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1. Oktober 2022

Critical Thinking

Was heißt es, kritisch zu denken?

Wir fordern andere – seltener uns selbst – oft auf, kritisch zu denken. Nur, was bedeutet das eigentlich? Wie können wir kritisch denken? Dieser Artikel bietet einen allgemeinen Überblick darüber, was es heißt, ein kritischer Denker zu sein, und skizziert sowohl traditionelle als auch neuere Ansätze des kritischen Denkens.

Dieser Text der Philosophin Carolina Flores erschien auf 1000-Word Philosophy auf Englisch und kann dort im Original mit Fußnoten gelesen werden.

Wenn "p" und "aus p folgt q" dann "q" (Wikipedia CC BY-SA 4.0)

1. Was ist kritisches Denken?

Allgemein gesprochen besteht kritisches Denken darin, auf sorgfältige Weise zu argumentieren und zu hinterfragen, um die eigenen Überzeugungen auf der Grundlage guter Gründe zu bilden und zu aktualisieren. Ein kritischer Denker ist jemand, der typischerweise auf diese sorgfältige Weise argumentiert und nachfragt, relevante Fähigkeiten beherrscht und die Neigung entwickelt hat, sie anzuwenden.

23. August 2022

Karma oder Schadenfreude? Zum Tod einer Tochter

Wie ist es moralisch zu bewerten, wenn wir uns diebisch freuen?

Ist es legitim, sich über das Unglück eines anderen Menschen zu freuen? Schadenfreude ist menschlich, so viel ist klar. Aber ist sie nicht auch verwerflich, also aus einer Perspektive der Ethik betrachtet falsch?

Was steckt hinter der Schadenfreude?

Schadenfreude ist die Freude über einen Schaden, der für jemanden anderen eingetreten ist. Eigentlich freut man sich ja nicht über Schäden, die auftreten, sondern über etwas positives, das einem selbst oder anderen widerfährt. Warum kann es also überhaupt Freude über einen Schaden geben? Na offensichtlich, weil man dem anderen eben genau diesen Schaden gewünscht oder nach Möglichkeit sogar selbst zugefügt hätte und weil man meint, dass einem selbst durch den Schaden des anderen etwas Gutes widerfahren sei. Auch ein vereinfachtes und unklares Gerechtigkeitsgefühl kann eine Rolle spielen. Die Freude ist offenbar auch dadurch noch gesteigert, dass der Schaden eingetreten ist, ohne dass man selbst dafür sorgen musste.

Kurz gesagt: Man profitiert vom Schaden eines anderen. Aus ethischer Perspektive kann man also argumentieren, dass die Freude über den eingetretenen Schaden moralisch nicht besser ist, als der Akt des Zufügen eines Schadens selbst. Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass die "billige" Schadenfreude des Zuschauers noch perfider ist, als der Akt des Schadenzufügens, denn hier freut man sich ohne eigenes Risiko. Ein interessantes Beispiel, wie die Rechtssprechung von der Moral abweicht, denn egal wie moralisch verwerflich – für Schadenfreude wird man nicht vors Gericht gestellt.

Auch nach den bekannten goldenen Regeln und ethischen Imperativen, nach denen man anderen nichts zufügen oder wünschen solle, dass man nicht auch für alle inklusive sich selbst wünschte, ist Schadenfreude also ganz klar moralisch verwerflich. Einen Ausweg gäbe es, wenn man sich über eine harte Strafe freut, die man sich auch selbst für ein Fehlverhalten wünscht. In religiösen Kontexten kann man das sehen, wenn jemand sündigt und sich erst besser fühlt, nachdem er dafür auch Buße tun konnte. Die Selbstgeißelung wäre solch ein Beispiel. Wer sich über das Auspeitschen eines anderen freut und für alle inklusive sich selbst in Anspruch nimmt, bei vergleichbaren Vergehen auch ausgepeitscht zu werden, der wäre bei dieser Art Schadenfreude fein raus.

22. Mai 2022

Von der Sorge und vom Denken

Warum ist das Denken so unbeliebt?

Denken hat heutzutage nicht unbedingt den besten Ruf. Lange habe ich mich am Kopf gekratzt, wenn ich mitbekam, dass Menschen um mich herum in Zweifel zogen, dass das "Philosophieren" ein guter Weg wäre, einen Zugang zur Welt und zur eigenen Position in dieser Welt herzustellen.

Zuviel denken macht krank! Solche Aussagen haben mich immer sehr irritiert. Oder: Meditieren, statt denken! Wir müssen im Hier und Jetzt sein. Oder: Nicht immer nur denken, auch mal machen! Das hat sich mir dann schon eher erschlossen, wenn ich auch immer umgekehrt dachte, dass zu viel machen ohne genügend nachgedacht zu haben, das eigentliche Problem sei. Besser verstanden habe ich das Problem bei typischen Fagen wie: Wie kann ich es abstellen, dass meine Gedanken immer so rasen?

Es geht bei all den oben so unbehaglich problematisierten kognitiven Vorgängen gerade nicht ums Denken. Wie soll denn denken, krank machen können? Und gerade beim Denken bin ich doch am ehesten im Hier und Jetzt! Und denken schließt doch das Handeln nicht aus, ist hier vielleicht "zögern" gemeint? Und "rasende Gedanken" ist eigentlich schon das Gegenteil von denken.

16. Januar 2022

Verschwörungstheorien... Warum nicht?

Eine unvoreingenommen philosophische Betrachtung

Die NASA hat die erste Mondlandung vorgetäuscht... Die US-Regierung orchestrierte die Anschläge am 11. September... Eine eingeschworene Gruppe Satan anbetender Pädophiler betreiben einen globalen Kindersexhandelsring und plant ein Komplott...

Mini Mondlandung (Eric Kilby, Lizenz: CC BY-SA 2.0)

Jede dieser Behauptungen wurde als "Verschwörungstheorie" angeprangert. Aber was sind Verschwörungstheorien? Und sollten wir jemals eine akzeptieren? Wenn ja, wann? Auf diese Fragen bietet dieser Essay von Jared Millson, Assistant Professor der Philosophie in Memphis USA erste Antworten.

4. Oktober 2020

Das Schicksal und sein Lauf

Aufklärung, Überheblichkeit, Corona und der faktische Fatalismus

Das Schicksal war einmal die Versicherung des Menschen, in einem Geflecht von sinnhaften Zusammenhängen zu existieren. Es war tröstend, eine Art Vorsehung zu erfüllen, einem Lauf unterworfen zu sein, der einer höheren Weisheit folgt. Die antiken Griechen hatten die Schicksalsgötting Tyche und die Römer hatten ihre Fortuna. Deren Wege waren unergründlich und schon deswegen musste man an seinem eigenen schlimmen Schicksal nicht zerbrechen, so unbegreiflich es auch war. Es war zu groß, um es zu begreifen, also konnte man sich darauf verlassen, dass es richtig war. Nichts von dem trifft heute noch zu. Machbarkeitswahn und Trostlosigkeit gehen Hand in Hand. Schlimmer als früher, ist das nicht. Es ist anders.

Taddeo Kuntze: Fortuna, 1754 (gemeinfrei)

21. September 2018

Emma und das bisschen Haushalt

Mentale Last nur für Frauen?

Die französische Feministin und Zeichnerin Emma hat mit ihrem etwas schwierigen Begriff "mentale Last" oder "charge mentale" (franz.) / "mental load" (engl.) ziemliches Aufsehen erregt. Den Begriff hat sie für Frauen und vor allem Mütter geprägt, die das Gefühl haben, ihre Männer hülfen nicht im Haushalt oder nur dann, wenn man ihnen sagt, was zu tun sei. Männer kennten diese mentale Last nicht. Die allgemeine Aussage, dass das regelmäßig auf heterosexuelle Paare zutreffe, gehört dabei zum Kern ihrer Botschaft, mit der sie um die Welt zieht. Muss man ihr nicht völlig Recht geben, dass es inakzeptabel ist, wenn ihr Mann Hausarbeiten nur dann ausführt, wenn er darum gebeten wird, aber insgesamt erwartet, dass sie zuständig ist und sich im Wesentlichen darum kümmern wird?

"Die mentale Last bezeichnet die Tatsache, immer an alles denken zu müssen. Daran denken, dass die Q-Tipps auf den Einkaufszettel müssen, dass heute der letzte Tag ist, den wöchentlichen Gemüsekorb zu bestellen [...] dass die nächste Impfung ansteht oder dass der Mann kein einziges sauberes Hemd mehr hat."

Ich empfehle, die deutsche Version einmal hier zu lesen: Du hättest doch bloß fragen müssen! Auf den ersten Blick, ist das in der Tat skandalös. Und auch auf den zweiten Blick würde ich sagen, dass beide Partner offenbar etwas völlig falsch verstanden haben müssen, wenn sie sich um seine Hemden kümmert. Und da sind wir schon beim ersten Punkt, der mich an Emmas vorgeblich allgemeingültigen Diagnose der mentalen Last in Paarbeziehungen stört.

30. August 2018

Sinn stiften in einer sinnlosen Welt

Der Humanismus als Religion

Religion is interested above all in order.
Science is interested above all in power.
(Harari S. 231)


Religion stellt Ordnung über Sinnangebote sicher. Wissenschaft ermächtigt uns, uns "die Welt untertan zu machen". Was aber ist mit Sinn und Ordnung, wenn die Wissenschaft die Religionen verdrängt? Von Macht allein können wir schließlich nicht leben.

In seinem Buch Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen beschreibt Yuval Noah Harari die Moderne als so einen faustischen Deal: Wir Menschen werden immer mächtiger, erheben uns wie Prometheus gegen die Götter und über die Natur und müssen dafür nur einen auf den ersten Blick kleinen Preis bezahlen – den Verlust eines großen allumfassenden Sinns. Denn wenn die großen Erzählungen von Göttern und ihrem kosmischen Plan von heiligen Schriften zu bloßen Märchen werden, dann macht uns das einerseits frei von den Fesseln des Glaubens und seinen Dogmen und erlaubt uns damit so zu leben, zu forschen und selbst zu erschaffen, wie wir das für richtig halten. Auf der anderen Seite sind wir damit eben nicht mehr eingerahmt in diese großen Erzählungen, die uns und unserem Leben einen Sinn, unserem Leiden einen Trost und der Menschheit ihre Ordnung geben können.

Aber, so Harari, wir haben einen Weg heraus aus diesem Dilemma gefunden. Wir haben es geschafft, der Welt einen Sinn zu geben, der nicht auf einem großen kosmischen Plan oder auf das Wort Gottes zurückgeführt werden muss. Dazu haben wir eine neue Religion entwickelt, die in den letzten Jahrhunderten die ganze Welt erobert hat: Der Humanismus.

29. April 2018

Der Mensch ist das Tier, das lügen kann

Wie entfesseltes Lügen unsere Zivilisation bedroht

Sich gegenseitig der Lüge zu bezichtigen ist eine altbekannte Kampfhandlung oder ging und geht zumindest vielen Konflikten, Duellen und Kriegen voraus. Heute bezeichnet Donald Trump alle, die nicht seiner Meinung sind, als Lügner. Und er selbst wird ebenso gern als Lügner bezeichnet (allein diese Symmetrie sagt eigentlich alles darüber aus, was man über das Präsidentenamt der heutigen Zeit, der Nach-Obama-Ära, wissen muss). Oder denken wir an das neue polnische Gesetz, das die vermeintliche Lüge, es hätte Polen gegeben, die beim Mord an Juden mit den deutschen Nazis kollaborierten, unter Strafe stellt und damit selbst in einer offensichtlichen Lüge gründet.

Karikatur von DonkeyHotey (Lizenz: CC BY-SA 2.0)

28. Februar 2016

Was kommt nach dem Nihilismus?

Ray Brassier über die Sinnlosigkeit durch den Verlust der Erzählung

Der Nihilismus ist eine Sinnkrise, sagt der Philosoph Ray Brassier. Solch eine Krise ist immer historisch geprägt, denn das, was wir als Sinn verstehen, ist historisch geprägt. Die große Sinnkrise, die wir gemeinhin mit Nihilismus bezeichnen, finden wir, wo das wissenschaftliche Weltverständnis die religiösen und mythischen Welterklärungen ablöst.

Sinn und Bedeutung gibt es nur in Geschichten

Die Evolution in der Biologie, das Periodensystem der Elemente in der Chemie oder die Krümmung von Raum-Zeit in der Physik vermögen als wissenschaftliche Modelle der Welterklärung das religiöse Weltverständnis nicht vollkommen zu ersetzen. Als Welterklärungsmodell macht das wissenschaftliche zwar die alten mystischen Welterklärungsmodelle überflüssig, weil wir nun zum Beispiel keine magische Schöpfungsgeschichte mehr benötigen, sondern rational erklären können, warum die Dinge sind, wie sie sind. Jedoch vermögen diese wissenschaftlichen Erklärungen nicht das große psychologische Bedürfnis der Menschen nach Sinn und Bedeutung erfüllen.

7. November 2015

Warum Verschwörungstheorien beliebt und gefährlich sind

Eine philosophische und psychologische Einordnung

In diesem Artikel zeigen wir, warum Verschwörungstheorien gefährlich sind, welche psychologischen Mechanismen ihrer Beliebtheit zugrunde liegen, wieso sich ihre Anhänger systematisch irren, was philosophisch gegen solche Theorien einzuwenden ist und wie wir mit ihnen und Informationen im Allgemeinen umgehen können.

Aber zuerst meine Definition: Eine Verschwörungstheorie ist der Versuch, Ereignisse wesentlich durch das Wirken einer Gruppe zu erklären, die sich unter einheitlicher Zielsetzung und bewusster Ausschaltung fremden oder öffentlichen Einblicks zu einem illegalen oder illegitimen Zweck zusammengeschlossen habe.

Für manche reicht schon ein Dollar als Beweis dafür, dass die Welt von Illuminaten gesteuert wird

7. März 2015

Esoterik zwischen Philosophie und Nonsens

Wo kommt Esoterik her und was sind ihre Mechanismen?

Die Esoterik hat über die zweitausend Jahre der abendländischen Philosophiegeschichte einen lustigen Salto hingelegt. In der antiken Philosophie gab es zuerst das Wort "exoterisch", das die philosophischen Werke beschrieb, die sich nach außen ("exo") an die Bevölkerung wandten. Später beschrieb man die Schriften, die vom Volk wohl kaum zu verstehen waren als "esoterisch", also nach innen gerichtet. Das Innen meinte dabei die Gemeinschaft der Philosophen und ihrer Schulen, also das, was man heute universitäre Philosophie nennen würde. Diese "esoterischen" Schriften handelten also nicht von magischen, irrationalen oder innerlichen Dingen, sondern zeichneten sich lediglich dadurch aus, dass sie ein philosophisches Verständnis voraussetzten.

Glauben Sie an Horoskope? Wahrscheinlich nicht, wenn Sie ein Stier sind. (Lizenz: CC0 Public Domain)

Esoterik und Idiotie

Heute ist es geradezu umgekehrt: Esoterische Schriften oder Lehren, man denke an die New-Age-Bewegung mit ihrer Astrologie, den UFOs und Verschwörungstheorien, setzen keine philosophische Kenntnis voraus, sondern setzen geradezu auf die Unkenntnis der Philosophie und Wissenschaften. Esoterik wendet sich also gerade nicht mehr an einen inneren Kreis der Gebildeten, sondern an den großen Kreis der Öffentlichkeit, dem es an Bildung mangelt, der aber nach Sinn sucht und der die vermeintlich verlorengegangene Einheit von Mensch und Universum - wenigstens für sich selbst - wiederherzustellen versucht. Dabei ist das Unwissen vor allem methodischer Art, denn die Theorien können durchaus randvoll mit interessantem Halbwissen und zusammengewürfelten Fakten aus den Naturwissenschaften sein. Es fehlt aber die Logik, das methodische Denken und das skeptische Schlussfolgern, also all die Werkzeuge, auf die wir uns als denkende Wesen zu Zwecken der Kommunikation und Erkenntnisgewinnung geeinigt haben. Schade, denn so werden mitunter interessante Ansätze und Ideen, die oft im Zentrum von esoterischen Sytemen stehen, volkommen diskreditiert und für ernstzunehmende Lösungsansätze unbrauchbar.

17. Dezember 2013

Sind wir böse? Sind wir dumm? Ist das dasselbe?

Was ist das Böse? Ich denke, darauf erst einmal beispielhafte Antworten zu finden, fällt uns nicht schwer. Denken wir an Serienmörder, Terroristen, den Holocaust oder vielleicht auch an Überschwemmungen, Krankheiten und menschenfressende Tiere. Die Welt ist voll von Bosheit, meistens sind es die Menschen, die böses tun. Böse ist das Gegenteil von gut, die beiden Begriffe sind die Antagonisten unserer Moralvorstellungen. Wenn etwas moralisch richtig ist, dann ist es gut, wenn etwas moralisch falsch ist, ist es böse. So unser modernes Verständnis vom Bösen. Aber wie ist es z.B. mit Naturkatastrophen, die jetzt vermehrt über uns hereinbrechen und wahllos Menschen in den Tod reißen?

Immer wieder in unserer Geschichte, besonders nach ganz großen Katastrophen, stand die Frage im Raum, ob die Welt, so wie sie ist, nicht eigentlich böse sei. Leid und Sterben waren in der Vergangenheit vergleichbar allgegenwärtig, während es heute eher Ausnahmesituationen sind. Wir sind heute, nach der Aufklärung, auch weniger geneigt, Erdbeben, Dürren, Fluten, Tiere oder sonstige Naturphänomene böse zu nennen. Vielmehr machen wir die oben genannte moralische Unterscheidung. Nur wer oder was selbst Entscheidungen treffen kann, kann auch moralisch falsche Entscheidungen treffen und damit böse sein. In früheren Epochen, als die Menschen eine magische Vorstellung von der Welt und ihrer Schöpfung hatten, gab es diesen Unterschied nicht. Das Erdbeben von Lissabon im November 1755 spitzte die Frage zu, wie ein gütiger Gott Tausende Menschen ohne Unterschied in den Tod reißen kann. Es war zuerst undenkbar, dass hier einfach völlig gleichgültige Naturkräfte am Werk waren, die in keinen intentionalen Zusammenhang zu Menschen zu bringen waren. Leibnitz fand darauf die vorläufige Antwort, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hat und dass uns die unendliche Weisheit fehlt, das in seiner Gänze zu durchschauen. Aber auch heute gibt es nach jeder Naturkatastrophe Schlagzeilen wie "Die Natur schlägt zurück". Dabei steht hier gar nicht zur Diskussion, ob unser Umgang mit der Natur auch solche Folgen wie Erderwärmung inklusive Anstieg des Meeresspiegels hat, sondern der Gedanke, dass die Natur sich rächt. Rache kann in unserem naturwissenschaftlichen Verständnis nur von etwas beseeltem ausgehen, aber nicht von Plattentektonik, Eisbergen oder Vulkanen.

4. Februar 2013

Hochsensibilität – eine Wesensart mit viel Potenzial

Das Thema Hochsensibilität (HSP) wurde in diesem Blog bereits im Zusammenhang mit Introversion aufgegriffen. Als bekennender Introvertierter, aber vermutlich nicht so hochsensibler Mensch, interessieren mich vor allem die Grenzziehungen zwischen diesen zwei Konzepten, die offenbar mindestens sich überlappende Phänomene zu beschreiben versuchen. Die Autorin Ulrike Hensel (siehe Foto), die von sich sagt, sie sei hochsensibel, hat für Geist und Gegenwart ein paar Grundlagen zu HSP zusammengefasst. Sie selbst bietet nicht nur Coaching für Hochsensible an, sondern hat jetzt zu diesem Thema auch ein Buch geschrieben: Mit viel Feingefühl - Hochsensibilität verstehen und wertschätzen: Einblicke in ein gar nicht so seltenes Phänomen. Ein Buch, das umfangreiches Wissen vermitteln und auch Rat geben will. Für uns fasst sie nun zusammen, was HSP ist, womit Hochsensible täglich konfrontiert werden, welche Fähigkeiten diese Veranlagung mitbringt und was die ganze Gesellschaft davon haben könnte. Aber lesen Sie selbst...

3. November 2012

Warum irren wir uns systematisch?

Die häufigsten kognitiven Verzerrungen

Faustregel, Milchmädchenrechnung, über den Daumen gepeilt. Hand aufs Herz: Wir alle irren uns wohl mal hier und da. Oder auch ständig, überall und systematisch. Gut, wenn wir uns unsere Irrtümer eingestehen, das macht uns zu erwachsenen Menschen. Aber was, wenn wir nicht mitkriegen, dass wir uns irren. Und was, wenn auch andere es nicht mitkriegen, weil wir uns kollektiv irren? Zum Beispiel neigen wir alle dazu, negative Nachrichten stärker zu bewerten, als positive (negativity bias). Das hat evolutionär auch seinen Sinn: Wenn in einem Urmenschen-Habitat ein Säbelzahntiger gerade sein Unwesen trieb, war diese Information im Zweifel wichtiger, als die gleichermaßen wahre Information, dass man im selben Gebiet gerade süße Früchte pflücken konnte. Heute, da wir hier solcher elementaren Sorgen enthoben sind, führt diese Tendenz jedoch vor allem noch dazu, dass alle von schlechten Nachrichten besessen sind: Only bad news are good news.


The Duchess and Friends
Typischer Fall von Kontrollillusion (Bild von Quabit)

Solche kognitiven Verzerrungen liegen vielen unserer Entscheidungen und Überzeugungen zugrunde. Sie sind mentale Short Cuts, die unserem Gehirn eine gewisse Effizienz ermöglichen. Man könnte sie auch in die anthropologische Kategorie der Entlastung einordnen. Wir sind evolutionär darauf getrimmt, schnell Entscheidungen zu treffen, das sorgsame, aber energie- und zeitaufwendige Abwägen der Wahrnehmungen und Informationen wurde zugunsten der Schnelligkeit und Sparsamkeit geopfert. Auf einige bekannte kognitive Verzerrungen möchte ich hier etwas genauer eingehen.

4. August 2012

Lügen - Warum denn nicht?

Ein Autor, den ich wegen seiner Kreativität und Klarheit sehr schätze, Jonah Lehrer, hat sich dermaßen in Lügen über die Quellen seiner Arbeit (zuletzt: Imagine) verstrickt, dass das Buch aus dem Handel genommen wurde und er von seinem Posten bei der Zeitung The New Yorker gefeuert wurde. Jonah Lehrer ist noch jung, wird geläutert wiederkehren und an seine frühen Erfolge anknüpfen.

Er ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr Lügen unser Leben verkomplizieren können. Anstatt bei unsauberer Quellenlage zuzugeben, dass er unter dem großen Termindruck schlampig gearbeitet hat, erfand er Geschichten zu seinen Quellen, die leicht als Lügen enttarnt werden konnten. Ganz ähnlich die Plagiatsaffäre des Karl-Theodor zu Guttenbergs. Oder denken Sie an die tragische Gestalt des Christian Wulff: Es wäre nicht schön gewesen, wenn er gleich gesagt hätte, dass er Vorteile genossen hat, die er nicht hätte in Anspruch nehmen dürfen. Aber es hätte ihm sicherlich die Ehre gerettet. Statt dessen hat er sich öffentlich im Fernsehen und der Presse in Widersprüche verwickelt und gilt nun als hässliches Gesicht der deutschen Politik. Diese Beispiele machen mich neugierig, wie man aus ethischen Gesichtspunkten mit Lüge und Wahrheit umgehen soll. Ist es tatsächlich so, dass man Lügen auf jeden Fall vermeiden muss oder sind Lügen unter gewissen Voraussetzungen legitim? In wie weit schade ich mir selbst, wenn ich lüge? Ich habe dazu ein kleines Buch von Sam Harris gelesen: Lying. Harris geht hier kurz darauf ein, was Lügen sind und welche Art von Lügen wir uns erlauben. Der Hauptteil des Buches ist aber eine Rechtfertigung der strikt ethischen Position, dass Lügen unter allen zumutbaren Umständen vermieden werden müssen.

Was ist eine Lüge?

Die Lüge ist philosophisch betrachtet gar nicht so trivial. Mit Unwahrheit oder Fehlinformation ist es nicht getan. Harris schlägt folgende Definition vor: Lügen heißt, jemanden vorsätzlich zu täuschen, der eine ehrliche Kommunikation erwartet. Das lehnt sich eng an übliche Definitionen an, wie man sie auch in Enzyklopädien lesen kann. Dieser Begriff von Lüge vermeidet, dass man jemanden einen Lügner nennt, der sich einfach nur geirrt hat und deswegen die Unwahrheit sagt (kein Vorsatz) und auch Pokerspieler oder Magiker sind keine Lügner, wenn im Kontext der Kommunikation klar ist, dass die Mitspieler oder das Publikum gar nichts anderes erwarten, als getäuscht zu werden. Dieser Begriff der Lüge hat jedoch mindestens einen Nachteil: die Kontextabhängigkeit lässt Hintertürchen offen: Was, wenn ein kleiner Junge vom Magiker erwartet, dass er ihn nicht täuscht, während die Mutter des Jungen weiß, dass es nur eine Vorstellung ist? Dann haben wir nach dieser Definition die paradoxe Situation, dass der Magier zugleich ein Lügner und kein Lügner ist. Ebenso wird der Begriff problematisch, wenn wir ganz zynisch sagen: In unserer Gesellschaft erwartet sowieso niemand mehr vom anderen, dass er ehrlich ist. Ist dann alles Lügen legitim?

Polygraph
Eine Lüge macht uns mindestens geringfügig nervös (gefunden bei Oddeveld)

25. Januar 2012

Charakter, Temperament und Persönlichkeit

Psychologie ist ein Gebiet, bei dem wir alle gerne mitreden. Zu Recht, denn sie geht uns alle an. Jeder unserer Tage ist durchdrungen von psychischen Ereignissen wie von physischen. Die körperlichen Ereignisse wie die Verdauung, der Herzschlag oder das Niesen üben jedoch nicht solche Faszination auf uns aus. Sie scheinen leicht erklärlich, während die psychischen Ereignisse uns immer wieder vor Rätsel stellen.

Und auch der Umgang mit den psychischen Ereignissen scheint uns schwieriger. Es scheint uns unheimlich schwer zu sein, den Geist zu beeinflussen, unsere Stimmungen, Temperamente und Überzeugungen. Wir kommen natürlich später noch dazu, dass man körperliche Ereignisse gar nicht so simpel von psychischen trennen kann: Die Persönlichkeit ist die Organisationsebene des Individuums, wo sich Biologisches, Soziales und Psychisches treffen.

Aus dieser Faszination heraus, angefeuert durch die relativ einfache Verfügbarkeit von einschlägigen Informationen erklärt sich das große Interesse an diesen Themen. Bei aller scheinbaren Einfachheit, an Informationen zu kommen, lädt jedoch gerade das Internet dazu ein, sich mit Halbwissen zu begnügen. Will man tiefer in die Materie einsteigen, dann ist das schon wieder mit Recherche, also Arbeit verbunden. Etwas, das wir in aller Regel nicht in unserer Freizeit oder mal so zwischendurch im Büro vom Internet wollen. So geht es mir jedenfalls und oft muss ich mich disziplinieren, nicht dem Reiz der Oberfläche zu verfallen. So fiel mir kürzlich auf, dass ich fleißig über Persönlichkeit schreibe und dabei mit Wörtern wie Charakter und Temperament jongliere, ohne inne zu halten und die Beziehung dieser Konzepte untereinander zu klären.

Was ist Persönlichkeit?
Der Psychologe und Experte für Persönlichkeitsstörungen Theodore Millon beschreibt Persönlichkeit als Organisationsprinzip, das die basalen biologischen und die höheren sozialen Einflüsse zusammenführt. Alle biologischen Einflüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen werden durch das sogenannte Temperament repräsentiert. Dazu zählen die neurologischen Gegebenheiten ebenso wie vererbte Merkmale. Alle sozialen oder organisatorischen Einflüsse auf die Persönlichkeit - also etwa über die Familie, die Kollegen oder die Gesellschaft insgesamt - werden Charakter genannt.
"Persönlichkeit repräsentiert die komplexe Interaktion von Charakter und Temperament, also die individuellen Ausprägungen aller Eigenschaften einer Person." (Theodore Millon, Personality Disorders in Modern Life, S. 9)


Die hier fehlenden Axen: I - Klinische Syndrome, V - Ganzheitliche Bewertung des Funktionierens

Verhältnis von Persönlichkeit und psychischen Erkrankungen
Warum ist der Begriff der Persönlichkeit in der Psychologie so wichtig? In meinem Artikel Schizoid - die Angst vor dem Ich-Verlust ging es um eine spezielle Persönlichkeitsstörung. Solche Störungen verringern unsere Möglichkeiten, mit störenden Einflüssen wie Stress, Verlust oder Ungewissheit umzugehen. Ausweichverhalten, soziale Konflikte und Krankheiten können die Folge sein. Theodore Millon vergleicht die Persönlichkeit mit einem Immunsystem:
"Robuste Immunsysteme bekämpfen mit Leichtigkeit die meisten infektiösen Organismen, während ein geschwächtes Immunsystem der Krankheit erliegt. Psychologische Erkrankungen können mit denselben Mustern erklärt werden. Hier ist es nun nicht das Immunsystem, sondern unsere Persönlichkeitsmuster - also Bewältigungsstrategien und Anpassungsfähigkeit -, die uns entweder konstruktiv mit unserem psychosozialen Umfeld umgehen lassen oder uns daran scheitern lassen. Auf diese Art betrachtet, sind Strukturen und Charakteristiken unserer Persönlichkeit die Grundlage für unser gesundes oder krankes Verhalten. Jeder Persönlichkeitsstil ist damit also auch ein Bewältigingsstil und Persönlichkeit ist eines der obersten organisierenden Prinzipien, durch die alle Psychopathologie verstanden werden sollte." (übersetzt nach Theodore Millon, Personality Disorders in Modern Life, S. 9)
Solche Persönlichkeitsstörungen existieren jedoch nicht als singuläre Phänomene, sie sind keine eigenständigen Krankheiten, denn Persönlichkeit reflektiert die zahlreichen interpersönlichen, kognitiven, psychodynamischen und biologischen Charakteristiken einer Person. Und alle diese Charakteristiken wirken zum Teil rückkoppelnd aufeinander und das Verhalten ein, weshalb Persönlichkeitsstörungen so komplex und schwer zu beschreiben sind. Die Störung und ihre Symptome sind nicht eindeutig verlinkt und Persönlichkeitsstörungen mithin schwer zu therapieren. Genau so wie die Schwächung des Immunsystems ist die Persönlichkeitsstörung selbst keine singuläre Krankheit.
"Genauso, wie wir über biologische Stabilisatoren verfügen, die störende physische Defekte korrigieren, so verfügen wir über psychologische Mechanismen, die unbewusste Ängste und Konflikte mildern können. Und genauso, wie biologische Schutzreaktionen des Körpers manchmal zerstörerischer sein können, als die ursprüngliche körperliche Beeinträchtigung, können die psychischen Korrekturmechanismen sich als störender erweisen, als die ursprüngliche Quelle der psychischen Schwierigkeit." (Millon, Masters of the Mind, 2004, S. 246)
Die Angst vor den Schubladen und Horoskope für Gebildete
Auch jenseits von Störungen, spricht man in der Persönlichkeitspsychologie von fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit (Big Five): Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Rigidität (Gewissenhaftigkeit). Diese fünf Faktoren haben sich als weitgehend unabhängig von unterschiedlichen Kulturkreisen erwiesen. Wir finden sie in verschiedenen Persönlichkeitstests und -typologien wieder. Wenn immer man über Persönlichkeitstypen spricht oder schreibt, wird man garantiert von einigen zu hören bekommen, dass man hier doch einfach Menschen in Schubladen stecke. Das könne man doch nicht machen, Menschen seien doch vielmehr als das und ließen sich darauf nicht reduzieren.

Natürlich! Es wäre geradezu hirnverbrannt, das Gegenteil zu behaupten. Persönlichkeitstypologien behaupten auch nicht, dass Menschen nicht noch viel mehr Dimensionen haben, sondern beschreiben die individuellen Unterschiede in einzelnen psychologischen Merkmalen und in den relativ überdauernden Persönlichkeitseigenschaften von verschiedenen Menschen. Das Faszinierende am Verständnis der eigenen Persönlichkeit (und ihren mehr oder weniger milden Störungen) ist, dass man die Probleme, die man im Umgang mit der Umwelt entwickelt, voraussagen und eventuell managen oder ihnen entgegen steuern kann. Das und die Suche nach Erklärungen, warum das eigene Leben ist, wie es ist, sind die Gründe dafür, dass viele Menschen gerne über Persönlichkeitstypen lesen. Sie hoffen sich in der einen oder anderen Beschreibung wieder zu erkennen und damit sich selbst besser zu verstehen. Man könnte auch sagen: Horoskope für Gebildete.


31. Mai 2011

Wie wir Melancholiker ticken

Ich bin ein Melancholiker. Bei verschiedenen Persönlichkeitstests, die ich über die letzten Jahre gemacht habe, traten die mit dem Melancholiker verbundenen Aspekte immer deutlich hervor. Der Melancholiker/die Melancholikerin sind keine psychologisch aussagekräftigen Begriffe mehr. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts beschrieb der Begriff Melancholie unter anderem die Krankheit, die wir heute Depression nennen (siehe Melancholie und Depression als Begriffe). So wie wir Melancholie heute umgangssprachlich verwenden, meinen wir so etwas wie Traurigkeit, Trübsinn und Nachdenklichkeit. Diese Verwendung kommt aus der Temperamentenlehre der Hippokratiker, die die Menschen in vier Temperamente einordnete:
  1. Zäher Schleim (Phlegmatiker)
  2. Aufbrausende gelbe Galle (Choleriker)
  3. Spielerisches Blut (Sanguiniker)
  4. Schwarze Galle (Melancholiker)
Schubladen und Vorurteile
Auch wenn man sich davor hüten muss, Menschen in Schubladen zu stecken, können uns solche Typologisierungen zu verstehen helfen, wie verschieden wir alle ticken. Es handelt sich dabei weniger um psychologische Merkmale, als um ein Konstrukt, das Verhalten von Menschen zu interpretieren. Niemand ist nur ein Melancholiker oder nur ein Sanguiniker, wir haben immer alle Temperamente zu verschiedenen Anteilen in uns. Insbesondere muss man sich vor Kurzschlüssen hüten. Wir Melancholiker sind nicht ständig deprimiert, niedergeschlagen und pessimistisch. Ich glaube sogar, dass die Melancholie zu meinem ausbalancierten psychischen Haushalt gehört. Ohne sie würde mir etwas ganz essentielles fehlen. Wer als typischer Melancholiker klassifiziert wird, hat ganz spezielle Stärken und Schwierigkeiten. Beim Lesen der folgenden Beschreibungen, muss immer daran gedacht werden, dass solche Typologisierungen künstliche Interpretationen sind und die Gefahr bergen, Charaktere oder Temperamente zu überzeichnen und in ein Cliché zu verwandeln...

20. Februar 2011

Entscheidungsstrategien: Was ist mir wichtig?

Zufriedenheit oder Perfektion?

Fällt es Ihnen schwer, Entscheidungen zu treffen? Vielleicht hilft das hier weiter. Auf den Sozialwissenschaftler und Psychologen Herbert A. Simon geht Barry Schwartz' Begriffspaar maximizer und satisficer zurück. Diese Konzepte liegen verschiedenen Entscheidungstheorien zugrunde und stehen damit im Zusammenhang mit dem Lebensglück. Der bewusste Umgang mit unseren eigenen Entscheidungsstrategien kann zur besseren Entscheidungsfindung und damit zu mehr Zufriedenheit beitragen...

Hauptsache weg? Denkste! Erst mal ein Ticket buchen. Aber wie entscheiden?

Fluggesellschaften wie Ryanair oder Aerlingus, die ich oft benutzte, als ich noch in Irland arbeite, haben ein sozusagen nervenaufreibendes Marketingmodell: Jeden Tag gibt es neue Sonderangebote, Flüge kosten 99 Cent oder die Steuern fallen weg oder 50% Reduzierung auf alle Flüge und so weiter. Wie verhalten sich der "Maximierer" Max und der "Begnüger" Felix, wenn sie zu Ostern von Dublin nach Berlin fliegen wollen?

Max: Sobald er im Februar weiß, wann er im April fliegen will, geht er auf die Seite der Fluganbieter und sieht möglichst stündlich nach, wie viel der Flug kostet. Sollte keines der oben erwähnten totsicheren Angebote kommen, so wartet Max und verfolgt mit Spannung die leichten Schwankungen der Preise. Max verfolgt auch, wie viele Sitzplätze noch verfügbar sind. Tut sich nicht viel oder steigt der Preis gar an, während die Plätze knapp werden, kauft Max wahrscheinlich irgendwann im März sein Ticket. Er ist unzufrieden, weil es ursprünglich etwas billiger war und trotzig verfolgt er weiterhin die Preise, obwohl er sein Ticket schon hat. Wenn er "Glück" hat, steigen die Preise weiter. Dann stellt sich doch noch etwas Zufriedenheit ein, weil es hätte schlimmer kommen können. Zwei Tage vor Abflug erhält er jedoch eine Marketing-E-Mail: "Alles muss raus: Heute noch buchen und morgen für 99 Cent nach Berlin fliegen!" Max ist sauer.

Felix: Sobald er im Februar weiß, wann er im April fliegen will, geht er auf die Seite der Fluganbieter und sieht nach, was es kostet. Er hat die vage Vorstellung, dass er für möglichst unter 100 € nach Berlin und zurück möchte. Schließlich ist Ostern, da wird es sicher viel Nachfrage geben. Am ersten Tag kosten die Tickets noch zusammen 189 €. Felix macht sich einen Kalendereintrag "Flug buchen" für Anfang März. Als er im März wieder auf die Seite schaut, kosten die Flüge 99 €. Er sieht seine Bedingung erfüllt und greift zu. Damit hat sich das erledigt, die Sache ist aus dem Kopf. Nicht im Traum würde er auf die Idee kommen, später weiter die Preise zu verfolgen. Schließlich wurden die Bedingungen seiner Zufriedenheit erfüllt. Er kriegt nichts von der 99 Cent Marketingkampagne kurz vor Ostern mit.

Der entmutigte Maximierer

Ganz vereinfacht gesagt ist ein "Maximierer" jemand, der wie ein Perfektionist davon überzeugt sein möchte, dass seine Entscheidung die bestmögliche war. Um das sicher zu stellen, muss der "Maximierer" alle möglichen Entscheidungen und deren Schlussfolgerungen durchdenken. Das ist eine unmögliche, geradezu entmutigende Aufgabe, die sich dem "Maximierer" hier stellt. Bedenkt man die in unserer Zeit immer weiter zunehmende Menge an Möglichkeiten (Was soll ich arbeiten, studieren, kaufen? Wie soll ich leben, an was glauben, an wen mich binden?), so ist die Strategie des "Maximierers" nicht nur unökonomisch im Lebensalltag, sie stresst auch denjenigen, der in begrenzter Zeit eine praktische Entscheidung treffen muss. Die sich aus den zahllosen Möglichkeiten ableitenden Szenarien und Konsequenzen sind endlos und für den menschlichen Geist nicht kalkulierbar. Hinzu kommt, dass auch nachdem die Entscheidung getroffen wurde, sich herausstellen kann, dass es eine noch bessere Möglichkeit gegeben hätte.

Der befriedigte Begnüger

Der Begriff satisficer ist eine Montage aus satisfy (zufrieden stellen) und suffice (genügend). Menschen, die nach so einer Strategie entscheiden, begnügen sich also mit einer befriedigenden Entscheidung, die nicht unbedingt die beste aller möglichen ist. Der "Begnüger" hat bestimmte Kriterien und Ansprüche, denen seine Entscheidungen genügen müssen. Er wendet jedoch nicht die Zeit und (psychische) Energie auf, alle möglichen Entscheidungsszenarien auf etwaige Perfektion hin zu überprüfen. Zum einen ist ein solcher Entscheidungsvorgang ökonomischer, zum anderen fällt der Druck weg, das meiste aus einer Situation herausgeholt zu haben. Die Entscheidung fällt schneller und unter viel weniger Stress. Der "Begnüger" wird sich nach der Entscheidungssituation auch weniger darum kümmern, ob im Nachhinein nicht doch eine andere Entscheidung die bessere gewesen wäre. Er hat eine befriedigende Entscheidung getroffen und damit hat sich das.

Ökonomie der Entscheidung

Berücksichtigt man bei einem Vergleich der zwei Strategien nicht nur das Ergebnis, also die Güte der jeweiligen Entscheidung, sondern auch den Aufwand an Zeit und Energie, so kommt die Theorie zum Ergebnis, dass sie Strategie des satisficing die eigentliche maximizing Strategie ist. Mit anderen Worten: Selbst wenn man ein "Maximierer" ist, müsste man unter rationaler Herangehensweise die "Begnüger"-Strategie wählen, um zur besten aller möglichen Entscheidungen zu kommen.

Einschränkend kann man sagen: Überall dort, wo Zeit und Energie keine Rolle spielen, etwa weil wir Computer zur Verfügung haben oder dort, wo es sich strikt um spieltheoretische Modelle geht, sagen wir beim Schachspiel, kann es sich lohnen, eine maximizing Strategie zu verfolgen.



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23. Januar 2011

Melancholie und Depression als Begriffe

Gustave Doré: Dante Alighieri, Inferno
Zur Zeit lese ich William Styrons Buch Darkness Visible, ein autobiographischer bis wissenschaftlicher Aufsatz über Depression. Styrons Sprache ist so literarisch, wie es sich für einen Pulitzer Prize-Träger gehört. Als Poet kommt er nicht umhin, gegen den Begriff Depression zu protestieren:

"Depression, wie die meisten wissen werden, hieß zuerst 'Melancholie', ein Wort, dass im Englischen bereits im Jahr 1303 auftaucht und immer wieder auch bei Chaucer vorkommt, der sich in seinem Gebrauch offenbar den pathologischen Nuancen bewusst war. 'Melancholie' scheint immer noch ein viel zutreffenderes und ausdrucksstarkes Wort für die schwärzeren Formen der Krankheit zu sein, doch wurde es überwältigt von einem Substantiv mit fader Tonalität, ohne jede gebieterische Präsenz, ohne Unterschied gebraucht für eine ökonomische Krise oder geologische Unebenheiten, ein wahrer Kümmerling für eine so bedrohliche Krankheit." (Übersetzt nach William Styron, Darkness Visible, London 2004, S. 36)

Wir haben doch alle mal einen schlechten Tag
Styron meint, dass die Harmlosigkeit des Wortes Depression, an der John Hopkins Medical School vom Schweizer Adolf Meyer geprägt, mit daran Schuld sein könnte, dass die Krankheit lange Zeit so wenig Beachtung fand. Styron beklagt auch, dass das Wort "Brainstorm" bereits für schnöde Ideenentwicklung vergriffen ist, denn es passe hervorragend, auf das, was er erlebte, wenn seine Stimmungstiefs außer Kontrolle gerieten. Das Wort Depression scheine in den Menschen ein Schulterzucken hervorzurufen: "Na und, wir haben doch alle mal einen schlechten Tag."

William Styron
Wie Depression die Melancholie ablöste
Adolf Meyer fand 1905, dass Melancholie zu viele ungleiche Zustände beschreibe. Außerdem impliziere der Begriff die kausale Ursache von "schwarzer Galle" am Zustand der Melancholie. Für Meyer, den psychosoziale Zusammenhänge mehr interessierte, waren solche physischen Ursachen reine Spekulation. Die Psychiatrie folgte Meyer in seinem Vorschlag und der Begriff Depression ersetzte den der Melancholie mehr und mehr. Der unten abgebildete Graph zeigt ganz hervorragend, wie sich die Häufigkeit der Verwendung der zwei Begriffe im Englischen nach 1905 erst überschnitten und dann auseinander entwickelten: Depression (rot) wurde zum Wort des 20sten Jahrhunderts, während Melancholie (blau) beinahe nur noch im kunsthistorischen Sinne verwendet wird. Die große Amplitude, die nach 1920 einsetzt und erst nach 1940 wieder nachlässt, ist übrigens der Zeit der Großen Depression in den USA geschuldet (1929–1941). Womit Styrons Kritik an diesem Wort sehr anschaulich belegt wäre.

Wie der Begriff der Depression den der Melancholie über die Jahrhunderte ablöste

6. März 2010

Nachhaltigkeit - Halte ich das durch?

Wie im Leben allgemein - in der Natur, in der Wirtschaft, im Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Reserven - spielt die Kategorie der Nachhaltigkeit auch bei der psychischen Befindlichkeit von Menschen eine grundlegende Rolle. Im Begriff Nachhaltigkeit - und noch deutlicher im englischen Wort sustainability - steckt eine nicht von der Hand zu weisende Logik: Unser Leben ist auf Selbst- und Gattungs-Erhalt ausgerichtet und das gelingt uns nur, wenn wir es verstehen, so mit unseren Resourcen umzugehen, dass wir ausreichend lange Zeitspannen ohne extreme Nöte verleben können.*

Wenn Sie wiedereinmal eine Entscheidung treffen, sei es einen Kredit aufzunehmen, eine persönliche Beziehung einzugehen oder einen anstrengenden Job anzunehmen, dann fragen Sie sich: Kann ich das auf Dauer durchhalten? Wenn die Antwort "nein" ist, dann können Sie gleich ehrlich zu sich sein und es entweder bewusst als Übergangslösung in Kauf nehmen (anstrengender Job) oder gleich als nicht nachhaltig ablehnen (zu hoher Kredit).

In vielen Sitzungen mit Klienten fiel mir diese Grundkategorie immer wieder auf: Verhalten und Befinden waren nicht über eine ausreichend lange Zeitperiode (beispielsweise über die Dauer eines Arbeitslebens oder einer Ehe) aufrecht zu erhalten. Wenn wir uns das nicht bewusst machen, wird es zum Problem. Jemand, der sich auf Arbeit konsequent verbiegen muss, um ins System zu passen, kann das nicht bis zur Rente ohne Schäden durchhalten. Ein Ehepaar, dass immer wieder heftig streitet, kann dieses Leben und den damit verbundenen Energieaufwand nicht ewig aushalten, ohne unglücklich zu werden. Also fing ich an, meine Klienten zu fragen: "Wie lange, denken Sie, können Sie das durchhalten?"

Diese Frage führt in vielen Fällen zur "Erleuchtung" und dadurch oft zu Einsicht und einer Änderungsabsicht. Ob das der Angestellte ist, der endlich seinem Boss sagt: "Ich kann das zwar vorübergehend machen, aber wenn du jemanden suchst, der das dauerhaft macht, müssen wir uns mal unterhalten." Oder das Ehepaar, das sich endlich zusammen setzt und diskutiert, ob sie sich nun besser trennen sollten oder ob sie eine Art und Weise finden, wie sie dauerhaft und zur beiderseitigen Zufriedenheit zusammenleben können.

Diese Kategorie, so könnte man weiter argumentieren, liegt auch dem Problem der "seelischen Gesundheit" zugrunde. Depression kann beispielsweise in Kriegssituationen, wo um einen herum Gewalt und Hunger herrschen, als Selbstschutz kurzzeitig funktionieren und somit sinnvoll und gesund sein. So wie Krieg und Hunger aber keine nachhaltigen Lebenssituationen sind, wird auch die Depression zur bedrohlichen Krankheit, wenn sie langfristig besteht. Der Trick in der "seelischen Gesundheit" ist, reduziert ausgedrückt, dass sie ein auf Dauer gestelltes Leben ermöglicht, in dem wir ausreichend funktionieren, um uns und unsere Nächsten zur Zufriedenheit zu versorgen. Den Anti-Psychiatern, die meinten, es gäbe keine Verrückten oder psychisch Kranke, sondern nur unangepasste Menschen, kann man widersprechen oder nicht. Die Kategorie der Nachhaltigkeit löst dieses Problem aber auf: Wenn jemand auf verrückte Art kreativ und unangepasst ist, dann ist das ok, wenn er es versteht, mit sich und seinen Mitmenschen zusammenzuleben, ohne permanente Verzweiflung hervorzurufen.


* Die kosmische Ironie hier ist, dass wir uns in einem Weltall befinden, dass nicht nachhaltig ist, weil es eben eine Explosion ist. Nur die astronomischen Zeiteinheiten lassen uns kurzfristig eine Insel der Nachhaltigkeit auf einem Planeten mit Biosphäre einrichten. Mit anderen Worten: Nachhaltigkeit ist nur dort eine Grundkategorie, wo sich Lebewesen befinden.

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