zu verstehen?
Der Schleimpilz, den Jonathan Chubb mir in seinem Labor zeigte, heißt Dictyostelium discoideum und wird von Wissenschaftlern liebevoll "Dicty" genannt. Wenn er hungrig wird, schließen sich zehntausende dieser Organismen zu einer "Schnecke" zusammen, die auf Nahrungssuche geht. Ist es Zeit zur Fortpflanzung, baut er sich zu der pilzartigen Spore auf, die ich gerade durch das Mikroskop betrachtete.
Chubb zeigte mir außerdem einen Film von Dictys "Partytrick" – der Bildung der Spore. Die Zellen beginnen als chaotische, zappelnde Masse, doch nach einigen Stunden (der Film war beschleunigt) beginnen rotierende Spiralen aufzublühen. Chubb erklärte, was da geschieht: Die Zellen senden Signale in Form von zyklischem AMP aus, in einer Art La-Ola-Welle. Das AMP veranlasst andere Zellen, ebenfalls AMP zu bilden, und es bringt die Zellen dazu, sich zur Signalquelle hin zu bewegen. Wie schon beim Labyrinth entstehen dadurch Schleifen wechselseitiger Verstärkung.
Chubb habe sich den Schleimpilzen zugewandt, erzählte er mir, weil sie "auf sehr schöne Weise" zeigen, wie "einfache Regeln" Muster hervorbringen können, die nicht nur "hochgradig strukturiert und geordnet", sondern auch "wunderschön" sind. Diese Muster – die man ebenso in den labyrinthartigen Zeichnungen eines Kugelfisches wie in Windrippeln im Sand findet – wurden schon 1952 von Alan Turing beschrieben. Die Definition von Emergenz lautet, dass sich das Gesamtverhalten eines Systems nicht aus dem Verhalten seiner Einzelelemente vorhersagen lässt. Der Nobelpreisträger und Physiker Philip Anderson formulierte es 1972 prägnant: More is different.
Ein einzelner Star in einem Schwarm von Tausenden verhält sich wie ein Auto im dichten Verkehr: Er folgt dem Vogel vor ihm, hält dabei einen sicheren Abstand – doch gemeinsam erzeugen sie jene spektakulären, flirrenden Formationen.
Andere Beispiele emergenter Komplexität sind die "Nässigkeit" von Wasser – eine Eigenschaft, die über seine chemischen Bestandteile hinausgeht – oder die Supraleitung, die aus dem kollektiven Verhalten von Elektronen hervorgeht. Die Stadttheoretikerin Jane Jacobs erkannte Emergenz in der Bildung von Nachbarschaften, der Kognitionswissenschaftler Marvin Minsky in neuronalen Netzwerken. Als ich die Dicty-Zellen ihre Spiralen bilden sah, erinnerte mich das an die Schneeballeffekte von Wohlstands- und Ressourcenanhäufung.
In einer Welt, die zunehmend krisenanfällig erscheint, ist es nützlicher denn je, die mathematischen Regeln hinter Tropenstürmen oder Finanzkrisen zu verstehen. Doch die Vorhersage dieser chaotischen, höhergeordneten Effekte bleibt eine Herausforderung. "Sobald man ein bestimmtes Komplexitätsniveau überschreitet", sagte Chubb, "werden viele Dinge kontraintuitiv." Er nahm das Beispiel eines Kreisverkehrs: "Wenn zwei Autos aus unterschiedlichen Richtungen kommen, ist das einfach. Aber sobald es drei oder vier sind, entstehen Verhaltensweisen, die man schlicht nicht mehr vorhersagen kann." Inmitten wachsender Komplexität wirken Schleimpilze geradezu verführerisch simpel.
Emergenz und Evolution, Top-down vs. Bottom-up
Ist alles in der Welt ein Resultat von Emergenz?
Die Natur ist das Produkt der Evolution – eines emergenten Prozesses: zufällige Mutationen, spontane Begegnungen zwischen Organismen untereinander oder mit ihrer Umwelt. In diesem Sinn lässt sich die gesamte menschliche Zivilisation als emergent begreifen – einschließlich der autoritärsten Herrscher, die zwar imposant wirken, aber aus den Aufwallungen des Populismus hervorgehen. Karl Marx beschrieb Das Kapital als eine "Studie der Naturgeschichte".
Doch innerhalb dieser grundlegenden Realität, dass alles von unten herauf "emporblubbert", gibt es Phänomene in Natur und Gesellschaft, die stark nach Top-down aussehen. Jeder, der David-Attenborough-Dokumentationen gesehen hat, weiß: Löwen und Wale zeigen ausgeprägt hierarchisches Verhalten. Und in der Politik hat sich Macht, die früher stärker auf unabhängige Abgeordnete und autonome Gemeinderäte verteilt war, zunehmend in den Händen des Präsidenten, Kanzlers oder Premierministers konzentriert.
Die Welt in Top-down und Bottom-up zu sortieren, kann erhellend sein. Solche binären Gegensätze wirken in einer Zeit besonders passend, in der die Kluft zwischen Tech-Titanen und Essenskurieren auf E-Bikes immer größer wird. Doch das Modell hat Grenzen. Oft ist schwer zu sagen, wo Bottom-up aufhört und Top-down beginnt, und vieles, was wie Bottom-up aussieht, enthält bei näherer Betrachtung Elemente des Top-down – und umgekehrt. Das Zusammenspiel von Zufall und Strategie findet sich überall.
Wenn man unterschiedliche menschliche Zellen in eine Petrischale setzt, erzählte mir Jonathan Chubb, wachsen sie zu Organoiden heran – rudimentären Versionen der Organe, zu denen sie bestimmt sind. Gehirnzellen entwickeln sich zu einer Art Gehirn, Lungenzellen zu einer Art primitiver Lunge. "Es gibt eine angeborene Tendenz, dass sich verschiedene Zellen spontan räumlich organisieren, ohne dass jemand ihnen sagt, was sie tun sollen", erklärte Chubb. Doch um ein echtes Organ entstehen zu lassen, "braucht es eine Art Koordinatensystem oder Top-down-Regulation". Die Dichotomie von Top und Bottom seien "nützliche Konzepte", meinte er, doch letztlich sei "der ganze Reichtum an Strukturen, den man in einem Tier findet, immer eine Mischung aus beidem". Selbst bei Schleimpilzen gelte das: "Wir neigen dazu, Dictyostelium als das emergenteste aller Systeme zu betrachten, aber auch hier erfordert die Bildung von Sporen ein gewisses Maß an aktiv bereitgestellten Top-down-Informationen."
David Krakauer, Präsident des Santa Fe Institute – einer multidisziplinären Universität in New Mexico, die sich der Erforschung von Komplexität widmet – stimmt zu. "Ich mag die Begriffe Bottom-up und Top-down nicht", sagte er, "ich bevorzuge lokal versus global." Er verweist auf das Beispiel eines Gehirns, das mit jedem Teil des Körpers verbunden ist, oder auch auf die repräsentative Demokratie: Beide verhalten sich eher wie ein Netzwerk, ein "Nabe-und-Speichen-Diagramm". In einer Demokratie ist der gewählte politische Führer die Nabe, die Bürger sind die Speichen. Und ohnehin sei es "komplizierter" als nur oben gegen unten, weil "wir Institutionen aufbauen, in denen wir Macht für eine bestimmte Zeit delegieren" – oder im Fall der Biologie: "Alle Zellen in deinem Körper haben zugestimmt, dass es sinnvoll ist, ein Gehirn zu haben." Sie können gewissermaßen sagen, "ich bin einverstanden, dass du entscheidest, wohin wir zum Abendessen gehen."
Hinter Technologien wie Internet oder KI stehen mächtige Interessen
Obwohl unvollkommen, merke ich, dass ich an der Top-down/Bottom-up-Dichotomie festhalte, weil sie es ermöglicht, zu formulieren, wie Monopole fälschlich Anspruch auf Graswurzel-Legitimität erheben. Die großen Tech-Konzerne sind hier die Hauptschuldigen: Insider beschreiben das Internet häufig als emergent und vergleichen es sogar mit Schleimpilzen (Physarum ist als "natürlicher Computer" bezeichnet worden). Inspiriert sind sie dabei teils von Stewart Brand und seinem Whole Earth Catalog, der das frühe Internet als ein egalitäres Gegenkultur-Netzwerk imaginierte – als Reaktion gegen Hierarchie und Autoritarismus. Analogien zwischen Schleimpilzen und KI, einschließlich Large Language Models (LLMs), gibt es zuhauf. Die Vorstellung, diese Technologien hätten sich quasi "natürlich" entwickelt, lenkt davon ab, dass sie auf höchst top-down-artige Weise konstruiert wurden – und dass die Früchte vor allem schon wohlhabenden Interessen zugutekommen.
Eine weitere Komplikation besteht jedoch darin, dass Computer in bestimmten Hinsichten tatsächlich bottom-up lernen und operieren. Als in den 1940er- und 50er-Jahren erstmals neuronale Netze konzipiert wurden, waren sie, wie David Krakauer mir erklärte, "eher wie Ameisen oder Zellen": Forscher verbanden Computer so, als wären sie Nervenzellen im menschlichen Gehirn, und fragten: "Was könnten sie tun, wenn ich ihnen gar nicht so viel mitgebe, sondern sie einfach nur miteinander verdrahte?"
Die ersten Roboter wurden noch nach dem Paradigma der top-down-humanoiden Intelligenz trainiert. Doch dann kam die Erkenntnis von Firmen wie DeepMind: Viel besser sei es, sie bottom-up zu bauen – nach dem Vorbild von Kleinkindern, jenen Amateur-Empirikern, die durch unzählige Mikro-Interaktionen mit ihrer Umwelt lernen. In meinem Fall hieß das etwa: ausprobieren, was passiert, wenn man sich eine gefrorene Erbse in die Nase steckt (Antwort: Pinzette). Forscher nutzen Schleimpilze inzwischen sogar, um neue Arten von Computern zu entwerfen, darunter beunruhigend klingende "lebende Geräte". Und die Struktur von Empfehlungsplattformen – "Wenn dir das gefällt, wirst du dies lieben" – ist selbst ein Muster wechselseitiger Verstärkung. Doch handelt es sich dabei wohl eher um ein Beispiel nicht für emergente Intelligenz, sondern für emergente Dummheit.
Bewusstsein und die emergente Dummheit der KI
Das Konzept der Emergenz und die Analogien zwischen Emergenz und Künstlicher Intelligenz stammen aus langwierigen Debatten über das Leib-Seele-Problem und die Frage des Bewusstseins: Wie entstehen Ideen aus Fleisch? "Es gab keine Theorie, die erklären konnte, wie ein physikalischer Mechanismus bewusste Zustände des Geistes hervorbringen könnte", sagte Krakauer. "Dann kamen die LLMs, und die Leute sagten: Jaha! Wir haben es geschafft – und siehe da, auch die funktionieren wie Klempnerarbeit." Was uns gefangen nimmt, so Krakauer, sei der Umstand, "dass man einfach all diese dummen, eigentlich unwissenden Teile zusammensetzen kann – und sie machen dann etwas, das ein Stück weit erstaunlich ist". Und genau deshalb sei die "Tech-Bro-Science-Miliz" so selbstzufrieden. Doch statt einen physischen Computer in einen intelligenten Geist zu verwandeln, hätten sie das Gegenteil getan: "Im Grunde haben sie den Geist in einen Körper verwandelt."
Der Vergleich von KI mit weitgehend emergenten Schleimpilzen sei letztlich irreführend, sagte Krakauer, denn es sei überhaupt nicht bottom-up. Vielmehr seien "ungeheure Mengen an menschlichem Wissen – mehr Bibliotheken, als wir uns vorstellen können – in das Training dieser Systeme eingeflossen". Tatsächlich seien LLMs "das Gegenteil der Schleimpilz-Geschichte". Und es sei "befremdlich, dass wir uns haben einreden lassen, sie seien intelligent", wo sie in Wahrheit nicht intelligent, sondern lediglich wissend seien.
"Als ich in der Schule war", erzählte Krakauer weiter, "gab es Leute, die mühelos Aufgaben lösten, ohne je ihre Hausaufgaben zu machen." Das sei "ziemlich nervig gewesen, während wir anderen fleißig paukten". Er vermute, "das Argument der Emergenz reimt sich mit dieser Vorstellung". Und er schließt: "Ich glaube, deshalb mögen wir Schleimpilze so sehr. Sie wirken so dumm, und dennoch können sie Erstaunliches leisten." Schleimpilze sind das Orchester ohne Dirigenten, das es trotzdem irgendwie schafft, eine Symphonie aufzuführen.
Schleimpilze als menschliche Projektion
Als ich mit Krakauer sprach, brachte er den Gedanken ins Spiel, dass die Berufung auf Emergenz in manchen Fällen bloß eine PR-Strategie sei – ein Versuch, einen Prozess bottom-up aussehen zu lassen, selbst wenn er es nicht ist. Diese Illusion ist auch in anderen Zusammenhängen wirksam.
Die Wikipedia zum Beispiel scheint ein perfektes Beispiel für emergentes Verhalten: eine Enzyklopädie, die durch die Beiträge zahlloser Freiwilliger entsteht. Doch in Wirklichkeit ist Wikipedia, wie Studien zeigten, in hohem Maße hierarchisch geprägt – von einer kleinen Gruppe Superuser, die den Löwenanteil des Inhalts bereitstellt und kontrolliert.
Auch der Arabische Frühling wurde zunächst als bottom-up-Bewegung gefeiert: die Menschen in Tunesien, Ägypten, Syrien, die sich über soziale Medien organisierten. Doch die anfängliche Euphorie über spontane Graswurzelbewegungen wich bald der ernüchternden Erkenntnis, dass Machtvakuum und geopolitische Interessen die Entwicklung dominierten.
Emergenz taucht oft als politisch aufgeladene Metapher auf. In einer Demokratie glauben wir gerne, sie sei bottom-up organisiert: die Stimmen einzelner Bürgerinnen und Bürger, die sich zu einer kollektiven Entscheidung verdichten. Doch ebenso oft ist das Gegenteil der Fall: Wahlkämpfe werden orchestriert, Meinungen manipuliert, Informationen gesteuert. Was wir für spontane Emergenz halten, kann ein top-down konstruiertes Narrativ sein.
Als ich Krakauer fragte, was er persönlich an Schleimpilzen so faszinierend finde, klang er hin- und hergerissen. Einerseits halte er es für albern, von ihnen als intelligent zu sprechen – das sei schlicht eine falsche Projektion. Andererseits könne er sich ihrer Anziehungskraft nicht entziehen: "Es ist einfach unglaublich, wie diese Zellen zusammenfinden, ohne dass es einen Dirigenten gibt. Wie eine Sinfonie ohne Komponist."
Er deutete an, dass wir uns in Schleimpilzen auch selbst gespiegelt sehen. Wir projizieren auf sie unsere eigenen Wünsche nach Ordnung, Schönheit und Gemeinschaft – so, wie wir es auf Sternenschwärme oder die Fraktale eines Farnblatts tun. In ihnen erkennen wir die Hoffnung, dass aus chaotischen Einzelteilen Harmonie entstehen kann.
Im Labor, vor dem Bildschirm mit dem beschleunigten Video, konnte auch ich mich diesem Sog nicht entziehen. Erst taumelte dort eine zappelnde Masse; dann begann sie, Wellen zu schlagen, Spiralen auszubilden, Muster zu tanzen. Es war, als schaute man in ein uraltes Gedächtnis der Natur.
Vielleicht, dachte ich, liegt die eigentliche Lektion des Schleimpilzes gar nicht darin, dass er wie wir ist – intelligent oder bewusst oder politisch. Sondern darin, dass er ganz anders ist. Dass die Welt mehr Orchester kennt, als wir uns vorstellen können – viele davon ohne Dirigenten. Und dass das Staunen, das wir empfinden, wenn wir den Schleimpilz betrachten, weniger etwas über ihn aussagt, als über uns.
Quellenvermerk: Dieser Artikel basiert auf einem Essay von Eliane Glaser, der ursprünglich in Englisch auf Engelsberg Ideas
erschienen ist.
Mit freundlicher Genehmigung von Gilbert Dietrich und KI ins
Deutsche übertragen und sprachlich angepasst für Geist und Gegenwart.
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