22. Mai 2022

Von der Sorge und vom Denken

Warum ist das Denken so unbeliebt?

Denken hat heutzutage nicht unbedingt den besten Ruf. Lange habe ich mich am Kopf gekratzt, wenn ich mitbekam, dass Menschen um mich herum in Zweifel zogen, dass das "Philosophieren" ein guter Weg wäre, einen Zugang zur Welt und zur eigenen Position in dieser Welt herzustellen.

Zuviel denken macht krank! Solche Aussagen haben mich immer sehr irritiert. Oder: Meditieren, statt denken! Wir müssen im Hier und Jetzt sein. Oder: Nicht immer nur denken, auch mal machen! Das hat sich mir dann schon eher erschlossen, wenn ich auch immer umgekehrt dachte, dass zu viel machen ohne genügend nachgedacht zu haben, das eigentliche Problem sei. Besser verstanden habe ich das Problem bei typischen Fagen wie: Wie kann ich es abstellen, dass meine Gedanken immer so rasen?

Es geht bei all den oben so unbehaglich problematisierten kognitiven Vorgängen gerade nicht ums Denken. Wie soll denn denken, krank machen können? Und gerade beim Denken bin ich doch am ehesten im Hier und Jetzt! Und denken schließt doch das Handeln nicht aus, ist hier vielleicht "zögern" gemeint? Und "rasende Gedanken" ist eigentlich schon das Gegenteil von denken.

Was ist denken?

Denken ist die bewusste Relationseinsicht in geistige Sinnzusammenhänge: 

"Denken ist die auf Seiendes als solches und dessen Sinnbeziehungen gerichtete unanschauliche Erkenntnisweise. Sie vollzieht sich im menschlichen Geist in verschiedenen Akten des Erfassens (Relationseinsicht, Begriffsbildung, Schlußfolgern) und der Stellungnahme (Frage, Zweifel usw), um in der Urteilszustimmung zum endgültigen (oder doch endgültig gemeinten) Umfassen eines Sachverhaltes zu gelangen." (Walter Brugger: Philosophisches Wörterbuch, S. 59)

Einfacher gesagt ist denken zuerst einmal das geistige und strukturelle Nachvollziehen dessen, was ist oder was gesagt oder geschrieben ist. Darüber hinausgehend (aber schwer davon abzugrenzen) ist dann so etwas wie produktives Denken, also beispielsweise das Entwickeln von neuen Hypothesen.

Wichtig scheint mir dabei zu sein, dass es sogenannte "Denknotwendigkeiten" wie z.B. die Logik gibt, die beim Denken bewusst berücksichtigt werden. Beispiel: Wenn B aus A folgt und C folgt aus B, dann gilt auch, dass C aus A folgt. Freies Assoziieren, auf Meinungen beharren oder der Intuition folgen, sind zwar auch kognitive Akte, aber eben kein Denken.

Warum ist Denken nach der Definition oben die "unanschauliche Erkenntnisweise"? Ein Bus, der auf mich zurast, vermittelt mir durch meine Sinneseindrücke ganz anschaulich und sozusagen unvermittelt Erkenntnisse wie die, dass da was auf mich zukommt, dass Gefahr droht, dass ich mich in Sicherheit bringen muss oder dass ich andere warnen muss. Dazu ist kein Denken nötig. Unanschauliche Erkenntnisse präsentieren sich nicht so zwingend, sondern müssen durch das Denken "entwickelt", also unter Anwendung von Regeln auseinander genommen und wieder zusammengesetzt werden. Das ist aufwendig und energiezehrend – auch ein Grund, warum Denken nicht besonders populär ist.

Daniel Kahneman hat das mit seinen zwei Systemen gefasst: 

  • System 1: Schnell, automatisch, emotional, stereotypisierend, unbewusst
  • System 2: Langsam, anstrengend, logisch, berechnend, bewusst

Er nennt beides "denken" ("thinking"), was ich für äußerst unscharf halte ("entscheiden"/"decide" wäre besser), und beschreibt, wie das System 1 eben gerade ohne denken auskommt, indem es auf Automatismen zurückgreift und dadurch sehr schnell und aufwandsarm funktioniert. Das System 1 ist sozusagen der im Wachzustand immer aktivierte kognitive Standart unseres Geistes. Das System 2 hingegen ist langsam, anstrengend und bewusst und daher auch nur selten aktiviert. Es muss sozusagen vorsätzlich aktiviert werden, freiwillig tut sich der Geist diese Anstrengung nicht an. Das machen sich natürlich auch Leute z.B. in der Politik zunutze: Sie setzen auf Affekte, auf Vorurteile oder tief verwurzelte Sorgen und Ängste. Diese Leute wollen nicht, dass wir denken.

Daran anschließend noch ein Wort zu den Tieren, die ja – wie man überall lesen kann – auch mehr "denken", als wir es uns bisher vorgestellt hatten. Hier kann es sich eigentlich nicht um das System 2 handeln, denn dazu ist in der Tat Sprache notwendig. Um sich wie ein Eichhörnchen zu sorgen, um wie eine Krähe Probleme zu lösen bzw. Nüsse zu knacken, um Angst zu haben, Freude zu empfinden, Trauer, Sehnsucht und dergleichen, muss kein Tier im strikten Sinne denken. Das ist eben auch eine energetisch aufwendige und teure Operation, die in der Natur nicht ohne Weiteres vorkommt. Vielmehr ist das Denken unsere zweite Natur (Kultur) und es ist denkbar, dass es sich gar nicht um zwei getrennte Systeme handelt, sondern dass System 2 eine Weiterentwicklung von System 1 ist, die dann auftritt, wenn bestimmte Voraussetzungen wie Sprache und hochentwickeltes Reflexionsvermögen zu den üblichen automatisierten kognitiven Verarbeitungskapazitäten hinzukommen.

Die Sorge als Grundbestimmung und Stimmung des Menschen

Als Menschen – so in der Masse – kommen wir eigentlich ganz gut ohne das Denken (System 2) aus. Wir müssen nicht denken, wir können uns auf vermeintliche Gewissheiten verlassen, der Tradition folgen oder der Mode oder beidem zugleich, wir können urteilen, Meinungen von uns geben und andere Meinungen ablehnen; wir kommen so durch den Alltag, ohne groß denken zu müssen. Als Menschheit sind wir inzwischen aufs Denken angewiesen, aber nicht als Menschen.

Als Menschen sind wir stets vom Tode bedroht, unsere Zeit ist endlich und das heißt, wir müssen uns immer sorgen. Weil wir eben keine Götter sind und nicht einmal im Paradies leben dürfen, müssen wir ständig planen, antizipieren, situative Probleme lösen, uns darüber versichern, dass alles gut läuft oder dagegen versichern, dass etwas schlecht läuft. Wir müssen uns ständig entscheiden. So könnte man den Existenzialismus ganz banal auf das Lebensweltliche runterbrechen: Keiner hat uns gefragt, ob wir wollten und dennoch müssen wir jetzt mit dieser Welt umgehen, die wir vorfanden oder in die wir "hineingeworfen" wurden. Bis wir sterben, werden wir uns sorgen.

Für Martin Heidegger war die Sorge die Grundbestimmung und Grundstimmung des Menschen. Wir müssen uns also immer sorgen, wir müssen alles mögliche besorgen, andere und uns selbst versorgen, wir müssen vorsorgen, nachsorgen und als Resultat sind wir heute meistens überversorgt und dennoch ständig besorgt. Wir sind manchmal auch glücklich und zufrieden, ja – aber nur als Resultat der vorherrschenden sorgenvollen Grundstimmung.

Denken-über-etwas als Zwiegespräch mit sich selbst

Das aber ist allenfalls ein Denken-an-etwas, aber kein Denken. Hannah Arendt, erst Schülerin und Geliebte, dann geiwssermaßen politisch-philosophische Gegenspielerin Heideggers, beschrieb das Denken in ihrem Werk Vom Leben des Geistes: Das Denken, Das Wollen als ein inneres Gespräch des Zwei-in-einem, ein Gespräch innerhalb der Seele. Wir setzen uns also im Denken über etwas mit uns selbst auseinander. Das hat auch eine moralische Komponente, denn in der Auseinandersetzung mit uns selbst ringen wir auch um richtig und falsch. Und umgekehrt: Wer fortwährend falsch, das heißt unmoralisch, handelt, der riskiert einen Abbruch der Beziehungen mit sich selbst, um der Konfrontation des inneren Gesprächs auszuweichen. Für Ahrendt ist der Abbruch des Zwiegesprächs in sich selbst, also des Denkens, die Grundlegung des Bösen. Beispielhaft wurde das für sie in der Figur Eichmanns, dessen Prozess in Jerusalem sie begleitete. Hier war ein durchschnittlicher Mensch von normaler Intelligenz, der das Zwiegespräch über richtig und falsch in sich selbst abgebrochen hatte und sich so zu einem gut geölten Rädchen in der Holocaustmaschine der Nazis hat machen lassen. So musste er nur noch dafür sorgen, dass die Maschine lief, aber über die Maschine selbst nicht mehr nachdenken.

(Lesen Sie hierzu auch hier weiter: Maschinen, denken, Tod.)

Ordnung in den Geist bringen

Wenn ich davon höre, dass zuviel denken krank mache oder von Gedanken, die rasen, dann meine ich, dass die sich dort äußernden Menschen gar nicht das Denken meinen, sondern die Sorge (oder sogar zwanghafte Störungen). Jedenfalls ist es kein Über-etwas-Denken, sondern allenfalls ein An-etwas-Denken, das einen mitreißen kann. Dann wird auch verständlich, warum Menschen lieber meditieren, als "denken" (lies: sorgen). Das Meditieren ist eine Art den Geist zu leeren, aber wovon soll man ihn denn leeren? Von Sorgen, von Urteilen, von Fremdbestimmungen und Müll.

Das finde ich sehr legitim, das soll man machen, wenn es hilft, finde ich. Am besten ab und zu alle kognitiven Vorgänge stoppen, das säubert und bietet eine frische Bühne für Kommendes. Aber hier ist noch etwas, das gegen Sorgen, gegen Vorurteile, gegen Fremdbestimmung, gegen Müll hilft: das Denken! 

Weil man beim Denken Disziplin wahren muss, um sich eben nicht einfach assoziativ oder intuitiv in Sorgen und Ängste hinein und fortreißen zu lassen, sondern regelbasiert zu stringenten Einsichten kommen kann, kann das Denken Ordnung ins Chaos der Gehirnstürme bringen. Es kann uns eine Pause von unserer Grundstimmung der Sorge geben. Wir können durch sorgfältiges Denken erkennen, wo unsere Sorgen irrational oder überzogen sind und worauf wir uns konzentrieren können, um nicht so besorgt sein zu müssen. Ganz generell habe ich das Gefühl (!), dass wir durch gründliches Nachdenken eher zur Freiheit von Irrtum, Missverständnis und Sorge kommen. Denken ist kein No-Brainer, denken ist anstrengend, verlangt Disziplin und Sorgfalt und am Ende die Bereitschaft, sich selbst zu korrigieren. Alles nicht angenehm, aber lohnend.

Denken macht glücklich, wenn es gelingt!


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